Post aus Borneo

Die Scham

Von Doris Klein
27.10.2003. Vierzig Jahre danach schrieb ein Journalist aus Indonesien einen öffentlichen Brief an eine Geliebte, die er hatte sitzen lassen. Er hatte ihr Treue geschworen. Aber er hatte auch Angst, dass ihr Vater Kommunist war.
Wer kennt sie nicht, die siedend heißen Erinnerungen, die einen ohne Vorwarnung, ohne Anlass oder bestenfalls auf Schleichwegen, auf die man in Gedanken an etwas ganz anderes, Vielversprechenderes geraten war, befallen, Erinnerungen an in der Vergangenheit mit Schmackes ausgetretene Fettnäpfe, persönliche kleine Schäbigkeiten, Peinlichkeiten, Feigheiten; Momente, in denen man schlicht versagt hat und die man nichts lieber als vergessen, wenn nicht ungeschehen machen, sozusagen für immer von der eigenen inwendigen Festplatte löschen möchte, Erinnerungen, für die man sich sein Leben lang, meist nur in Schüben, dann aber bodenlos schämt und die einem, auch viele Jahre später noch den Schweiß aus den Poren treiben? Da hilft es auch nicht, dass es keiner weiß. Das Gegenteil ist oft genug der Fall: ohne Eingeständnis, ohne Reue bleibt die Katharsis aus, von der Absolution ganz zu schweigen. Die ungeläuterte Leiche im Keller bleibt, bei den meisten Menschen jedenfalls, warm bis zum Sanktnimmerleinstag.

Einer, der seine persönliche Leiche nach beinahe vierzig Jahren nicht mehr riechen mochte, hat sich dieser Tag in einer indonesischen Tageszeitung zu Wort gemeldet. Mit einem Brief an eine Frau, deren Namen er nicht nennt und von der er hofft, sie möge seinen Brief nicht lesen. Zu groß sei die Scham über seine Feigheit vor so vielen Jahren, als er sie hat schmählich sitzen lassen. Ewige Treue hatten sie sich geschworen, damals in Sumatra, halbe Kinder noch. Ewig konnte, 1965, in der Zeit der echten und der fingierten Putsche und Machtübernahmen in Indonesien, schnell vorbei sein. Für Tausende Bauern, Intellektuelle, Beamte, Lehrer, Seeleute, Hausfrauen endete die Zeitrechnung im blutigen Herbst und Winter 1965/66.

Schon nach 1959 und der Ablösung des parlamentarischen Systems durch die gelenkte Demokratie vertrat der damalige Präsident und Republikgründer Sukarno, der Vater der heutigen Präsidentin, Megawati Sukarnoputri, eine widersprüchliche Politik. Mal hofierte er die nach der KP Chinas und der KPdSU weltweit drittgrößte kommunistische Partei, die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI). Dann wiederum grenzte er sich von ihr ab und setzte auf das Militär, um mit dessen Hilfe zentrifugale Strömungen in seinem Einheitsstaat zu unterbinden. Das gelang nur um den Preis wachsender Machtfülle des Militärs: Unter dem Vorwand, eine Machtübernahme der PKI zu vereiteln, putschten Anfang Oktober 1965 die Offiziere unter General Suharto. Sukarno wurde abgesetzt.

Der Kommandeur der Eliteeinheit Kostrad (1), General Suharto, war der neue starke Mann in Jakarta. In den darauffolgenden Monaten wurden unter Suhartos sogenannter Neuer Ordnung (Orde Baru) in Indonesien Hunderttausende Subversiver verhaftet und verschleppt, etwa eine Million Menschen wurden umgebracht. Die magischen Worte "Du bist PKI" kam einem Todesurteil gleich.

Diese Neue Ordnung Suhartos riss auch alles mit sich, was Kritik und Dissens wagte. Tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner verschwanden, kritischen Intellektuellen, oppositionellen Gewerkschaftlern, Journalisten und Schriftstellern verpasste das Regime Schreib-, Rede- und Versammlungsverbot.

