Post aus Barcelona

Stadt der Motorräder und schlechten Gewohnheiten

Von Barbara Baumgartner
30.09.2005. Bisher wurde in Barcelona eine Politik der Toleranz kultiviert. Stoisch ertrugen die Bewohner gärende Müllhaufen, beschmierte Hauswände und enthemmte Nordeuropäer. Damit soll jetzt Schluss sein, gefordert ist mehr Bürgersinn.
Die Mutter eines peruanischen Freundes hat es schon seit jeher gerochen. Jedes Mal, wenn sie aus Lima zu Besuch kommt, rümpft sie die Nase: "In Barcelona stinken die Ecken nach Urin." Das scheint sie einerseits zu enttäuschen, ihr anderseits aber auch eine gewisse Genugtuung zu verschaffen: als habe sie an jemandem, zu dem sie seit je aufblicken musste, endlich einen Makel entdeckt. Das also ist das kultivierte Europa...

Ihr Sohn lacht nur. Doch in der Stadt wird das Problem nun seit ein paar Wochen - seit dem zum Himmel stinkenden Sommer - mit großem Ernst behandelt: Wer, wann, warum und wo im Freien pinkelt, und wie die Plage einzudämmen sei. Reporter begleiten die städtischen Säuberungsteams und beschreiben anschließend den Geruch "an einem heißen Donnerstag im September", die Verkrustungen an Kirchenwänden, das Ausmaß des Schadens - "hier müssen mehr als vier am Werk gewesen sein." In Radiosendungen erklärt der Bürgermeister den Leuten, er erwarte von ihnen, dass sie das Haus mit leerer Blase verlassen. Eine Zeitlang wurden an den Ausgängen der Nachtlokale bewusstseinsbildende Aufkleber verteilt, jetzt muss, wer erwischt wird, mit saftigen Strafen rechnen. Prostataleidende ausgenommen, präzisierte das Stadtoberhaupt vor ein paar Tagen: Die Polizei werde zu unterscheiden wissen. Vielleicht ist das doch das kultivierte Europa.

Aber warum überhaupt dieses massenhafte drängende Bedürfnis? Weil Teile der Altstadt sich in eine einzige große Bar verwandelt haben, was den weiteren Nachteil hat, dass die Bewohner kein Auge zutun können. Auch darum geht es in der jetzigen Debatte: und um Horden junger Nordeuropäer, die ihren enthemmten Junggesellenabschied in Barcelona feiern; um junge Radikale, die Straßenfeste zu Straßenschlachten machen, um Hausrat auf der Straße, beschmierte Wände - incivismo, mangelnder Bürgersinn, ist der Sammelbegriff, auch wenn die alarmistischeren unter den Kommentaroren, vor allem in der in Barcelona ansässigen La Vanguardia dieses Wort entrüstet von sich weisen ("Barcelona geht unter und wir reden von incivismo?") und lieber zu Beschreibungen wie "die tägliche Hölle" oder "Kollaps" oder "Themenpark der neuen Wilden" greifen. Und es geht um die Frage, ob man nicht zu lange zu tolerant war.

Eine tolerante Stadt ist Barcelona ohne Zweifel. Niemand regt sich auf, wenn ab dem späten Nachmittag bis zum nächsten Morgen viele Bankautomaten unzugänglich sind, weil sich im Vorraum ein heimatloses Paar gerade zum Schlafen hingelegt hat: man stört nicht und sucht einen Automaten direkt auf der Straße. Dass die Altglascontainer unter ihren Fenstern mit furchterregendem Getöse nachts um vier entleert werden, nehmen die Bürger als normale Unbill urbanen Lebens. Nachbarn ertragen stoisch das neurotische Gebell von Hunden, die zu viele Stunden allein auf dem Balkon verbringen. Dies ist eine enge Stadt "voller Motorräder und schlechter Gewohnheiten", wie der Journalist Arcadi Espada es ausdrückt; und dass die meisten Einwohner sich nicht beschweren, mag damit zusammenhängen, dass sie etwas davon selber besitzen.

Nun aber scheint eine Grenze überschritten. Der Bürgermeister Joan Clos, ein Sozialist, gibt "einen Mangel an Schutz für den normalen Bürger" zu - und begründet ihn mit der Geschichte: "Wir kommen aus einer Diktatur, und deshalb haben wir ein Misstrauen gegenüber Autorität entwickelt. Wenn die Polizei einschreitet, ist der erste Verdacht, dass sie etwas falsch gemacht hat."

