Efeu - Die Kulturrundschau

Traumhaft synchron

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17.11.2017. "Obszön" finden die Feuilletons das 450 Millionen Dollar Gebot für den da Vinci, der möglicherweise nicht mal aus der Hand des Künstlers stammt. Die Kritiker sind sich uneins: Ist Morrissey ein Apologet des Rechtspopulismus oder nur eine eitle Protestdiva? In der Nachtkritik erzählt Thomas Ostermeier, dass den SchauspielerInnen an der Schaubühne das Mitbestimmungsrecht zu wenig Sex-Appeal hatte. Und der Tagesspiegel blickt mit Barbara Wolffs Fotografien auf beide Seiten der Mauer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.11.2017 finden Sie hier

Kunst

Leonardo da Vinci, "Salvatore Mundi", um 1500.

Im Jahr 1958 noch für 45 britische Pfund versteigert, ist das Gemälde "Salvator Mundi" mit einem Rekordpreis von 450 Millionen Dollar - nicht zuletzt dank einer aufwändigen Werbekampagne durch Christie's - nun von einen anonymen Telefonbieter ersteigert worden. Dabei ist zweifelhaft, ob es überhaupt von Leonardo da Vinci stammt oder ob es sich um eine Werkstattarbeit handelt, wie Kia Vahland in der SZ weiß. Aber: "Nicht ums Schnäppchenmachen geht es bei diesem Spiel, sondern ums Prassen. Denn was teuer ist, das muss gut sein. Und echt. Ein originales, ein großes Werk des Meisters der Meister. Das kriegt man nicht für 80 oder 100 Millionen. Das kriegt man nur für einen Irrsinnspreis, der zweierlei beweist: Der Käufer kann es sich leisten, weil er oder sie reicher ist als alle anderen. Und: Das Bild ist wirklich das, als das es in einer stupenden Werbekampagne des Auktionshauses angekündigt worden ist. Eine männliche Mona Lisa. Der Heiland quasi persönlich."

Im Zeit-Interview mit Jana Weiss findet der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich den Kauf "skandalös". Es gehe "darum, dass jemand durch eine irrationale Geldausgabe maximale Aufmerksamkeit erzielen will. Hier geht es um das Spektakel. Indem er sich auf eine aggressiv-obszöne Weise seines Vermögens entledigt, vollzieht der Käufer eine Machtgeste und demonstriert all denen, die weniger oder gar kein Geld haben, seine Überlegenheit." In der FAZ muss Rose Maria Gropp darüber schmunzeln, dass das Gemälde von Christie's in der Abendauktion für "Postwar and Contemporary Art" platziert wurde: "Das Ar­gu­ment da­für ging in die Rich­tung, dass ein Leonar­do von zeit­lo­ser An­mut sei, al­so ge­wis­ser­ma­ßen all­zeit ge­gen­wär­tig." In der Welt ist Hannes Stein, der bei der Auktion live dabei war, noch ganz konsterniert vom "Stöhnen" der Anwesenden nach jedem neuen Gebot: "Es war beinahe so, dass man sich schämte, denn eigentlich möchte man bei solch privaten Momenten ja nicht anwesend sein. Hinterher wurde jedes Mal sanft applaudiert." Und im Tagesspiegel kommentiert Christian Schröder: "Historisch ist der Moment vor allem, weil er den Sieg des Marketings über die Expertise dokumentiert."

Foto: © Barbara Wolff

Von "Sehnsucht, Fernweh und Melancholie" wird Simone Reber im Tagesspiegel beim Betrachten der Fotografien von Barbara Wolff ergriffen, die der derzeit in der Collection Regard zu sehen sind: "Schon neun Monate vor ihrer Ausreise 1985 schickt sie ihre Bilder in einzelnen Päckchen an Verwandte nach Göttingen. So ist auch die Serie vom Brandenburger Tor erhalten geblieben. Da lehnen Ost-Berliner am Grenzzaun und schauen Richtung Siegessäule. Später fotografiert Barbara Wolff die gleiche Situation aus anderer Perspektive. In West-Berlin schaut sie mit der Kamera von unten durch das Stahlgitter einer Aussichtsplattform an der Mauer. Sie sieht Schuhe, Hosenbeine, seltsame verfremdete Körper, die in eine Richtung gewandt sind."

