Efeu - Die Kulturrundschau

Diese radikale optische Zerlegung

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29.10.2021. Die FAZ lernt in einer Ausstellung Bruce Naumans nicht nur etwas über das Gehen, sondern auch über menschliche Identität. Die nachtkritik ist hin und weg, wie Christiane Jatahy in Zürich Shakespeares "Macbeth" ins heutige Brasilien verlegt und dabei toxischer Männlichkeit auf die Spur kommt. In der Zeit erklärt Adam Soboczynski, warum die Zeit einfach noch nicht reif ist für Romane über den Klimawandel. In der SZ porträtiert Can Dündar den im deutschen Exil lebenden türkischen Filmemacher Mustafa Altıoklar. Die NZZ fragt, warum Christian Thielemann gerade überall abserviert wird.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.10.2021 finden Sie hier

Kunst

Bruce Nauman, Contrapposto Studies, Ausstellungsansicht, Punta della Dogana, Venedig


Bücher über das Gehen findet man häufiger, Kunst eher selten. Immerhin: Bruce Nauman hat sich mit dem Gehen beschäftigt, wie man gerade in einer Ausstellung in Venedig - der Stadt der Fußgänger, die hier weder von Autos noch von Fahrrädern belästigt werden - sehen kann. "Das Thema interessiert Nauman seit den Sechzigerjahren", erzählt in der FAZ Karlheinz Lüdeking, die auf Video aufgezeichneten Contrapposto-Studies Naumans beobachtend. In den jüngeren Arbeiten sieht man Nauman mehrfach nebeneinander, übereinander oder seitenverkehrt: "Trotz dieser radikalen optischen Zerlegung entstehen letzten Endes aber wieder Gestalten von verblüffender Kohärenz. Das Ganze ist offensichtlich mehr als die Summe aller Teile. Zugleich wird auch klar, dass sich die Integrität der Person nur als eine Fiktion der Einbildungskraft ergibt. Insofern bleibt Nauman seiner - an Beckett und Wittgenstein geschulten - Auffassung treu, wonach die menschliche Identität nicht aus einem autonomen inneren Kern erwächst. Sie formt sich aus den Restriktionen der Umgebung. Naumans Beschäftigung mit dem Gehen resultiert, wie seine Kunst ganz generell, in der Bemühung, unter dem stummen Zwang widriger Umstände eine menschliche Haltung und einen aufrechten Gang zu bewahren."

Paul Flora, Im Regen. Um 1946. © Nachlassvertretung für Paul Flora, Salzburg sowie Diogenes Verlag, Zürich
Weiteres: Saskia Trebing unterhält sich für monopol mit der norwegischen Künstlerin Sandra Mujinga, die in diesem Jahr mit dem Preis der Nationalgalerie ausgezeichnet wurde. Besprochen werden Zeichnungen von Paul Flora in der Albertina in Wien (Standard), Ausstellungen von Ana Hoffner ex-Prvulovic* und Belinda Kazeem-Kamiński in der Kunsthalle Wien (Standard), Zeichnungen von Marc Brandenburg im Frankfurter Städel (FR), die Abschlussausstellung der Berliner Universität der Künste "It's only the end" im Kühlhaus Berlin (monopol) und Anicka Yis "In Love With the World" in der Tate Modern (SZ).
Archiv: Kunst

Film

Für die SZ porträtiert Can Dündar den in Deutschland lebenden und im hiesigen Förderdschungel auf Arbeit hoffenden türkischen Filmemacher Mustafa Altıoklar, der die Türkei vor ein paar Jahren fluchtartig verlassen musste, als ihm dort der Prozess gemacht wurde, weil er es gewagt hatte, Erdogan eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zu attestieren. Mit Anfeindungen kennt er sich aus: "Der Historienfilm İstanbul 'Kanatlarımın Altında' ('Istanbul unter meinen Flügeln') von 1996 löste eine politische Debatte aus und wurde in einigen Städten wegen 'Beleidigung der Osmanen' verboten. Hätte er es in der Hand, konstatierte der damalige Kulturminister, ließe er den Film überall verbieten. 'Beyza'nın Kadınları' ('Shattered Soul/Beyzas Frauen') von 2006 kam auf den Vorwurf hin, Islamisten negativ darzustellen, auf die schwarze Liste. ... Heute bereut Altıoklar nicht, die Türkei verlassen und sich für Deutschland entschieden zu haben. Vier, fünf neue Verfahren, vor allem wegen Posts in sozialen Medien, und Haftbefehle, die nach seiner Ausreise ergingen, belegen, dass er, wäre er in der Türkei geblieben, nicht frei wäre."

An Tod der Kamerafrau Halyna Hutchins, die von einem Schuss aus einer vermeintlich kalten Waffe tödlich getroffen wurde, hat Alec Baldwin, der den Abzug drückte, durchaus - wenn auch nur mittelbar - Mitschuld, meint Claudius Seidl in der FAZ: "Er hat den Film mitproduziert, und offensichtlich hat er sich dabei mit den falschen Leuten eingelassen" - denn seine Co-Produzenten sind nach Branchenberichten wohl eher als halbseidene Hallodris denn als Profis anzusehen.