Das erklärt in gewisser Weise, warum der Architekt Oriol Bohigas auf der eleganten Plaza Real "liebenswürdige und übertrieben respektvolle Polizisten" beobachtet, die "vor der Unverschämtheit dort kampierenden Jugendbanden kapitulieren". Bohigas, eine zentrale Figur der Barceloner Wiedergeburt in den neunziger Jahren - unter ihm als Chefurbanisten wurde die Stadt zu einem Modell für intelligente Sanierung (ein interessanter Aufsatz von Jordi Borja über: "Barcelona y su urbanismo") - , hat in El Pais einen Artikel veröffentlicht mit den Titel: Kloake des Elends. Darin beschreibt er die "Tragödie" dieses arkadengesäumten Platzes neben der Rambla, an dem er Wohnung und Studio bezog, als die Rehabilitierung der Altstadt gerade mit Enthusiasmus begonnen hatte - diese tägliche Anschauung unterscheidet ihn von jenen linken Intellektuellen, die das Leben in den engen Gassen romantisieren, ihr Domozil jedoch in den teuren Vierteln am Hang oben wählten. Bohigas schildert, was er in seiner nächsten Nachbarschaft sieht. Da sind die erwähnten Lager von Jugendbanden mit Hunden, Katzen und Gitarren, "die öffentlich alle häuslichen Akte, von der Defäkierung bis zum Erbrechen bis zum Koitus verrichten", außerdem etwa vierzig Obdachlose, die sich unter den Arkaden des Platzes eingerichtet haben. Lange nach Lokalschluss gehen die Trinkgelage im Freien weiter, beliefert von "einer Mafia" illegaler Alkoholverkäufer. Gärende Müllhaufen versperren enge Gassen.

Den Architekten bekümmern aber nicht nur die Zustände auf der Plaza Real. Gegenüber dem Macba, dem Museum für moderne Kunst, das man im Zuge jener mutigen und unkonventionellen Stadtplanung ins heruntergekommene Viertel Raval hineinbaute, bemerkte er ähnliche "Verelendung."
Am Ende fragt er, ob die Politik der Toleranz, die die Linke (die Barcelona seit dem Ende der Franco-Diktatur regiert und zu der er gehört) ehrlich proklamierte, ob diese Politik nicht gescheitert sei. "Müssen wir uns bei der Rechten Methoden ausleihen, die uns anekeln, die wir aber scheinbar nicht durch eine starke, demokratische Autorität ersetzen können?" Salamanca, Leon oder Valladolid - alle in konservativen Händen - hielten ihre historischen Zentren schließlich in Ordnung.

In den Augen Josep Ramonedas, Philosoph, Journalist und Direktor des Centro de Cultura Contemporanea de Barcelona , ist es eine ungebührende Vereinfachung, das Problem als eine Frage der Toleranz zu formulieren. Er weist darauf hin, dass die Altstadtviertel heute zu etwa 50 Prozent von Immigranten bewohnt sind - die sich oft zu Wuchermieten in völlig überbelegten Wohnungen drängen - und dass diese Entwicklung nicht vorauszusehen war, als man die Sanierung der Altstadt plante.
Auf der anderen Seite hat der Tourismus Ausmaße angenommen, die Ramoneda wie viele andere fragen lassen, ob die Stadt das noch verkrafte. Man ist inzwischen dank talentierter Selbstvermarktung bei etwa elf Millionen Übernachtungen im Jahr angelangt, zu denen 8,5 Millionen Tagestouristen kommen. Selbst der Bürgermeister sieht die Gefahr, dass Barcelona "am Erfolg zugrunde geht." Seine Regierung hat nun ein Paket von Normen verabschiedet, um schärfer gegen den incivismo vorzugehen.

Für einige aber ist die Stadtregierung selbst das Problem. Nicht in dem engen Sinn der Opposition, die argumentiert, die permissive Haltung der Verantwortlichen habe alle Sorten Gesindel und Unruhestifter wie ein Magnet angezogen. Es geht eher um das, was der Autor Antoni Piugvert "den gemeinsamen Nenner" der Stadt nennt: "das ideologische Substrat derer, die sie verwalten oder denken " - dieses sei den Zeiten nicht mehr angemessen. Seine Wurzeln hat es in den Jahren vor und nach der Olympiade. Es gab damals einen bemerkenswerten Konsens in Barcelona: Bürgerbewegungen, Politiker und Intellektuelle schienen sich in groben Zügen einig, wie und was diese Stadt sein wollte und konnte. Barcelona machte das Beste aus sich, und die Mischung aus Mediterraneität und Organisationstalent, modernstem Design und Modernismus, aus katalanischem Selbstbewusstsein und Multikulturalismus eroberte viele Herzen.

Mit dem Forum der Kulturen 2004 wollte man das Wunder wiederholen. Die ziemlich beliebige Mischung aus Ausstellungen, Konferenzen und Konzerten, die mit dem Satz beworben wurde "In Barcelona verändern wir die Welt" hat jedoch für Piugvert nur eines bewiesen: "den intellektuellen Bankrott der guten Absichten." 1992 sei ein optimistischer Moment gewesen. In komplizierteren Zeiten wie diesen bestehe Politik aber nicht darin, über Gut und Böse zu dozieren, sondern darin, Probleme zu lösen.

Arcadi Espada drückt es anders aus, doch auch er schlägt den Bogen zu Olympia und den euphorischen Jahren danach, als alles möglich schien; als die Stadt sich an Komplimenten aus dem Ausland berauschte. Jene Zeit, sagt Espada, habe die Biografien vieler einflussreicher Leute in der Stadtregierung und Verwaltung geprägt. Ihre Unfähigkeit beschreibt er als Teil eines Lobs: "Sie konnten nur Träume vermitteln." Und jetzt müssen sie sich mit der schmutzigen Realität befassen.