Vom Nachttisch geräumt

Lauter süße Babys

Von Arno Widmann
17.08.2017. Setzt schamlos - und erfolgreich - auf den Niedlichkeitsfaktor von Babys: Anne Geddes' "Small World".
Selbstverständlich ist das Kitsch. Ach wie niedlich, soll der Betrachter rufen. Aber bevor er es ruft, ja, bevor er es denkt, soll er es fühlen. Er tut es. Er springt darauf an. Die Fotos von Anne Geddes sind Welterfolge. Sie sind Weltkunst. 1991 gründete sie zusammen mit ihrem Mann die Firma "Next Generation Enterprises Ltd.". Die verbreitet die Produkte der 1956 in Australien geborenen, heute in Neuseeland lebenden Künstlerin in fünfzig Ländern überall auf der Welt. Sie ist ganz sicher eine der erfolgreichsten Künstlerinnen der Gegenwart. Bitte werfen Sie einen Blick auf ihre Website.

Der Taschen Verlag hat jetzt in einem wie gewohnt prächtigen Band auf 238 Seiten mehr als 170 Fotos von Anne Geddes versammelt. Es ist der umfangreichste Überblick über ihr Werk "Small World". Er macht klar, wie wenig mit dem Wort "Kitsch" gewonnen ist. Jede einzelne Aufnahme kitzelt den Entzückungsnerv. Ich reagiere schon allergisch, wenn man mir Familienfotos zeigt mit den hübschen Enkeln oder Urenkeln. Natürlich sind die Kerlchen hübsch. Glatte Haut, alles auf Anfang! Ich weiß aber doch, dass die kleinen Monster sind. Polymorphpervers sind sie und große Philosophen und Empiriker dazu. Und schlau genug, sich süß und niedlich zu geben. Kitsch ist der Verzicht auf die Gegenseite.



Na und? Anne Geddes bettet ihre Babys in Blütenkelche und in die Arme von Teddybären. Sie gibt ihnen Flügel aus bemaltem Transparentpapier und bettet sie auf einen alten Ast. Da liegen sie als schlafende Schmetterlinge. Ich muss gestehen, je mehr ich in dem Band blättere, desto begeisterter bin ich über jede neue Variante. Keine ist unkitschig, aber alles zusammen macht deutlich: Der Kitsch ist ein eigener Kosmos und man kann in ihm Tausende Variationen entdecken oder, wie Anne Geddes es tut, erfinden. Witzig sind sie alle. Und so begeistert wir sind, wir sind es immer mehr nicht nur über die einzelne Aufnahme, sondern immer mehr auch über den Einfallsreichtum der Künstlerin, über die Lust, mit der sie immer neue Environments schafft, in denen die kleinen Wesen immer neue Entfaltungsmöglichkeiten zeigen können.

Es sind immer Babys. Also immer dasselbe. Nein, das eine liegt schlafend auf dem Rücken eines Seepferdchens, andere sind Sonnenblumen unter anderen Sonnenblumen. Daneben gibt es Schwarz-Weiß-Fotos, mit nichts als einem gähnenden Gesicht auf schwarzer Fläche oder einem kleinen Glatzkopf in einer ihn tragenden Hand. Die Abwechslung, die uns vergnügt, ist die der Differenzierung in einem Thema, nicht der Wechsel desselben. Wenn Seite nach Seite man immer wieder verblüfft wird mit stets dem Gleichen in immer neuen Konstellationen, dann bekommt man eine Ahnung davon, was Kreativität ist. Sie scheint die Begabung zu sein, nicht in immer neue Themen fliehen zu müssen, sondern immer neue Variationen desselben sich ausdenken zu können. Die Kunst der Fuge.


(Alle Fotos von Anne Geddes)

Ich stelle mir ein Team vor, eine Fabrik gewissermaßen, die sich ständig neue Babys in immer neuen Situationen vorstellt, die die Herbstblätter organisiert, die Blüten, die Muscheln, Mousselinstoffe, die Anemonen. Die Eicheln müssen ja nicht nur organisiert werden, sondern die Babys müssen auch so fotografiert werden, dass sie aufs Anmutigste aus ihnen hinausgucken können. Wie viel Arbeit erfordert es, eine Qualle so zu fotografieren, dass man die Fotografie eines schlafenden Babys in sie hineinbugsieren kann? Wer macht da alles mit? Wie lang ist der Weg von einem Einfall bis zur Realisierung? Und dann die Mütter! Die Aufnahmen, die sie zeigen mit ihren Kindern. Mal im Bauch, mal außerhalb.

Der Alte spinnt, höre ich manchen Leser sagen. Vielleicht stimmt es. Aber seien Sie vorsichtig: Wehe, Sie betrachten den Band. Sie werden auch ins Spinnen kommen.

Anne Geddes, Small World, Taschen, Köln 2017, 238 Seiten, mehr als 170 meist farbige Abbildungen, 49,99 Euro
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