Der Bekenner von heute gesteht, dass er seine Freundin vor 38 Jahren allein wegen der Gerüchte, ihr Vater sei PKI-Mitglied die Freundschaft aufgekündigt habe. Zu groß war die Angst abgeholt zu werden, zu gefährlich auch nur der Schatten eines Verdachtes. Ganze Familien verschwanden in dieser Zeit für immer vor den Augen der Familie. Nie hat er ihr die Gründe für seinen Sinneswandel gestanden. Seine Rechnung ist aufgegangen, er hat Karriere gemacht, bei jedem Interview und für jede Gehaltserhöhung die richtigen Antworten parat gehabt, die richtigen Schlagworte aufgesagt und für seine und die Sicherheit seiner Familie auf jede Bibel geschworen, die ein bequemes Leben versprach. Damals war er weder politisch noch bekannt. Letzteres erwies sich für viele als ungeeignet zum Überleben. Heute ist der Mann einer der renommiertesten Journalisten des Landes und gehört zum Stamm eben jener Tageszeitung, in der sein Bekenntnis erschien.

Zu bekannt zum Sterben, nicht aber für lebenslange Repressalien, war das wohl prominenteste Beispiel der Säuberung: Indonesiens bedeutendster zeitgenössischer Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer, der in eben jenem Oktober ? 65 wegen des subversiven Gehaltes seiner Bücher verhaftet wurde. Seine Haft wurde 1979 in Hausarrest umgewandelt, seine Bürgerrechte wurden ihm abgesprochen, seine Schriften verboten, seine Bibliothek beschlagnahmt, Texte konfisziert und zerstört. Noch bis vor wenigen Jahren musste er jede Woche bei der örtlichen Polizei vorstellig werden.

Fraglich, ob unser Bekenner, wäre er damals mutiger gewesen, überhaupt Journalist geworden wäre. Vielleicht hätten ihm Antrieb und Motiv dazu gefehlt, vielleicht betriebe er heute eine Fahrradwerkstatt in Aceh, vielleicht hätte er Suhartos Regime nicht überlebt. Vielleicht hatte er an seiner Feigheit so schwer zu tragen, dass alles zwangsläufig auf dieses Finale der Unerträglichkeit des Seins hinauslief.

Denn wie in den Höllendarstellungen des Mittelalters, wo man seine Schandtaten wieder und wieder erlebt, muss er sich jedes Mal anlässlich des sich am 30. September zum 38. Mal jährenden Antikommunismus-Tag gefühlt haben. Der Tag, an dem zur Erinnerung an die erfolgreiche Niederschlagung der (nie bewiesenen) Putschpläne der PKI die Lieder und Propagandafilme der Neuen Ordnung gespielt und die Flaggen auf Halbmast gezogen wurden und noch immer werden. Zum 38. Mal also wurde unser Bekenner nunmehr offiziell an seine Schäbigkeit von damals erinnert. Vielleicht kann er, jetzt, nachdem es heraus ist, endlich den Stift hinwerfen und die Fahrradwerkstatt in Aceh oder Surabaya eröffnen. Ob ihn nun Schuld oder Mut getrieben haben; eine ungewöhnliche Geste war es allemal. Und vielleicht liest SIE es ja doch.

Angesichts der aktuellen erbitterten Parlamentsdiskussion über die Aufhebung des Kommunismus-Verbotes, an dem schon Wahid vor zwei Jahren scheiterte und der kürzlichen ungesühnten illegalen Anti-Kommunismus-Razzien in den Buchläden Jakartas ist nicht damit zu rechnen, dass die neuen Machthaber Indonesiens in nächster Zukunft ebenfalls vom schlechten Gewissen übermannt werden.

Ananta Toers Bücher sind offiziell noch immer verboten, sein 1965 beschlagnahmtes Haus hat er bis heute ebenso wenig zurückerhalten wie seine Bürgerrechte. Keine der Regierungen nach Suharto hatte seither den Mut, ihn vollkommen zu rehabilitieren. Wie viel Jahrestage mag wohl eine Regierung brauchen pro Leiche im Keller?


(1) Komando Strategis TNI-Angkatan Darat - Strategisches Heereskommando