Magazinrundschau

Ein seltsamer organischer Prozess

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
18.01.2022. Eurozine erzählt, wie regimetreue Intellektuelle in Russland Europa als Quelle der Innovation abschreiben - der neue Bezugsraum heißt "Eurasien" und reicht von Dublin bis Tokio. Desk Russie erinnert an den "Ascharschylyk" - so bezeichnen die Kasachen den stalinistischen Hungermord, der noch vor dem ukrainischen Holodomor verübt wurde. Anderthalb Millionen Kasachen sind verhungert, Russland fühlt sich durch die Erinnerung daran gestört. Der New Yorker fragt, passiert, wenn der Permafrostboden Sibiriens seine anderthalb Billionen Tonnen CO2 und Methan freisetzt.

Eurozine (Österreich), 17.01.2022

Russlands Kreml-treue Intellektuelle zeichnen gern das Zerrbild eines dekadenten Europas, das von Kulturkämpfen und Identitätsschnickscnack besessen ist. In einem aus der ukrainschen Zeitschrift Krytyka übernommenen Artikel zeichnet Igor Torbakow nach, wie damit die Abkehr von Europa generell eingeleitet wurde: "Für Dmitri Trenin, den Direktor des Carnegie Moskau Center, ist Europa nicht länger das Ursprungsland oder 'heilig', nicht einmal ein Freund. Für das heutige Russland, meint er, sei es nur ein Nachbar unter vielen, Teil eines größeren Eurasiens, das sich von Irland bis Japan erstreckt. Das strategische Ziel enger Zusammenarbeit und politischer Allianzen mit Europa - eine Vorstellung, die liberale Intellektueller und Politiker in Russland in den neunziger Jahren vorschwebte - wird inzwischen als nicht praktikabel angesehen, wenn nicht gar als schädlich. Russlands Fortschritt wird nicht mehr an seinen Bindungen zu Europa gemessen. Timofeo Bordatschew, ein bekannter Kommentator in Moskau, meint, dass Russland 'nur noch vorankommt, wenn es es einen bedeutenden, vielleicht sogar den zentralen Part seines Erbes hinter sich lässt: den europäischen Charakter russischer Staatlichkeit'. Europa als Quelle der Innovation wird abgeschrieben. 'Alles, was wir von Europa brauchten, haben wir bekommen', schreiben der Politwissenschaftler Sergei Karaganow und gleich gesinnte Analysten wie in einem Geschäftsbericht. 'Alles andere', meinen sie, ' haben wir entweder schon oder können es nicht bekommen: historisch ist Russland ein autoritärer Staat... Es ist an der Zeit, sich nicht mehr dafür zu schämen, dass wir historisch einem autoritären System verbunden sind, nicht der liberalen Demokratie.'"

Anastassiya Schacht kann sich noch keinen Reim auf die Ereignisse in Kasachstan machen. Nach den Protesten hat Präsident Tokajew nicht nur die Regierung gefeuert, sondern auch hochrangige Militärs verhaften lassen: "Geht es um Proteste, die in Gewalt umschlugen und von den Behörden rigide niedergeschlagen wurden? Das würde bedeuten, dass die kasachische Führung in Panik geraten war - das wäre möglich, auch wenn dies nicht die ersten Proteste im Land waren. Diese Interpretation erklärt nicht die drastischen Maßnahmen an der politischen und militärischen Spitze. Sie erklärt auch nicht, warum sich die kasachischen Sender beharrlich weigern, die Hauptstadt mit ihrem neuen Namen Nur-Sultan zu bezeichnen - nach dem langjährigen Ex-Machthaber Nasarbajew. Tokajew äußert sich stets sehr vorsichtig, wenn es um die Macht der Oligarchen geht, doch jetzt verband er erstmals Nasarbajews Namen mit Kräften, die unrechtmäßig und exzessiv politische und ökonomische Macht angehäuft hätten. In einer Rede am 11. Januar rief Tokajew diese Kräfte auf, ihren Teil zu nationalen Ökonomie beizutragen. Solche Äußerungen legen die Vermutung nahe, dass hier ein Machtwechsel vollzogen wird, und dass Nasarbajews Verbündete nun entweder dem neuen Präsidenten ihre Loyalität beweisen müssen oder im Gefängnis landen werden. Unklar bleibt, ob sie versucht hatten, mit einem Coup ihre Macht zu sichern oder die Proteste für ihre Zwecke gekapert haben. Andererseits kann Tokajew die Proteste auch genutzt haben, um seine Vormachtstellung abzusichern."
Archiv: Eurozine

Desk Russie (Frankreich), 14.01.2022

Mutter und Kind in Kasachstan 1930. Wir entnehmen das Bild dem Artikel "Kremlin evades historical facts of devastating 1930s famine in Kazakhstan" auf central.asia-news.com. Es entstammt dem kasachischen Zentralarchiv.

