Im Kino

Zirpen, Kreischen, Rauschen

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel, Jochen Werner
27.11.2019. Sydney Pollacks Dokumentation "Amazing Grace" zieht alle Register des Gospels: Inbrunst, Spiritualität, Freiheit und Freude. Mehr Seance als Film. Das Berliner "Around the World in 14 Films" Festival zeigt mit Kleber Mendonca Filhos und Juliano Dornelles "Bacurau" und Maya Da-Rins "The Fever" zwei Filme über die Wut in Brasilien nach der Wahl Jair Bolsonaros.

In seinen "Histoire(s) du cinéma" vermerkt Jean-Luc Godard, dass die größten Filme immer die seien, die niemals realisiert wurden. Die 1972 von Sydney Pollack gedrehte Dokumentation der Aufnahme von Aretha Franklins erfolgreichstem Album "Amazing Grace" straft ihn keineswegs Lügen. Mehr eine Séance als ein Film evozieren diese Filmbilder ein intensives Spektrum der Gospelmusik: Inbrunst, Spiritualität, Freiheit, Freude und eine emotionale Verinnerlichung von Glauben und Identität. Die Musik überträgt sich gerade aufgrund der holprigen Schnitte und direkten Kamera nahtlos in den Film.

Aufgrund technischer Schlampereien von Pollack schien das Material lange Zeit unbrauchbar. Er und seine Crew hatten schlicht auf die Verwendung einer Filmklappe in der New Temple Baptist Mission Church in Los Angeles verzichtet. Dort nahm Franklin zusammen mit einem illustren Kreis an Musikern rund um Reverend James Cleveland und dem Southern California Community Choir ihre hingebungsvolle Verbeugung vor der Musik ihrer Kindheit und Jugend auf. Die Folge waren dutzende Anfänge, kaum zu synchronisierendes, unzusammenhängendes Material. Erst dank neuer technischer Möglichkeiten und einem immensen Arbeitsaufwand des Franklin-Verehrers und Produzenten Alan Elliott samt Team wurde aus dem Chaos ein notwendiges Stück Musikgeschichte.

Wie oft in diesen Geschichten um verloren geglaubtes Kulturgut war das Erscheinen einer erstaunlich in sich gekehrten, meist von glänzendem Schweiß bedeckten Franklin eine mühsame Irrfahrt. Lange Zeit blockierte gar die Musikerin selbst einen Release. Es gibt zumindest im fertigen Produkt keinen Hinweis auf mögliche Gründe. Nun ist "Amazing Grace" mit einer Verspätung auf die Leinwand gekommen, die dem Film eine ganz neue Kraft gibt. Ähnlich wie im Fall von Manoel De Oliveiras "Visita ou Memórias e Confissões", der 1982 gedreht wurde und 2015 nach Ableben des Filmemachers seinen Weg auf die Leinwand fand, trägt diese Wiederauferstehung eines archivierten Materials eine melancholische Kraft in sich. Die Spielarten des Direct Cinema, Look, Ton und, ja, Unschuld des Projekts erinnern an ein Kino, das einst war.


Das Gleiche ließe sich natürlich über die Musik sagen, die eine Hauptrolle im Film einnimmt. Songs wie "How I Got Over", "What a Friend We Have in Jesus" oder der titelgebende "Amazing Grace" tragen eine wundersame, zutiefst berührende Kraft in sich. Dass Franklin eine Kirche für ein Live-Recording wählte, war kein Zufall. Zum Wesen des Black Gospels gehört die Performance. Kein Lied wird nach strenger Notenvorgabe gespielt, vielmehr werden die Lieder verkörpert. Zwischenrufe, Dialoge mit den Besuchern der Messe, Tränen und Ausbrüche von Freude inklusive. In dieser Hinsicht passt der wilde Ansatz des Drehs natürlich zum Wesen der Musik. Wie in der legendären Gospel-Dokumentation "Say Amen, Somebody" leben die Bilder im Moment, der Film vergisst, dass er gemacht wird.

