Post aus New York

Rat und Rache in Zeiten des Internet

Von Ute Thon
09.09.2000. Die Amerikaner lassen sich per Internet über gutes Benehmen beraten und tauschen auch per Internet ihren Klatsch aus.
Amerika ist nicht das Land, wo gutes Benehmen erfunden wurde. Raue Manieren gehören ebenso wie der Wilde Westen zum quintessentiellen US-Image. Darunter leiden die Amerikaner manchmal, zum Beispiel wenn sie sich in einen französischen Restaurant durch die Präsens eines Fischmessers plötzlich zutiefst verunsichert fühlen. Meistens aber siegt ihr sprichwörtlicher Pragmatismus. Sie greifen ins Bücherregal, oder neuerdings loggen sich ins Internet ein, wenn sie Benimmprobleme haben. Emily Posts "Etiquette" von 1922, ein Standardwerk in Sachen Anstand und Amerikas Antwort auf den deutschen Knigge, erfreut sich auch in der 16. Auflage immer noch größter Beliebtheit. Das Emily Post Institute, laut New York Times Amerikas verlässlichstes "Zivilisiertheitsbarometer", geht mit der Zeit. In der neusten Ausgabe geben die amerikanischen Anstandswächter neben Hinweisen zur korrekten Essweise von Hummer oder Artischocken (man darf die Finger benutzen) auch Tipps zur "Netiquette", sprich gute Manieren im Internetzeitalter. Post-Urenkelin Peggy gibt da unter anderem saloppe Ratschläge wie diesen: "Wenn du eine e-mail mit pornographischem Inhalt versenden willst, vergewissere dich vorher, dass der Adressat solche Meldungen auch wirklich haben will."

Auch andere Beratungseinrichtungen bedienen inzwischen die geheimen Phantasien der Amerikaner. Was tut man beispielsweise, wenn der Arbeitskollege schlechten Atem hat? Oder die Schwiegermutter zu kurze Röcke trägt und dem Schwiegersohn nachstellt? Bei Auntmilly.com gibt es in solchen Fällen nicht nur Rat, sondern auch tatkräftige Hilfe, besonders wenn einem etwas an dem Freund oder der Kollegin stinkt und man sich das selbst nicht auszusprechen traut. "Tante Milly" übernimmt gegen entsprechendes Entgelt die unangenehme Botenrolle. Der smarte Onlineservice mit dem liebenswerten Namen versendet enfühlsame, altmodische Briefe (keine e-mails) an die betreffende Person. Die Kunden können entweder Standardbeschwerden aus einem Katalog häufiger Fälle wählen (Flatulenz, Körpergeruch und Geschwätzigkeit stehen ganz oben) oder einen maßgeschneiderten Brief für ein seltenes Problem in Auftag geben. Die Briefe starten mit einer versöhnlichen Einleitung ("Ein guter Freund, dem Sie sehr am Herzen liegen, möchte sie auf folgendes Problem aufmerksam machen...") und enden mit praktischen Tipps, zum Beispiel Petersilie kauen gegen Mundgeruch. Der virtuelle Benimm- und Beschwerdeservice entzückt konfliktscheue Nörgler und treibt die überraschten Adressaten zum Wahnsinn. Denn der Absender bleibt anonym, die Angesprochenen können sich aber nur bei Aunt Milly zurückmelden. Der Service ist inzwischen so erfolgreich, dass die Onlinefirma mit Sitz in Florida inzwischen über 20 feste Mitarbeiter beschäftigt.

Auch der gute alte Bürotratsch wird inzwischen immer öfter ins Internet verlegt. New Yorks Investmentbanker treffen sich statt am Wasserspender heute auf der Vault.com- oder der Greedyassociates.com-Seite, um Gerüchte über Kollegen loszuwerden. "Zur E-Mail und E-Kommerz kommt jetzt der E-Office-Klatsch", vermeldet das Time-Magazin. Zum großen Unmut der Konzerne. Denn plötzlich kursieren Gerüchte nicht mehr nur unter einer Handvoll von Mitarbeitern, sondern sind in der ganzen Welt nachlesbar. Bei Vault.com wurde kürzlich eine große Investmentfirma mit einem Callgirlring in Verbindung gebracht. Die anonymen Postings erheben zwar keinen Anspruch auf Wahrheit. Doch Time prophezeit bereits, dass sich Amerikas Gerichte in Zukunft öfter mit "Cyberschmiere", also Verleumdung via Internet beschäftigen müssen.Neben Rat- und Tratschseiten existieren inzwischen auch Hardcore-Racheseiten im Internet, wo verärgerte Angestellte, gedemütigte Liebhaber oder notorische Dauernörgler ihren Feinden richtig eins auswischen können. Eine der populärsten Seiten ist derzeit PinStruck.com. Dort versenden die Webmaster auf Anfrage virtuelle Voodoopuppen - daher die Nadelstiche im Domänname -, die der gekränkte Auftraggeber mit Nachrichten wie "It's not over yet" versehen kann. Hinter den virtuellen Voodoopriestern verbirgt sich eine kreative Internet-Grafikfirma, die die Seite eigentlich als Gag startete, um ihr unkonventionelles Gestaltungstalent zur Schau zu stellen.Inzwischen versenden sie 2000 bis 3000 Hexereien pro Tag. Andere Seiten wie motherinlawstories.com ermuntern ihre Leser, verbalen Dampf über ihre bösen Schwiegermütter abzulassen oder unvorteilhafte Bilder ihrer Hasspersonen zu posten. "Rache gehört zwar nicht zu den nobelsten Tugenden, doch wenn man sich hinter dem Internet verstecken kann, wird es einfacher, sich in dieser Hinsicht abzureagieren", sagt Joyce Cohen in der New York Times. Einer der dreistesten Online-Rachagenturen, Dogdoo.com, mit dem sinnigen Werbeslogen "die organische Weise, alles Gute zu wünschen" versendet auf Anfrage Hundekot an die Adresse ungeliebter Personen. Nachfrage ist offenbar nicht das Problem. Die Exkrementlieferanten bedienten laut eigenen Angaben bereits 770.551 Bestellungen.