Efeu - Die Kulturrundschau

Der Staat benötigt Leichen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.03.2022. Die taz bewundert den Mut des Teatr.dok, das in Moskau Artur Solomonows Satire "Wie wir Josef Stalin beerdigten" aufführte. Die Zeit porträtiert das russische Metal-Punk-Duos IC3PEAK und fragt, warum Gauguin ein kolonialistischer Maler war, wie eine Ausstellung in Berlin behauptet. Ist Blackfacing auch mit Kontext unmöglich, fragt die NZZ fragt anlässlich eines Shitstorms über Ernst Kreneks Jazzoper "Jonny spielt auf" in München. Der Tagesspiegel lässt sich von der Komponistin Eliane Radigue in den Limbus zwischen den Tönen führen. Die FAZ stellt das neue Kunstmuseum in Beirut vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.03.2022 finden Sie hier

Film

Etüde über Körperlichkeit: Audrey Diwans "Das Ereignis"

Das französische Kino hat wieder einen hervorragenden Lauf, freut sich Katja Nicodemus in der Zeit: Mit Céline Sciammas "Petite Maman" (mehr dazu bereits hier), Audrey Diwans Venedig-Gewinner "Das Ereignis" (mehr dazu hier, dort und hier), nach Annie Ernauxs gleichnamigen Roman und Jacques Audiards "Wo in Paris die Sonne aufgeht", die alle in kurzer Folge in die Kinos kommen, kann man sich auch bei uns davon einen Eindruck verschaffen. Diwans Abtreibungsdrama etwa "ist ein sinnlicher Film, eine Etüde über Körperlichkeit. Er zeigt junge Frauen, die ihre Sexualität nicht leben dürfen, während alles darum kreist. ... Im Film wie im Buch verwandeln sich Ohnmacht und Einsamkeit in einen gefahrvollen Weg der Selbstbestimmung. In beiden wird die sechzig Jahre zurückliegende Gegenwärtigkeit zum erschütternd durchlebten Hier und Jetzt. Und es ist ja auch unglaublich, dass das alles noch gar nicht lange her ist."

Wenn der Onkel mit dem Neffen einmal ausgeht... (Julieta Cervantes)

Aus der aktuellen Startwoche breit besprochen wird Mike Mills' schwarzweißes Generationendrama "Come on, Come on" mit Joaquin Phoenix als Onkel, der sich seinem Neffen annähert. Dieser Film "ist so leise und zart, dass man wohl brüllen müsste, wie großartig er ist, damit er nicht untergeht im Getöse der Zeit", schreit Susan Vahabzadeh in der SZ. Ein "subtiles, sanftes Roadmovie" sah Freitag-Kritikerin Dobrila Kontić und gab sich dessen "wohltuenden Mäandern" trotz kleinerer Kritikpunkte gerne hin. Das Kino suche derzeit "die emotional unverstellte Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen", fällt Presse-Kritiker Andrey Arnold auf - und "Come On, Come On" ist nun der "liebliche Hipster-Beitrag zum Leinwandtrend". Immerhin: "Den potenziell hohen Kitschfaktor des Plots dampft Mills mit seinem gewohnt feinsinnigen, anheimelnd poetischen Stil auf ein erträgliches Maß ein."

Ja, sicher, Joaquin Phoenix, toller Schauspieler, schreibt Daniel Kothenschulte in der FR. Aber die Sensation des Film ist der Kinderschauspieler Woody Norman als Neffe Jesse. "Und was die Kunst der Komödie betrifft, entsteht in der Verbindung aus schwarz-weißer Großstadtfotografie und hinreißenden Dialogen eine Art Neuerfindung des Woody-Allen-Prinzips für die Gegenwart: geistreich und voller Leben, aber frei von Egozentrik und Außenseiterromantik." Weitere Besprechungen in taz und Tagesspiegel.