Außerdem: Urs Bühler porträtiert in der NZZ die Filmemacherin Alice Schmid, die sich in ihrem Filmessay "Burning Memories" mit ihrer Vergewaltigung auseinandersetzt. Miguel Gomes und Maureen Fazendeiro sprechen im Standard über ihren auf der Viennale gezeigten Lockdown-Film "The Tsugua Diaries". Hanns-Georg Rodek berichtet in der Welt von den Streitigkeiten in der österreichischen Filmbranche, wo Kontroversen um Parität in den Posten und Diversität in den Filmförderungen zu einer Austrittswelle im "Verband Filmregie" geführt haben. In der NZZ gratuliert Marisa Buovolo der Hollywood-Kostümausstatterin Ann Roth zum 90. Geburtstag. Im FAZ-Gespräch mit Michael Hanfeld hält der Produzent Nico Hofmann die Erinnerung an Hollywoodpionier Carl Laemmle hoch, da er einen nach diesem benannten Preis erhält.

Besprochen werden Monika Treuts Porträtfilm "Genderation" (Perlentaucher), Yann Gozlans "Black Box" (Perlentaucher), Benoît Delépines und Gustave Kerverns Groteske "Online für Anfänger" (FAZ), York-Fabian Raabes Geflüchtetendrama "Borga" mit Eugene Boateng (Tagesspiegel), Sönke Wortmanns "Contra" (ZeitOnline, Welt), Axel Brüggemanns Dokumentarfilm "Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt" (FAZ), Andreas Schmieds Skifahrerfilm "Klammer" (Standard, Presse), Scott Coopers Horrorfilm "Antlers" (Tagesspiegel), und Matthias Schweighöfers auf Netflix gezeigter Gaunerfilm "Army of Thieves", der ein Prequel zu Zack Snyders Zombiesause "Army of the Dead" darstellt (ZeitOnline, SZ).
Archiv: Film

Architektur

Plattenbau in Schwedt. Foto © Martin Maleschka


Kevin Hanschke hat sich für die FAZ die Schau "Ohne Ende Anfang. Zur Transformation der sozialistischen Stadt" im Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt angesehen, die in den Fotos von Martin Maleschka zeigt, wie sich die Wende auf die sozialistischen Planstädte Schwedt, Eisenhüttenstadt und Nowa Huta - ein Stadtteil von Krakau - ausgewirkt hat: "Sie verfügen über großzügige, grüne Stadtanlagen und bezahlbare Wohnungen. Sie stellen auch die notwendige soziale und kulturelle Infrastruktur zur Verfügung. Auf die heute allseits geforderte Nähe von Wohnen und Arbeiten hin konzipiert, ist ihnen leider die Arbeit in großen Teilen ausgegangen", seufzt Hanschke.
Archiv: Architektur

Literatur

Mit seinem Katalog an Ausschlusskriterien, warum selbst Romane, die sich mit dem Klimawandel befassen, dennoch den Befund zulassen, dass der Klimawandel in der Literatur keinen Niederschlag erfahre, machte es sich Bernd Ulrich vergangene Woche in der Zeit (hier und dort unsere Resümees) sehr einfach, entgegnet Adam Soboczynski in der Zeit: Im Grunde fordere Ulrich eine Avantgarde, um die herum es allerdings immer einsam ist. Dabei könne von einer Verdrängung des Klimawandels ja keine Rede sein: Es gebe doch "eine kollektive Einsicht ins Notwendige, nur führt diese bei den meisten gerade nicht zur bebenden, zur existenziellen Verzweiflung im Alltag, die von der Literatur gespiegelt werden könnte. Das politische Bewusstsein einer verdammt großen Herausforderung muss gerade nicht mit einer großen seelischen Herausforderung einhergehen (ich vermute, dass diese politisch sogar schädlich wäre). Etwas zynisch könnte man zur Gelassenheit raten: Sollte sich häufiger als bislang ökologisch Katastrophales ereignen, und das steht leider zu befürchten, dann werden diese Erfahrungen schon Eingang in die Literatur finden. Die ist, sosehr es uns Journalisten schmerzt, nun mal nicht Erfüllungsgehilfe unseres Metiers, sondern folgt ihrer rätselhaften Eigenlogik."

