Vorgeblättert

Leseprobe zu Sigitas Parulskis: Drei Sekunden Himmel. Teil 1

12.02.2009.
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Nach meiner Ankunft in dem Kurort im Westen des Landes machte ich mich gleich daran, ans Meer zu gehen und mir die Nägel zu schneiden.

Ich ging ans Meer, schnitt mir die Nägel und verlor die Schere. Ich badete, sprang am Strand herum, schrie dabei allerlei Unsinn und rieb mich mit dem Handtuch ab, bis meine Haut angenehm kribbelte. Dann saß ich da und schaute mit debilem Blick aufs Meer.

Was andere Leute sehen, wenn sie aufs Meer schauen, weiß ich nicht. Ich sehe gar nichts. Es ist gut, wenn sich irgendwo am Horizont ein Schiff bewegt. Dann sehe ich das Schiff, aber mehr auch nicht. Wenn da kein Schiff ist, sehe ich nur Wasser, jede Menge sinnlos schaukelndes, kaltes Salzwasser.

Die Ärzte sagen, das sei ein Generationsproblem. Manche Generationen sehen, wenn sie aufs Meer schauen, Gott, andere hören symphonische Musik oder Fugen von Bach, wieder andere erblicken eine Frau, Aphrodite, die Unendlichkeit, das Nirwana oder irgendwelchen anderen lyrischen Müll. Die Generation, die etwa in den
sechziger Jahren in diese Welt gestoßen wurde, obwohl die Zeit hier keine besondere Rolle spielt, sieht überhaupt nichts. Zu dieser Generation gehöre ich. Zu einer Generation, die keinerlei besondere Merkmale hat, einer Generation fast ohne Eigenschaften. Einer Generation, die zu spät gekommen ist für die Hippies, der die Beatles zu süßlich sind, die viel zu erwachsen war, um die Ideen des Punk zu übernehmen, für die die Sex Pistols nur nervtötender Krach sind. Ein beachtlicher Teil dieser Generation ist verspießert und hat sich dem Lebensmodell von ABBA verschrieben, doch das ist kein Generationsmerkmal mehr, sondern ganz einfach Statistik, an der die Motorsägen von AC/DC und das Blut von John Lennon nichts ändern können. Mich interessiert diese Generation, die fast keine eigene Musik hat, keine eigenen Idole, keinen Begriff von Heimat, Geschichte, Liebe, Geld, Familie und Verantwortung.

Es ist eine Generation, die den Drogen einen gewissen Tribut gezollt und auch Blut in Afghanistan gelassen hat. Doch das sind eher Ausnahmen als die Regel. Die einzige Philosophie dieser Generation ist das Nichtvorhandensein einer Philosophie oder die Vermeidung, sich einer Philosophie zu verschreiben. Dieses theoretische Vakuum füllt auf praktischer Ebene der Alkohol. Aber meine Generation hat nicht gelernt zu trinken, sie hat nicht gelernt zu ficken, zu essen oder zu sparen, das heißt, sie hat nicht gelernt, Annehmlichkeiten zu genießen. Selbst die Reichen, die stabile Familien und florierende Unternehmen gegründet haben, sehen beim Blick aufs Meer nichts als Wasser. Sie können sich einfach nicht freuen. Und das ist das grundlegende, entscheidende Merkmal dieser Generation.

Verallgemeinerungen sind abstoßend. Doch es gibt nun einmal auf der Welt viel mehr Abstoßendes als Angenehmes. Ehrlich gesagt, es ist mir völlig egal, was meine Generation ist. Kann sein, es gibt sie überhaupt nicht, und kein verdammtes Meer kann Katalysator für
ihre Darstellung sein. Aber ich gehöre zu dieser verfluchten
Generation, und niemand kann mir einreden, ich sei absolut einzigartig, originell und unnachahmlich. Ich gehöre zur russifiziertesten, verdummtesten, mit Atheismus am meisten vollgestopften, naivsten Generation, die außerdem an gar nichts glaubt. Alle Generationen weiden sich daran, verloren zu sein. Meine Generation ist nicht verloren. Meine Altersgenossen könnten sich auch nicht als Beatniks bezeichnen und noch nicht einmal als Rebellen im elementarsten Sinne. Es ist einfach eine von feigen, angepassten Eltern erzogene Generation unreifer und unerfüllter Versager. Sie hat mit Anfang zwanzig die politische und soziale Wende, das heißt einen plötzlichen Bruch erlebt, und ist trotzdem dieselbe geblieben: unsicher, gleichgültig, faul und ohne jeden Enthusiasmus.