Außerdem: Michael Pilz erinnert in der Welt an die Odessa-Szenen in Sergei Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin". Besprochen werden Zaida Bergroths Biopic "Tove" über die Mumins-Schöpferin Tove Jansson (Perlentaucher, taz), Michael Bays Actionreißer "Ambulance" (Perlentaucher, FR, taz, Standard, Tsp), eine Ausstellung in der Cinémathèque Française über Romy Schneider (SZ), Alireza Golafshans deutsche Partykomödie "JGA" (SZ, ZeitOnline), Oliver Krachts "Trümmermädchen" (Freitag) und Silvina Landsmanns Dokumentarfilm "The Good Soldier" über israelische Soldaten (SZ). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich diese Woche wirklich lohnen.
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Kunst

Paul Gauguin (1848-1903), Vahine no te Tiare. The Woman with the Flower, 1891. Ny Carlsberg Glyptotek


Eine Berliner Ausstellung will Paul Gauguin als kolonialistischen Maler "entlarven". Dazu wurden auch polynesische Künstler eingeladen. "Doch je schärfer sie in ihren Videos und Installationen den Mythos attackieren, karikieren, destruieren, desto stärker hält er sie im Bann - als wären sie noch immer Kolonisierte der westlichen Kunst", erkennt Zeit-Kritiker Hanno Rauterberg, für den diese Strategie erkennbar nach hinten losgeht: "Wer Gauguin überwinden, wer den Blick auf Polynesien weiten will, darf die Künstler nicht bloß als Zeugen im musealen Diskurs befragen. Denn so wirkt es, als würde ihre Kunst hier nur geschätzt, wenn sie sich doch wieder mit uns, den alles bestimmenden Europäern, befasst. Selbst der Katalog verrät so gut wie nichts über das Polynesien von heute, über die noch immer fortdauernde Abhängigkeit vom französischen Gutdünken oder die gravierenden Nachwirkungen der 193 Atomtests, die es zwischen 1966 und 1996 in der Gegend gab."

In der Welt stellt Katharina Hoeftmann die äthiopisch-israelische Künstlerin Nirit Takele vor. Besprochen werden eine Ausstellung von Selma Selman im Kunstraum Innsbruck (Standard), die Ausstellung "Tough Connections. Mike Cloud, Happy Dannenberg, Rita Rohlfing, Achim Zeman" im Kunstverein Aschaffenburg (taz), die Ausstellung "Fantastische Tierwesen" in der Gemäldegalerie Berlin (Tsp),  und die Schau "Holbein. Capturing Character" in der Morgan Library and Museum in New York (FAZ)
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Bühne

Katja Kollmann lässt sich in der taz vom russischen Theaterblogger Wjatscheslaw Gerasimtschuk über die Uraufführung von Artur Solomonows Stück "Wie wir Josef Stalin beerdigten" am Teatr.doc in Moskau berichten, eine Satire über die Entstehung des Stalinismus: "Artur Solomonow war bei der Premiere seines Stücks vor Ort. Er erinnert sich: Es war das hoffnungsloseste Publikum, das mir je begegnet ist. Nach Ende der Vorstellung sagten die Menschen, ihnen sei fast das Herz stehen geblieben, als auf der Bühne geschrien wurde: 'Der Staat benötigt Leichen! Der Mensch ist nichts, der Staat ist alles!' Diese Deklamationen, die die Rückkehr des Stalinismus offen thematisieren, standen bei Probenbeginn definitiv nicht im Fokus, das haben nun die neuen Realitäten vollbracht."

Szene aus Ernst Kreneks "Jonny spielt auf". Foto: Christian Zach / Staatstheater am Gärtnerplatz


In München hat es einen Shitstorm gegeben, weil in der Neuinszenierung von Ernst Kreneks Jazzoper "Jonny spielt auf" - die bei der Uraufführung 1928 von Nazis gestürmt worden war,  ein schwarzer Jazzband-Geiger namens Jonny dem weißen Komponisten Max die Geliebte ausspannt - die Hauptfigur schwarz geschminkt ist. NZZ-Kritiker Michael Stallknecht kann die Empörung nur als ideologische Verbohrtheit empfinden: "Dabei hat der Regisseur genau das getan, was im Diskurs über das 'Blackfacing' immer wieder gefordert wurde: Er kontextualisiert es, unterstützt von einem Artikel im Programmheft. Natürlich hätte er auch einen schwarzen Sänger beschäftigen können, sah aber gerade im Umgang mit dem weißen Ensemblemitglied eine Möglichkeit, das Schminken kritisch zu reflektieren. Der Darsteller schminkte sich denn auch keineswegs vollständig, sondern legte sich auf der Bühne die Schminke selber als zeichenhafte Maske auf; später entfernte er sie wieder." Überhaupt, fragt er, was haben die amerikanischen Minstrel Shows des 19. Jahrhunderts, in denen Schwarze rassistisch karikiert wurden, mit "der europäisch geprägten Oper zu tun"?