Neben einem musikalischen Rausch zeigt der Film auch ein soziales Ereignis. Nicht nur Mick Jagger und Charlie Watts tauchen plötzlich im Publikum auf (beide waren in diesen Tagen in Los Angeles für die Aufnahme von "Exile on Main Street"), sondern auch Legenden des Gospels wie Clara Ward oder Franklins Vater, Reverend CL Franklin. James Cleveland führt mit unnachahmlichem Charisma durch das Programm, während Franklin selbst fast kein Wort spricht. Zunächst wirkt sie wie an einem anderen Ort, doch nach und nach wird klar, dass sie alle emotionalen Schleusen in ihren stimmlichen Ausdruck geführt hat. Durch den beständigen Austausch zwischen der Musik und jenen, die sie verkörpern, den Menschen im Saal und dem Rhythmus, der sie aus demselben hinausträgt, entsteht ein beinahe utopisches Bild von kollektiver Erfahrung. Dass man so einen Film im Kino sehen muss, erklärt sich von selbst.

Patrick Holzapfel

Amazing Grace - USA 2018 - Regie: Sydney Pollack, Alan Elliott - Laufzeit: 89 Minuten.

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Die politische Situation in Brasilien ist, seit der Rechtspopulist Jair Bolsonaro zu Jahresbeginn die Regierung übernahm, insbesondere für die indigenen und queeren Communities des Landes nicht nur schwierig, sondern unmittelbar existenzbedrohend. Von diesen existenziellen Erschütterungen im Rahmen ohnehin prekärer Lebenssituationen erzählen zwei sehr unterschiedliche brasilianische Filme, die im Rahmen eines Themenschwerpunkts zum brasilianischen Kino im Programm des Festivals "Around the World in 14 Films" zu sehen sind.

Zunächst ist da "Bacurau" von Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles, einer der Publikumslieblinge der diesjährigen Auswahl und ein Film, der seine Wut nicht versteckt, sondern sie vielmehr zum Strukturprinzip erhebt. "Bacurau" beginnt mit einem Begräbnis: Die Dorfälteste des titelgebenden Dorfes ist im Alter von 94 Jahren verstorben, und gemeinsam mit ihrer Nichte Teresa betreten wir Bacurau zwar mit dem Blick einer Außenstehenden, aber auch mit deutlich erhöhter Bereitschaft zur suspension of disbelief. Denn die ist in dem wilden, fast zweieinhalbstündigen Genrepastiche zwingend vonnöten.

Bald schon dringen immer mehr fantastische Elemente in die nur anfangs scheinethnografisch angehauchten Impressionen der Dorfgemeinschaft ein: Wasser quillt aus dem Sarg der Verstorbenen und spiegelt das Motiv des ob blockierter Wasserversorgung dürstenden Dorfes, das nach dem Tod seiner Matriarchin buchstäblich von den Landkarten verschwindet. Eine ufoartige Überwachungsdrohne überfliegt das zunehmend absurde Geschehen, und zwei neonbunt gekleidete Biker in mörderischer Mission tauchen auf.


Endgültig kippt der Film in der zweiten Hälfte in eine grelle Groteske, wenn die Perspektive zu einem Trüppchen von Menschenjägern unter der Führung des seine komplette Rollengeschichte herbeichargierenden Udo Kier wechselt. Zum Privatvergnügen und zur Libidosteigerung macht dieser karikaturistisch überzeichnete Killertrupp Jagd auf die Bewohner von Bacurau - und wird dabei vom korrupten Lokalpolitiker Tony Junior, der gern mal, wenn es an die Wiederwahl geht, eine Lastwagenladung zerfledderter Bücher für die örtliche Bibliothek auf den Dorfplatz kippt, wohlwollend ignoriert. Jedoch haben sie die Rechnung ohne die Gewaltbereitschaft der Einwohner gemacht, die "Bacurau" im Finale in eine splattrige Rache- und Ermächtigungsfantasie auf den Spuren der jüngsten Filme von Quentin Tarantino hineindelirieren lässt.

Wer mit dem bisherigen Œuvre von Kleber Mendonça Filho vertraut ist, der wird vom Tonfall von "Bacurau" zunächst einmal überrascht sein. Oder eher: den Tonfällen, denn das vordringlichste stilistische Merkmal des Films ist, dass er in alle Richtungen auseinanderfällt. Das ist ganz sicher nicht einem Mangel an handwerklicher Versiertheit im Umgang mit dem disparaten Material geschuldet, sondern offensichtlich anarchische Methode. "Bacurau" ist in erster Linie als ein aktivistischer Film zu lesen, dessen comichafte Überzeichnung und finale Gewalteskalation den möglichst direkten Ausdruck politischer Wut anstreben. Der Preis, den Mendonça Filho für diese Annäherung an den Agitprop zu zahlen hat, ist die Subtilität und Eleganz, die seinen nicht weniger politischen Sozialstudien "Neighboring Sounds" und "Aquarius" eingeschrieben sind - ein Preis, den er und Co-Regisseur Dornelles wohlwissend und bereitwillig zu entrichten bereit sind.