Nicht mit einem buddhistischen Lächeln, sondern mit idiotischer Leere in den Augen starrt sie aufs Meer und sieht nichts, nur Gischt. Man könnte sich an einen tröstlichen Strohhalm klammern und meinen, es sei ja nicht so wichtig, was man im Meer nicht erblickt. Viel wichtiger sei, was sich dabei im Kopf sonst noch tut. Doch im Kopf ist dasselbe wie im Meer, nämlich nichts. Und wenn manchmal am Horizont der Schatten eines Gedankens auftaucht, dann ist er so weit weg, dass nicht einmal zu erkennen ist, ob er sich bewegt. An alldem sei ein demographischer Knick schuld, sagen die Ärzte. Da meine Generation keine Eigenschaften hat, passt uns selbst diese betrübliche Rechtfertigung nicht, die darauf hinausläuft: Immer ist jemand anders schuld, nur ich nicht. Wir machen niemals irgendjemandem Vorwürfe. Meursault hat den Araber der grellen Sonne wegen getötet. Aus diesem Grund ist er ein Angehöriger der ehrwürdigen Generation der Existentialisten. Meiner Generation gefällt die Dämmerung. In der Dämmerung verschwimmen die Grenzen jedweder Existenz. Uns ist es völlig egal, ob unsere Enkel Russisch, Englisch, Jiddisch oder Arabisch sprechen werden.

Die Generation, die in Wohnheimen und kommunalen Wohnungen herangewachsen ist und als Teenager nachts gehört hat, wie ihre Väter ihre Mütter bumsten, versteht den Ödipuskomplex als ein Gefühl der Enge, das unausweichlich ist auf dieser Welt.

Wegen jenes demographischen Knicks, oder anders ausgedrückt, weil das Kanonenfutter knapp wurde, musste meine Generation den Dienst in der Sowjetarmee direkt von der Hochschulbank aus antreten. Nach dem ersten Studienjahr wurden nach und nach alle eingezogen: die Plattfüßer, die mit gekrümmter Wirbelsäule, Halbblinde, Bettnässer, jeder, der den Verstand noch nicht ganz verloren hatte und nicht vollständig gelähmt war.

Was für fast jeden Russen eine ehrenvolle "Schule der
Männlichkeit" war, wurde für meine Generation zu einem weiteren Beleg dafür, dass ein Individuum nichts zählt auf dieser Welt, dass Macht und Gewalt alles bestimmen und dass dir jeder Kretin dank irgendeiner beschissenen Hierarchie auf den Kopf scheißen kann.

Der schwerste Fehler meines Lebens ist die Zeit. Als ich von der Armee zurückkam, erkundigte ich mich nach der Uhrzeit. Ich sprach Russisch, weil ich billige Effekte mag. "Sagen Sie bitte, wie spät ist es jetzt?", fragte ich im Großen Hof der Universität. Ich trug die
Paradeuniform eines Fallschirmjägers, war behängt mit Achselschnüren und blitzendem Geschmeide und hatte das blaue Barett ins Genick geschoben. Ich wurde einfach nicht mehr wiedererkannt. Dabei hatte ich meinen Kommilitonen gefragt, einen Studenten, der ein paar Jahre älter war als ich. Er teilte mir zwar die Uhrzeit mit, doch ich verstand ganz klar, ich fühlte geradezu körperlich, dass seine und meine Uhr unterschiedliche Zeiten anzeigten. Genauer: Mein Bewusstsein maß eine andere Zeit.

Eine Lücke hatte sich aufgetan. Im Kalender würde während er mit der ihm verbliebenen, gesunden diese Lücke zwei Jahre ausmachen. Aber das ist keine kalendarische Lücke. Sie ist fast unsichtbar, sie ist völlig
unsichtbar, und doch gibt es sie, weil ich sie spüre. Alle spüren sie, denen es beschieden war, in der Armee zu dienen oder im Gefängnis zu sitzen. Oder im Exil zu leben. In Einsamkeit. Alles ist scheinbar dasselbe, doch verschoben. Wie eine verzogene Kimme. Du zielst geradeaus, aber die Kugel driftet ein wenig ab. Eine Kimme kann man regulieren. Ein Gehirn, das die Zeit erfasst, und in dem sich eine Lücke aufgetan hat, jedoch nicht.

Teil 2