Paul Schäufele sah das in der SZ neulich anders: "Der Regisseur Peter Lund plädiert für das sogenannte 'Blackfacing' mit dem Argument historischer Genauigkeit, was merkwürdig ist, da 1928 auch keine Videoprojektionen riesiger Sigmund-Freud-Köpfe auf der Bühne zu sehen waren. Es mag nur wie ein Detail der szenischen Gestaltung wirken, in Wahrheit ist es der Angelpunkt einer sinnvollen Auseinandersetzung mit dem Stück. Denn Jonny taugte nicht nur zur Zigarettenwerbung, die rassistische Karikatur der populären Opernfigur aus dem Pinsel von Ludwig Tersch mit affenhaft reduzierten Gesichtszügen und Davidstern im Knopfloch wurde zum Maskottchen der Düsseldorfer Ausstellung 'Entartete Musik' von 1938. Man hätte Ludwig Mittelhammer ungeschminkt lassen können, um zu zeigen, dass das Thema zur Disposition steht, ohne auf eine aus guten Gründen obsolete Bühnenpraxis zurückzugreifen." Die Inszenierung soll in der nächsten Spielzeit nicht mehr aufgenommen werden.

Besprochen werden Manja Kuhls "Langer Atem" im Foyer des Schauspiels Frankfurt (FR), zwei Einakter von Peter Maxwell Davies in Weimar (nmz), Verdis "Les vêspre siciliennes" an der Deutschen Oper Berlin (nmz), Viktor Bodós Inszenierung von Erich Kästners "Fabian" in Stuttgart (Zeit), Simon Stones Inszenierung von Alban Bergs "Wozzeck" an der Wiener Staatsoper (da bleiben viele Fragen offen, stöhnt Reinhard Kager in der FAZ) und die von Ai Weiwei inszenierte und von der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv dirigierte "Turandot" an der Opera di Roma (Zeit, Welt).
Archiv: Bühne

Literatur

Die NZZ bringt die 16. Folge aus Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. Er schildert surreale Szenen von Albträumen, nächtlichen Fliegeralarmen und einer Nachbarin, die sich in ihrer Badewanne verschanzt. "Dann höre ich das Geräusch eines Flugzeugs. Es ist nicht das träge Dröhnen einer Zivilmaschine, sondern das räuberische Surren eines Bombers. Es verklingt. Zum Glück wirft es keine Bomben auf unsere Köpfe ab, es hat etwas anderes im Sinn. Dann, eine Minute später, höre ich in der Ferne das Geräusch von vielen Explosionen. Jede Bombe tötet jemanden. Jede Bombe unterbricht das Dasein eines Menschen, seine Träume, seine Hoffnungen, sein ganzes Leben. Jede Bombe ist ein mechanischer Jack the Ripper, der mit gezackten Messern in den Händen vom Himmel fällt und so viele Hände hat wie die Göttin Lakshmi."

Außerdem: In der FR gratuliert Arno Widmann Martin Walser zum 95. Geburtstag. Dessen aktuelles "Traumbuch" besprechen SZ und Tagesspiegel.