Am entgegengesetzten Ende des ästhetischen Spektrums steht mit "The Fever", dem Spielfilmdebüt der Dokumentaristin Maya Da-Rin, ein weiterer Beitrag des Brasilienschwerpunkts. Dabei ist auch dies ein Film, der von Wut geprägt ist - aber anders als in "Bacurau" handelt es sich in Da-Rins Film um eine stille Wut, die aus den Ritzen zwischen den hypnotischen Klangbildern zu kriechen und manchmal auch wieder darin zu verschwinden scheint. Eine Wut, die so unscheinbar und auf leisen Sohlen daherkommt, das man sie nur allzu leicht übersehen könnte.

Darin ähnelt sie Justinos, dem indigenen Protagonisten von "The Fever", der als Wachmann am Hafen von Manaus arbeitet und seit dem Tod seiner Frau allein mit seiner Tochter Vanessa lebt. Als diese ihm eröffnet, dass sie in Brasília ein Studium beginnen und ihn allein zurücklassen wird, wird Justinos von einem mysteriösen Fieber befallen, dessen Ursachen im Dunkeln bleiben - wie so vieles in diesem hypnotischen, enigmatischen Film, der sich vornehmlich in Zwischenräumen und Zwischenzuständen abzuspielen scheint.


Die Essenz kommt im Keim bereits im allerersten Bild zum Ausdruck, das Justinos mit geschlossenen Augen, vielleicht träumend, vor der strengen Symmetrie der Frachtcontainer des Hafens platziert - an- und doch abwesend, den Blick ins Innere oder auf gar nichts gerichtet. Zu hören sind zu diesem Bild, das von Industrie, Arbeit und Entfremdung sprechen könnte, Myriaden Geräusche des Dschungels: ein zentraler, den Film bis zum Schluss strukturierender Kunstgriff, der nie restlos in einem bloßen Dualismus von Natur und Stadt aufgeht, auch wenn spätestens der Besuch eines Verwandten Justinos Sehnsucht nach seinen Ursprüngen offenbar werden lässt. Aber da ist ja noch das Fieber, und die mysteriöse Bestie, die in der ärmlichen Siedlung am Stadtrand, in der Justinos und Vanessa leben, Vieh reißt.

Den Dschungel, dessen hypnotische Klangkulisse den Film nicht nur rhythmisiert, sondern inhaltlich zusammenhält, bekommen wir freilich kaum einmal zu sehen - allenfalls sehen wir Justinos am offenen Filmende in ihm verschwinden, sei es im Fiebertraum oder in der Realität der Filmerzählung. Eher ist er etwas, was immer da ist, nie weg war, in alles einsickert. Sehnsuchtsort und Fluchtpunkt, aber auch ein innerster Kern, der sich konsequent der Lesbarkeit und unseren Blicken entzieht. Von der agitatorisch-expressiven Wut eines "Bacurau" könnte das nach Innen gewandte, mit hypnotischer Allgegenwart die eigene Präsenz behauptende Zirpen, Kreischen, Rauschen von "The Fever" kaum weiter entfernt sein. Und doch, oder gerade deshalb, trifft es umso tiefer.

Jochen Werner

Bacurau - Regie: Juliano Dornelles, Kleber Mendonça Filho - Darsteller: Bárbara Colen, Thomas Aquino, Silvero Pereira, Thardelly Lima, Udo Kier - Laufzeit: 131 Minuten.

The Fever - Brasilien 2019 - Regie: Maya Da-Rin - Darsteller: Regis Myrupu, Rosa Peixoto, Suzy Lopes, Lourinelson Vladimir - Laufzeit: 98 Minuten.

"Bacurau" und "The Fever" von Maya Da-Rin waren im Rahmen des 14. Around the World in 14 Films Festivals in Berlin zu sehen. Beide Filme haben bisher keinen deutschen Verleih.