9punkt - Die Debattenrundschau

Schichtnougat, Joghurt und tiefgefrorene Lachsfilets

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2014. Die Russen verlassen Russland, klagt Swetlana Alexijewitsch in Le Monde. In der FAZ warnt Wladimir Sorokin Schwangere vor dem Verzehr rohen Fleisches. Und in der New Republic beschwört Adam Michnik den Heiligen Georg für ein realistisches Szenario. Wie soll sich der Einzelne gegen seine Überwachung wehren, fragt Arno Widmann in der FR. Schließlich: Wie schön klickten einst die anologen ABs.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.07.2014 finden Sie hier

Europa

Viele demokratisch gesinnte Russen geben ihre Hoffnungen auf, schreibt Swetlana Alexijewitsch in Le Monde: "Eine neue Welle der Emigration hat eingesetzt, die größte seit dem Fall der Sowjetunion. Die besten sind es, die gehen, jene, die glaubten, ein europäisches Russland bauen zu können. Wenn sie nicht selbst gehen, schicken sie ihre Kinder ins Ausland. In Moskauer Schulen und Krankenhäusern trifft man immer häufiger auf tadschikische und usbekische Lehrer und Ärzte. Die aus Russland sind gegangen."

Adam Michnik warnt in eigenwilliger Abwandlung von Legenden in der New Republic vor Putins Entschlossenheit. Ein "Freund aus Russland sagt mir, es gibt zwei Szenarios für Russlands Auszug aus der Ukraine, ein realistisches und ein Wunder-Szenario. In dem einen Szenario kommt der Heilige Georg auf einem Drachen und vertreibt die Marodeure mit einem Feuerschwert. Das ist das realistische Szanario. Und das Wunder-Szenario? Sie geben auf und gehen."

Russland geht mit der Ukraine schwanger, schreibt Wladimir Sorokin in einer seltsamen, aber auch recht witzigen Analogie in der FAZ: "Es ist bekannt, dass Schwangere manchmal Heißhunger auf rohes Fleisch haben. Und siehe da, mal eben wird ein lebendes Fleischstück abgebissen, die Krim. Die abgeschliffenen postimperialen Zähne haben es herausreißen können, doch zum Verschlingen reicht die Kraft nicht. Es ist Russland im Hals stecken geblieben."

Jetzt kann Europa nicht mehr vermeiden, Russland für die Katastrophe in der Ukraine verantwortlich zu machen, meint Fred Kaplan in Slate.com. So oder so trägt Putin die Schuld an dem Desaster: "Sind die Leute, die das malaysische Flugzeug abgeschossen haben, prorussische Separatisten oder russische Offiziere der Luftabwehr, die ihren ethnischen Brüdern über die Grenze zu Hilfe kamen? In beiden Fällen geht es nicht nur darum, dass Putin die Rebellen zum Kampf ermutigt und mit Raketen ausgerüstet hat, wodurch er indirekt verantwortlich wäre. Seine Offiziere sind für den Abschuss direkt verantwortlich. Entweder haben sie die separatistischen Schützen direkt ausgebildet oder sie haben selbst geschossen."

In der taz berichtet die ukrainische Journalistin Valerija Dubova von der Lage in Donezk, die von der Bevölkerung selbst mit erstaunlicher Gleichgültigkeit hingenommen wird: "Man ist nicht sonderlich darum bemüht, mit den Bewaffneten in Kontakt zu treten. Und auch die Separatisten schenken der Bevölkerung kaum Beachtung. Wenn die Menschen einen Kontrollposten passieren und eine Schar von Männern in Tarnanzügen erblicken, versuchen sie, sie zu ignorieren. Nur Anhänger separatistischer Ideen sprechen die mit Maschinengewehren bewaffneten Kämpfer hin und wieder an."
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Internet

Arno Widmann denkt in der FR sehr grundsätzlich über die digitale Revolution, die - so viel vorweg - selbstverständlich unsere Gesellschaft zerstört, sonst wäre es ja keine Revolution. Widmann macht das erst mal keine Angst, doch Sorge bereitet ihm der Einzelne: Was immer ihm im Netz von Algorithmen vorgeschlagen wird, interessiert ihn eigentlich nicht. "Er fühlt sich nicht erkannt, also vergisst er das. Was er nicht vergessen sollte, ist, dass der Kaufhof am Alexanderplatz in Berlin weiß, dass er sich vorzugsweise von Schichtnougat, Joghurt und tiefgefrorenen Lachsfilets ernährt... Warum sollten die Versicherungen auf Dauer auf die Ausnutzung dieses Wissens verzichten? Nur wenn die Politik dazwischenfährt. Die Politik aber hat stärkstes Interesse an der Beschneidung der Rechte des Einzelnen. Der Kampf zwischen ihm und dem Staat ist ja ihre Grundbewegung." Sapere aude!, ruft Widmann dem Individuum am Ende zu.