Besprochen werden unter anderem die deutsche Erstausgabe von Fran Lebowitz' Essaysammlung "New York und der Rest der Welt" (Tsp), eine Neuausgabe von Viktor Schklowskis "Zoo" (SZ), Percival Everetts "Erschütterung" (Zeit), Stewart O'Nans "Ocean State" (SZ), Laura Cwiertnias "Auf der Straße heißen wir anders" (Tsp), Tania Blixens Novelle "Babettes Gastmahl" (Tsp), Martin R. Deans "Ein Stück Himmel" (NZZ) und Liao Yiwus "Wuhan" (FAZ).
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Architektur

Lena Bopp stellt in der FAZ das neue Kunstmuseum in Beirut vor, für das gerade der Grundstein gelegt wurde. Nicht obwohl, sondern gerade weil die Libanesen noch ganz andere Probleme haben, könnte man sagen: "'Die vergangenen Jahre waren eine Achterbahnfahrt', sagt Michele Haddad, eine der Direktorinnen des Beirut Museum of Art. Die sich verschlechternde Lage verlangte danach, das Projekt zu überdenken. Ursprünglich geht es auf die Initiative zweier Frauen zurück, die seit Jahren im amerikanischen Exil leben und den ewig schlechten Nachrichten aus Libanon etwas Positives entgegenhalten wollten. Sie trieben Millionen Dollar an privaten Mitteln auf. Mit deren Spendern, so Haddad, habe man nun Rücksprache gehalten. Die meisten hätten ihr Engagement bestätigt und darauf gedrungen, die Pläne nicht fallen zu lassen. Rund dreißig Millionen Dollar soll allein das Gebäude kosten, das die Architektin Amale Andraos entworfen hat."
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Stichwörter: Libanon, Beirut, Andraos, Amale

Musik

Die Berliner Maerzmusik widmet Eliane Radigue einen Schwerpunkt.Thomas Wochnik verneigt sich im Tagesspiegel tief vor der französischen Komponistin,  die erst vor kurzem ihrem 90. Geburtstag feiern konnte: "Mit ihrem Synthesizer machte sie sich in den sechziger Jahren unabhängig von männlichen Domänen, ließ auch ihre Lehrer Pierre Schaeffer und Pierre Henri hinter sich" und "ist ihren Wurzeln immer treu geblieben, eine voraussetzungsfreie, intuitiv erfassbare Musik zu machen. Wie in Zeitlupe hört man mit ihr die Teilschwingungen einzelner Klänge durch, kann sich bewusst machen, was ein Zusammenklang überhaupt ist." In den "Limbus zwischen den Tönen führt ihre Musik immer wieder. Als fröre man eine klassische Aufführung ein und hörte hinein in das, was noch passiert, wenn alle Instrumente einfach nur den Ton halten." Regine Müller resümiert in der taz das bisherige Festival, das noch bis zum 27. März läuft.

Artur Weigandt schreibt in der Zeit über das von Verfolgung bedrohte, russische Metal-Punk-Duos IC3PEAK, das mit seine Kunst "die Verbitterung von Generationen im postsowjetischen Raum" verarbeitet. "Seit 2013 stehen sie auf der schwarzen Liste der russischen Behörden. Ihre Konzerte werden in Russland seitdem verboten, abgesagt oder behindert. Bei Demonstrationen wurden ihre Lieder zu Hymnen einer russischen Jugend, die ein anderes, freies Leben führen will. ... Den letzten Informationen nach lebt das Duo in einem Dorf in der Umgebung von Moskau. Wo genau, halten sie streng geheim. Auf Social-Media-Kanälen deuteten sie in den letzten Tagen verschiedene Aufenthaltsorte in Osteuropa an. Die Kunst in Russland ist in Gefahr." Ihr Lied "Dead But Pretty" wird auf Antikriegsdemos in Russland gespielt:



Weitere Artikel: In der SZ plaudert Jakob Biazza mit Wu-Tang-Clan-Gründer RZA. Besprochen werden Rosalías "Motomami" (Standard), das neue Album von Methyl Ethel (FR), die Comeback-Alben von The Jeremy Days und Placebo (Tsp), eine von Simone Young dirigierte Aufführung von Mozarts unvollendeter c-Moll-Messe in Berlin (Tsp), Antonia Hausmanns im April erscheinendes Jazzalbum "Teleidoscope" (online nachgereicht von der FAS) und das neue Album von Jenny Hval (hier "wird mit sanfter glockenheller Stimme über französischen Poststrukturalismus, die amerikanische Wüste oder die schwangere Mutter gesungen", schreibt Christian Schachinger im Standard).

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