"Acharchylyk" (mag sein, dass die Transliteration ins Deutsche Ascharschylyk lauten müsste, im Englischen Asharshylyk) ist ein hierzulande komplett unbekanntes Schlagwort. Die Sache, für die es steht, ist aber auch in Deutschland schon in Büchern verhandelt worden, etwa in Robert Kindlers Studie "Stalins Nomaden - Herrschaft und Hunger in Kasachstan" aus dem Jahr 2014 (mehr dazu hier und hier). Das Wort bezeichnet den kasachischen Holodomor, also den stalinistischen Hungermord an anderthalb Millionen Kasachen, noch vor den Verbrechen in der Ukraine. Die Zahl der Toten entsprach einem Drittel der Bevölkerung des riesigen Landes. Stalin wollte das Nomadentum abschaffen, erzählt Galia Ackerman: "Parallel zur Dekulakisierung in Russland und der Ukraine wurden die Beys, das heißt mehrere hundert kasachische Clanführer, vollständig ihres Viehbestands beraubt, um ihnen die Autorität zu nehmen. Dann wurden sie deportiert oder sogar hingerichtet. Anschließend erfolgte eine erzwungene Sesshaftmachung: Stalin bildete sich ein, dass die neuen Bauern die Steppe zu nutzen wüssten, indem sie sowohl Weizen als auch Fleisch und Milchprodukte produzieren würden. In der Praxis entwickelte sich diese utopische Idee zu einem Albtraum: Die Zentralmacht wollte die kasachische Bevölkerung und ihr Land ausbeuten, hielt es aber für unnötig, in die Infrastruktur zu investieren… Um die Quoten für Weizen zu erfüllen, wurden die Kasachen gezwungen, ihr Vieh gegen lächerliche Mengen Getreide einzutauschen, was ihr Todesurteil war, da sie nichts mehr übrig hatten. Überall verendeten die Tiere aufgrund der ungeeigneten Bedingungen, einschließlich Futtermangel und großer Kälte: Innerhalb von zwei Jahren verlor die Republik bis zu 90 Prozent ihres Viehbestands." Erst seit einigen Jahren wird diese Geschichte gegen erbitterten Widerstand aus Russland von kasachischen Historikern aufgearbeitet, jüngst wurde eine dreibändige Sammlung von Zeugenaussagen präsentiert. Ackerman empfiehlt als weitere Lektüre das Buch "The Hungry Steppe - Famine, Violence, and the Making of Soviet Kazakhstan" der Historikerin Sarah Cameron.
Archiv: Desk Russie

New Yorker (USA), 17.01.2022

Auch in Sibirien macht sich der Klimawandel bemerkbar. Der dauergefrorene Boden schien ewig. Ganze Städte sind darauf errichtet worden. Aber jetzt beginnt er langsam aufzutauen, erzählt Joshua Yaffa in seiner Reportage aus Jakutien. Was dabei freigesetzt wird, sind nicht nur Mammutknochen, Bakterien und winzige Tierchen, die plötzlich zu leben beginnen, sondern auch Kohlenstoff. "Zwei Drittel der Fläche Russlands liegen auf Permafrostboden. In Jakutien, wo der Permafrost fast einen Kilometer tief sein kann, sind die jährlichen Temperaturen seit der industriellen Revolution um mehr als zwei Grad Celsius gestiegen, doppelt so viel wie im weltweiten Durchschnitt. Mit der Erwärmung der Luft wird auch der Boden immer heißer. Abholzung und Waldbrände - beides akute Probleme in Jakutien - entfernen die schützende oberste Vegetationsschicht und lassen die Temperaturen im Untergrund noch weiter steigen. ... Es ist ein seltsamer, organischer Prozess, so als würde man den Stecker des Gefrierschranks aus der Steckdose ziehen und die Tür offen lassen, um dann einen Tag später festzustellen, dass die Hühnerbrüste im hinteren Teil zu verrotten begonnen haben. Im Falle des Permafrosts setzt diese mikrobische Verdauung einen ständigen Rülpser von Kohlendioxid und Methan frei. Wissenschaftliche Modelle gehen davon aus, dass der Permafrost anderthalb Billionen Tonnen Kohlenstoff enthält, doppelt so viel wie derzeit in der Erdatmosphäre vorhanden ist." Der Wissenschaftler Trofim Maximov "beschreibt den auftauenden Permafrost als eine Art Rückkopplungsschleife: Die Freisetzung von Treibhausgasen führt zu wärmeren Temperaturen, die wiederum den Permafrost weiter auftauen lassen. 'Das ist ein natürlicher Prozess', erklärte er mir. 'Das bedeutet, dass man ihn im Gegensatz zu rein anthropogenen Prozessen' - z. B. Emissionen von Fabriken oder Autos - 'nicht wirklich aufhalten kann, wenn er einmal begonnen hat.'"