Noch immer weiß man nicht, was das Gesetz zum Leistungsschutzrecht der Presseverlage eigentlich besagt, schreibt Ole Reißmann bei Spiegel Online. Eine Anfrage der Grünen-Abgeordneten Tabea Rößner wurde unklar beantwortet. Reißmanns Interpretation: "Das Gesetz war ein Geschenk der schwarz-gelben Koalition an die Verlage. Das mittlerweile von der SPD geführte Justizministerium will nun erst einmal abwarten, was überhaupt passiert. Von einer Verschärfung des Gesetzes, von Maas noch im Juni in Aussicht gestellt, ist nun keine Rede mehr."

Weiteres: Der TV-Anbieter Netflix, der in den USA bereits 50 Millionen Abonnenten hat, kommt im September nach Deutschland, meldet Axel Postinett im Handelsblatt. Und nach Frankreich, meldet Le Monde.
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Politik

Der israelische Autor Etgar Keret kritisiert in der FAZ die Hardliner in seinem Land: "Die israelische Armee kann einen Kampf gewinnen, aber nur ein politischer Kompromiss wird den israelischen Bürgern Sicherheit und Ruhe bringen. Das aber darf man nach dem Willen der patriotischen Kräfte, die das aktuelle Gefecht anführen, nicht sagen."

Im Tagesspiegel meldet Jörn Hasselmann weitere antisemtische Ausfälle in Berlin: Am Wochenende tauchte bei Youtube ein Video der Freitagspredigt in der Neuköllner Al-Nur-Moschee auf. "O Allah, destroy the Zionist Jews", ruft der Prediger darin."
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Medien

Begehbare Nachrichten: So begeistert wie skeptisch beäugt Andrian Lobe in der NZZ die Fortschritte des "Immersive Journalism". Dabei handelt es sich um die computeranimierte Nachbildung einer realen Szene, um virtuelle Realität, in die der Betrachter mittels einer VR-Brille eintauchen kann. "Wenn Sie eine Geschichte über eine Tragödie in der Zeitung oder auf einer Nachrichtenwebseite lesen, sind Sie auf Armlänge und können weglaufen, ohne mit den Opfern zu fühlen. Eine Foto hingegen ist einfühlsamer, ein Video noch mehr. Mit virtueller Realität fällt die Distanz ganz weg. Es fühlt sich an, als wäre man da. Die Frage ist, ob auch die Erzählenden die kritische Distanz verlieren. VR-Produktionen wohnt die Tendenz inne, dass Sachverhalte - bewusst oder unbewusst - psychologisiert, emotionalisiert werden."

Weiteres: In der FAZ berichtet Hülya Özkan über die Gleichschaltung der Medien in der Türkei.
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Gesellschaft

Eine bewegende Hommage auf "Detektiv Rockfords" Anrufbeantworter, der noch mit zwei Kassetten lief und so teuer war, dass man ihn von der Telefongesellschaft mietete, schickt Helen A.S. Popkin auf Readwrite all den Nachrufen auf James Garner hinterher: "Der Klang des Festnetzklingelns gefolgt vom Klick der anlaufenden Maschine. Das Warten auf die Nachricht in Zeiten ohne Anruferkennung. Jene Sounds der analogen Technik beschwören Erinnerungen an Orte und Zeiten, die nie wieder kommen. Außer dass diese Maschinen immer noch funktionieren."

Hier klingelt"s:



In der SZ berichtet Joseph Hanimann, wie Bordeaux und Lyon ihre alten Industriebrachen neu gestalten und dabei eine sympathische Erfahrung machen müssen: "Stadtumbau, einst großräumig am Reißbrett betrieben, läuft heute auf dem Terrain den Masterplänen davon, noch bevor deren Tinte ganz trocken ist. Wie feste Raster sich in flexible Muster auflösen können, das ist derzeit am Beispiel der Denkmalstadt Bordeaux besser als anderswo zu sehen - und auch zu lernen."

Isolde Charim greift in ihrer Kolumne die österreichische Sommer-Debatte über das große Binnen-I auf und erinnert daran, dass der "Normalität keine "Echtheit" zugrundeliegt, sondern vielmehr geronnene Willkür".
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