Post aus Madrid

Hafenviertel ohne Meer

Von Brigitte Kramer
30.04.2009. Eine Ausstellung in Madrid stellt die Bewohner des Immigrantenviertels Lavapies vor. 30.000 Menschen aus rund 100 Ländern wohnen dort. Der Stadtteil ist ein Labor für städtische Leben im 21. Jahrhundert.
"Ich wuchs bei meinen Großeltern in Ceuta auf, mein Großvater war dort Lehrer. Jetzt lebe ich in Lavapies, das mich an New York erinnert, wo ich studiert habe." (Ana)

"Als ich 1993 nach Madrid kam, lebte ich in einer Pension in der Calle San Pedro. Damals gab es fast niemanden aus dem Senegal."
(Ibrahim)

"Ich bin an der Plaza Lavapies geboren. Im Sommer war es so heiß und es gab so viele Wanzen, dass wir die Matratzen auf die Straße legten." (Carmen)

Bei Fremden im Familienalbum stöbern und ihren Erzählungen lauschen, das kann man in diesen Tagen in der Casa Arabe in Madrid. Das Staatliche Institut für arabische und islamische Studien zeigt in der repräsentativen Calle Alcala 220 Fotos und 6 Homevideos von Bewohnern des Altstadtviertels Lavapies, nur wenige Straßenzüge von der Prachtstraße entfernt.



Hunderte Familien haben Farb- und Schwarzweiß-Bilder von Hochzeiten, Grillpartys, Erstkommunion oder Geburtstagen hervorgekramt und sie Juan Valbuena, dem Kurator der Ausstellung "Nosotros" (Wir), anvertraut. Zu sehen ist noch bis 3. Mai eine Schau, die der Realität des Viertels eine neue Dimension verleiht. In Lavapies leben nicht nur 30.000 Menschen aus rund 100 Ländern auf engstem Raum zusammen. Was in diesem Hafenviertel ohne Meer in den vergangenen fünfzehn Jahren gestrandet ist, das sind Menschen mit extrem unterschiedlichem kulturellem Hintergrund - den man im zwar bunten, aber doch westlich vereinheitlichten Straßenbild nur erahnen kann: Auf den Fotos sieht man die Frau vom Dönergrill in bengalischer Hochzeitstracht, den Betreiber des Telefonladens als spindeldürren Fußballnachwuchs im Senegal, die Rentnerin von nebenan, am Arm ihres Verlobten, damals in den 60er Jahren, als Lavapies noch als barrio castizo, als typisches Madrider Viertel galt, mit Schmalzgebäck, Chotis-Tanz zur Drehorgel und stadtweit bekannten Patronatsfesten.

Lavapies ist heute nicht nur das Viertel der Chinaläden und Indienrestaurants, der selbstverwalteten Stadtparks und besetzten Häuser; es hat nicht nur die besten Straßencafes und Bars der Stadt; dort lebt nicht nur eine der kreativsten Alternativszenen Europas. Lavapies bietet Heimat und Zuflucht, vereint Menschen aus fünf Kontinenten. Sie lieben, verteidigen, verschönern und beleben die Straßenzüge rund um den gleichnamigen Platz. "Ein Dorf inmitten der Hauptstadt", "Ein Wellenbrecher neuer Trends", "Weder überdreht noch künstlich, einfach ein Viertel des 21. Jahrhunderts", "Stimulierend, offen, es spendet Energie", so beschrieben einige der Bewohner ihr Viertel. Das Sonntagsmagazin El Pais Semanal hat Lavapies jüngst eine mehrseitige Reportage gewidmet und dabei versucht, die Vorurteile vieler Spanier abzubauen.

Drogen, Kriminalität, Immigranten sind drei Worte, die viele Madrilenen mit Lavapies gleichsetzen und freiwillig keinen Fuß dorthin setzen. Wer dort lebt, übt ganz andere Kritik: Straßenreinigung und Müllabfuhr vergessen Lavapies regelmäßig, es fehlen Parks, Kindergärten und Krippen, das staatliche Gesundheitszentrum ist überfüllt und wer in der Calle Argumosa nachts schlafen will, der muss Fenster verriegeln und Ohren zustöpseln. Angesichts städtischer Nachlässigkeit haben Nachbarschaftsvereine selbst die Initiative ergriffen. Auf ihrer Homepage kann man sich über einen Gemüsegarten informieren, den Anwohner in der Calle Doctor Fourquet auf einem Brachland gepflanzt haben oder Neues aus der Kasa Karakola erfahren, einem von Frauen seit 1996 besetzten Haus, in dem regelmäßig Workshops und Diskussionsrunden angeboten werden.

"Hippies und Einwanderer haben unser Viertel erobert, von dem, was Lavapies einst ausgemacht hat, spürt man nichts mehr." Das hört man, wenn man sich in der Markthalle an der Calle Embajadores umhört. Dass Lavapies einst homogen-spanisch-christlich war, das mag für die Jahre der Franco-Diktatur gelten. Geht man aber weiter zurück, erfährt man zum Beispiel, woher das Viertel seinen Namen hat. Im 14. und 15. Jahrhundert mussten sich christliche Besucher des einst jüdischen und muslimischen Stadtteils die Füße reinigen (lavar los pies), bevor sie ihn betreten durften. Das hat die Soziologin Mayte Gomez an der Universität Nottingham erforscht.



Sie weiß auch, dass es den typischen Madrilenen nie gegeben hat. Wer heute als chulapo bezeichnet wird, der ist ein Nachfahre der Tagelöhner und ungelernten Arbeiter, die im 19. und 20. Jahrhundert aus armen Regionen Spaniens zugezogen sind. Im Herzen der Hauptstadt teilten sie sich Wohnungen, schlugen sich mit Witz durch, ließen sich dabei ihren Stolz nicht nehmen und prägten diesen geselligen, schlagfertigen Prototypen des Hauptstädters.

Bis in die 60er Jahren nahm Lavapies spanische Familien auf. Viele stammten aus der weiten kastilischen Hochebene, aus abgelegenen Dörfern mit unasphaltierten Straßen, aus Häusern mit Lehmboden und offener Feuerstelle. Auch das kann man beim Besuch der Ausstellung "Nosotros" lernen.