Außerdem: D.T. Max porträtiert die Moderedakteurin und Schriftstellerin Hanya Yanagihara. Hilton Als taucht ein in die metaphysische Welt des Filmregisseurs Apichatpong Weerasethakul. Ian Buruma liest Jing Tsus Buch "Kingdom of Characters: The Language Revolution That Made China Modern". Und Anthony Lane sah Asghar Farhadis Film "A Hero".
Archiv: New Yorker

Magyar Narancs (Ungarn), 09.01.2022

Im Sommer hat ein Kollektiv von Kunsthistorikern die Instagram-Seite "Trash of Köztér" (Trash im öffentlichen Raum) gegründet. Dort postet sie gelungene und weniger gelungene Skulpturen und Statuen, die in den letzten Jahren in überraschend großer Anzahl in Ungarn aufgestellt wurden. Nicht immer zum Vorteil für den öffentlichen Raum. Im Interview mit Dénes Krusovszky erzählen sie, wie die Idee entstanden ist: "Es begann als ein Forschungsprojekt, bei dem wir einen Haufen Bilder von schlechten Skulpturen sammelten, die wir uns zum Spaß gegenseitig zuschickten, und dann schlug einer von uns vor, dass wir sie doch auch irgendwo teilen könnten. Es gab keinen besonders ernsthaften Zweck für die Website. Wir wussten vorher, dass es sich um ein unendlich komplexes Problem handelte, aber es war überraschend, wie gut eine Instagram-Plattform es thematisieren konnte. Das Ziel wurde durch die Popularität und die Reaktion unserer Follower definiert. Es ist möglich, dass die Reaktion auf die Lieferung eines neuen Denkmals oder einer dekorativen Skulptur nicht nur 'Hey, neue Skulptur!' ist, sondern dass das Konzept und die Ausführung des Werks anspruchslos und unwürdig sind, einen Raum zu besetzen, den wir alle teilen. ... Im Zusammenhang mit der wahrhaft schrecklichen Sisi auf dem Madách-Platz haben wir Zsolt Vattamány zitiert, den ehemaligen Fidesz-Bürgermeister des Bezirks, der sich zu der Statue wie folgt äußerte: 'Es ist ein Kunstwerk. Wir dachten, dass diese Arbeit am besten geeignet wäre. Wenn wir anfangen, sie auszuschreiben, wird es lange, lange Jahre dauern, und es wird zu einem Geschmacksstreit werden.' (sic!) Was soll man dazu noch sagen?"
Archiv: Magyar Narancs

New York Times (USA), 16.01.2022

James Verini schildert in einer langen Reportage die komplexe, oft paradoxe Situation auf der ukrainischen Seite der Front zu den abgespaltenen Gebieten am Donbass. Die Bevölkerung fühlt sich oft Russland verbunden, die ukrainischen Soldaten der Ukraine. Sie blicken mit Misstrauen auf die Bewohner, die sie zugleich gegen die Russen verteidigen. Verini erzählt auch über Maryna und ihre Schwägerin Valia, die er in ihrem schönen Garten an der Front besucht: "Der Krieg verschlimmerte eine schlechte Situation noch. Monatelang lebten sie im Keller. Marynas Vater war behindert, und sie trugen ihn jeden Tag unter die Erde. 'Wir wussten nicht, wer die Sezessionisten waren', sagt Maryna. 'Wir waren alle gleich, und dann wachten wir eines Morgens auf, und plötzlich waren die Leute unten an der Straße Sezessionisten. Und wir waren Gott weiß wer.' Jetzt waren sie der Feind. 'Die Soldaten sagten: 'Ihr seid hier alle Sezessionisten.'' Sie hatten nicht die Mittel fortzugehen. Und selbst wenn, wohin? Und Maryna spricht einen Satz aus, den ich immer wieder von Menschen im Donbass hörte: 'Wer braucht uns?'"
Archiv: New York Times