Besprochen werden Klaus Buhlerts vom BR online gestellte Hörspieladaption von George Orwells "1984" (SZ), die Wiederveröffentlichung von Susanne Kerckhoffs frühem Roman "Die verlorenen Stürme" (Tagesspiegel), John le Carrés Nachlassroman "Silverview" (FR), Bianca Schaalburgs Comic "Der Duft der Kiefern" (Intellectures), Bernard Yslaires Comic "Mademoiselle Baudelaire" über Jeanne Duval (NZZ), Dagmar von Gersdorffs "Die Schwiegertochter. Das Leben der Ottilie von Goethe" (FR), Che Guevaras gesammelte Briefe von 1947 bis 1967 (Zeit) sowie Gretha und Ernst Jüngers Briefwechsel 1922-1960 (SZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Before the Sky Falls. Foto: Diana Pfammatter


In der nachtkritik ist Valeria Heintges hin und weg, wie Christiane Jatahy im Schauspielhaus Zürich Shakespeares "Macbeth" auf die Verhältnisse im heutigen Brasilien überträgt, dabei auch Aufnahmen einer Versammlung zwischen dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und seinen Ministern in Brasilia im April 2020 aufgreift sowie Passagen aus dem Buch "The Falling Sky" des Yanomani Davi Kopenawas. Es geht um "toxische Männlichkeit", "strukturellen Rassismus" und den Raubbau an der Natur Brasiliens: "Ganz innig verbindet sich der Yanomani-Text mit 'Macbeth', Kodderschnauzen-Alltagsgerede mit Shakespeare, zuweilen eingeführt mit Quellenangabe: 'Das sagst du im 3. Akt, 5. Szene'. Alles mischt sich in diesem phänomenalen Abend: Video und Live-Performance, historisches und gegenwärtiges Drama. Mischt sich zur großen, wütenden Anklage gegen Populisten wie Bolsonaro und die globalisierte Wirtschaft, die im Regenwald unter zerstörerischsten Umständen Gold scheffelt. Und richtet sich auch gegen den Rohstoffhandelsplatz Schweiz, in dem Gold damals wie heute vom Dreck seiner Geschichte gereinigt wird."

Weiteres: Jürgen Kesting porträtiert in der FAZ den Sänger Michael Spyres, der als Tenor so gut singt wie als Bariton. Besprochen wird Günther Rühles Buch "Ein alter Mann wird älter. Ein merkwürdiges Tagebuch" (Standard).
Archiv: Bühne

Musik

Der Pianist Gabiz Reichert plädiert in VAN dafür, "Gastnoten" - also kleine, beim Spiel sich einschleichende Fehler - insbesondere in Wettbewerbssituationen nicht gar so sehr zu verfemen, wie das oft der Fall ist. Für ihn steckt dahinter der Wunsch nach "Fotorealismus" in der Musik, der übersieht, dass sich "Gastnoten" auch in vielen geschätzten Aufnahmen befinden: "Gastnoten spielen in ihrer einfachen Messbarkeit immer noch eine wichtige Rolle bei Wettbewerben. Und Wettbewerbe sind wichtig in unserer Branche. Das heißt: Der Ball liegt bei den Wettbewerben. Sie müssen sich dem echten Konzertleben annähern. Ich werde niemals Fotorealist werden und das ist gut so. Gastnoten sind natürlich nicht schlimm, aber das ist eigentlich jedem klar, der schon einmal Live-Musik gehört hat. Einen inneren Zusammenhang zwischen Gastnoten und musikalischem Ausdruck, wie es in einem Beethoven in den Mund gelegten Zitat angedeutet wird, gibt es nicht. Auch gute Musiker spielen hin und wieder schlecht."

Julia Spinola führt in der NZZ durch Karriere und Schaffen von Christian Thielemann, dessen Verträge und feste Engagements gerade gekündigt oder nicht verlängert werden: Hier wird einer "flächendeckend abserviert", glaubt Spinola und sieht darin ein "fatales Zeichen für den zeitgeistig sich wandelnden Musikbetrieb". Auch anderswo würden "die Rufe danach, die unbequemen und schwierigen 'Pult-Götter' von ihren Sockeln zu stürzen, immer militanter. Bedeutende Opernhäuser richten ihre Planungen zunehmend nach Kriterien - etwa der 'wokeness' - aus, denen künstlerische Höchstleistung als solche oft bereits verdächtig ist, weil sie sich ungebührlich hervortut. Wo aber sollen in unserer Social-Media-verblödeten Gesellschaft zukünftig noch eigenständige Impulse herkommen, wenn man nicht einmal mehr in der Kunst das Extreme, Schwierige, Kontroverse noch auszuhalten bereit ist?"

Weitere Artikel: In seinem Poptagebuch für den Rolling Stone teilt Eric Pfeil seine Freude über drei bei Autofahrten im Radio entdeckte Songs mit uns - insbesondere der von Phil Collins produzierte Power-Pop in "I Know There's Something Go On" von Ex-ABBA Frida hat den Weg in sein Herz gefunden.



Besprochen werden das Specials-Album "Protest Songs 1924-2012" (taz), das neue Album von The War On Drugs (Tagesspiegel), Michael Spyres' CD "BariTenor" (FAZ) und Vanishing Twins neues Album "Ookii Gekkou", dessen "vergnügliche polyrhythmische Mixtur aus Instrumentengewusel, seltsamen Sounds und Latinbeats" in tazlerin Stephanie Grimm das Gefühl "wohliger Nostalgie mit abgründiger Unheimlichkeit" aufkommen lässt. Wir hören rein:

Archiv: Musik