VAN (Deutschland), 12.01.2022

Was bringt der Kunstmarkt-Hype um die NFTs der Klassik, insbesondere nach den letzten beiden Jahren mit eingeschränkten Auftrittsmöglichkeiten? Felix Linsmeier wirft nicht nur einen (sehr kritischen) Blick auf die Technologie und "anarchokapitalistische" Ideologie, die hinter den NFTs steckt, sondern warnt auch vor allzu sorglosem Enthusiasmus. Mit "Betty's Notebook", einer Arbeit des Vokalensembles Verdigris, die sich NFTs und deren Grundlage in der Blockchain-Technologie auch für die ästhetische Gestalt als Strukturelement zunutze macht (hier dazu Hintergründe und dort die "Experience), hat ihn dann aber doch noch ein Werk überzeugen können: Diese Arbeit "ist nicht nur in seinem Verkaufswert ein beachtliches Beispiel, sondern eines der sehr wenigen, die es verstehen, das Konzept NFT als für das Werk konstitutiv zu nutzen (ein ähnliches Beispiel für programmable music ist das Projekt Mozart Beats). Der simple Verkauf von Aufnahmen kann natürlich funktionieren, wenn Nachfrage herrscht, doch solange die Werke aus dem formalen Rahmen getrennt werden können, drohen ihnen Bedeutungsverlust und Austauschbarkeit. Krypto-Prophet:innen werben mit vermeintlich innovativen Ideen wie der Kopplung von Tickets an Albumkäufe, Crowdfundingmodelle oder Privatsponsoring à la Patreon, doch sind das alles längst etablierte und funktionierende Konzepte, für die ein Umzug auf die Blockchain keinen ersichtlichen Mehrwert bietet. Und das gilt wohl für die meisten der umjubelten futurischen Projekte: So wie Elon Musks innovativ-bahnbrechendes Verkehrskonzept Loop beim genaueren Hinsehen nur eine sehr, sehr, sehr schlechte U-Bahn aus Autos ist, sind die meisten angepriesenen innovativen Potentiale der NFTs nur Transpositionen längst existierender Vermarktungsmodelle auf die komplizierte dezentrale Struktur mit all ihren Problemen und Gefahren. Die proklamierte 'Revolution' ist (bisher) keine der Kunst, sondern allerhöchstens des Kunstmarktes. Der Umsturz vollzieht sich aber weniger an der Beschaffenheit dessen - Wertbildung, Auktionsmodelle und Spekulantentum, oder auch Geldwäsche sind ja erhalten geblieben - als in den radikalen Verhältnissen in einer libertären Ideologie, wie sie in bisherigen Handelsräumen kaum denkbar waren."
Archiv: VAN

Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 18.01.2022

In einem sehr grundsätzlichen und weit ausholenden Artikel blickte der Historiker Eckart Conze in der Dezember-Ausgabe noch einmal auf die Debatte um das Deutsche Kaiserreich, in dem bekanntermaßen seine Kollegin Hedwig Richter, aber auch andere so etwas wie positiven Fortschrittsgeist entdecken wollen. Conze sieht in solcher Weichzeichnung eine grundsätzliche "erinnerungskulturelle Rechtswende": "Zusammen mit der Debatte über den Kriegsbeginn 1914 deutet auch die öffentliche Kontroverse über die Hohenzollern auf ein sich veränderndes geschichtspolitisches Klima. Sie ist Teil einer neuen Auseinandersetzung der Deutschen über ihre nationale Geschichte, die mit der deutschen Vereinigung 1990 begonnen hat und die durch die gegenwärtigen Dynamiken einer Renationalisierung erneut befeuert wird. Es geht, stets mit Blick auf die deutsche Gegenwart, einmal mehr um die für die Geschichte des ersten deutschen Nationalstaats, des Deutschen Reichs, zentrale Frage nach Kontinuität und Diskontinuität zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Der Versuch, ein kritisches Bild des Kaiserreichs zu entsorgen, es als 'normale Nation' darzustellen, wird einfacher, wenn man das Kaiserreich einschließlich seiner Eliten und seiner herrschenden Dynastie abtrennt vom Nationalsozialismus."