Weiteres: In der NZZ vermisst Marc Zitzmann den "großen Wurf" zum hundertsten Todestag von Auguste Rodin. In der FAZ hat sich Susanne Klingenstein die Ausstellung "Henry James and American Painting" im Isabella Stewart Gardner Museum in Boston angesehen: "Es geht in die­ser Aus­stel­lung von Bil­dern, Brie­fen, Bü­chern und Fo­tos nicht um amerikanische Ma­le­rei, son­dern um das Le­bens­ge­fühl ei­ner klei­nen rei­chen Klas­se an der Ost­küs­te, die nichts in­ten­si­ver ver­ehr­te als das al­te Eu­ro­pe und ge­ra­de des­halb an­ge­wi­dert war von sei­nem Ver­fall: Schmutz, Bettler, Ar­bei­ter, Aggressi­on."
Archiv: Kunst

Film

Für immerhin interessant daneben gegangen hält Dietmar Dath die neue Netflix-Serie "The Punisher", mit der der Internet-Bezahlfernsehsender den düstersten aller Superhelden in den Mittelpunkt rückt: Der Titelheld ist ein brutaler Selbstjustiz-Aktivist, dem gegenüber selbst ein Dirty Harry wie ein zurückhaltender Streifenpolizist wirkt. Die Figur, schreibt Dath in der FAZ, "ist faschis­to­id ver­rückt ge­wor­den nicht aus Res­sen­ti­ment, son­dern aus Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit. Die pa­ra­do­xe Idee der Show scheint zu sein, dass man beim Zu­schau­en selbst Ori­en­tie­rung ge­winnt, wenn man die­sem Ori­en­tie­rungs­lo­sen beim Durch­dre­hen zu­schaut."

Weiteres: In der taz berichtet Carolin Weidner von der Duisburger Filmwoche. Susanne Ostwald gratuliert Martin Scorsese in der NZZ zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden Greg Zglinskis "Tiere" (Standard), Ali Soozandehs Animationsfilm "Teheran Tabu" (Tagesspiegel), Ai Weiweis Flüchtlings-Dokumentarfilm "Human Flow" (Berliner Zeitung), Jan-Henrik Stahlbergs "Fikkefuchs" (Tagesspiegel) und Zack Snyders neuer Superheldenfilm "Justice League" (FR).
Archiv: Film

Literatur

Jan C. Behmann spricht im Freitag mit Schriftsteller Nicol Ljubić über die Arbeiten an dessen neuem Roman über den Aktivisten Hartmut Gründler, der sich vor 40 Jahren aus Protest gegen die Atompolitik selbst verbrannte: "Ich habe mich dem Menschen Gründler verpflichtet gefühlt, was mir das Schreiben aber sehr schwer gemacht hat, weil ich mich auch verantwortlich fühlte für Gründler. Es wurde umso freier, je mehr ich mich der Familiengeschichte widmete. ... Wilfried Hüfler war für mich der Schlüssel für diesen Roman. Er war ein Weggefährte von Gründler, der mir sehr geholfen hat und mir den Zugang zu allen möglichen Materialien, Flugblättern, Briefen, Artikeln, verschafft hat. Er war quasi ein inoffizieller Biograf Gründlers und viel von ihm steckt in der fiktionalen Mutterfigur." Der SWR bringt am 21. November ein Radiofeature über die Entstehungsgeschichte des Romans.

Weiteres: Uli Kreikebaum porträtiert in der FR den Sammler und Verleger Thomas B. Schumann, der sich auf Bücher verfolgter Autoren spezialisiert hat. Der Tagesspiegel dokumentiert die Jurybegründung zur Vergabe des Deutschen Comicbuchpreises, der in diesem Jahr an Thomas Pletzinger (Text) und Tim Dinter (Illustration) für den noch unvollendeten Comic "Blåvand" geht.

Besprochen werden Juli Zehs "Leere Herzen" (FR), Durs Grünbeins Lyrikband "Zündkerzen" (NZZ), Judith Kellers Debüt "Die Fragwürdigen" (NZZ), Peter Handkes "Die Obstdiebin" (Zeit), Kaouther Adimis "Steine in meiner Hand" (NZZ), Liza Codys Krimi "Krokodile und edle Ziele" (Welt) und Emmanuelle Loyers Biografie über Claude Lévi-Strauss (SZ).
Archiv: Literatur

Musik

Sämtliche Streichquartette aus Beethovens Feder in der Reihenfolge ihres Entstehens, dargeboten vom Quatuor Danel, dazu großzügige Zugaben - das war der Leckerbissen, für den NZZ-Kritikerin Eleonore Büning sehr gerne zu den Badenweiler-Musiktagen gepilgert ist: "Selten hat man die Brüche und Widersprüche, die Beethoven (...) schon in seinem ersten Quartettzyklus riskiert, so deutlich hören können." Das Quartett "spielt allezeit die Strukturen heraus, mit starkem Strich. Sehr schnelle Tempi, annähernd diejenigen, die Beethoven sich gewünscht hatte, zeichnen diese kundige Beethoven-Lesart aus. Traumhaft synchron bilden Gilles Millet an der zweiten Violine und Violaspieler Vlad Bogdanas eine energiegeladene, symbiotische Mitte, der fabelhafte Cellist Yovan Markovitch, früher beim Ysaye-Quartett, bietet Marc Danel und dessen Neigung zu manieristischen Überpointierung allezeit Paroli."

Julian Dörr rechnet in der SZ ein für allemal ab mit Morrissey, der gerade sein elftes Soloalbum "Low In High School" herausgebracht und in Dörrs Augen längst das politische Lager gewechselt hat: Für ihn Morrissey schon lange ein "Apologet des Rechtspopulismus. Man höre sich nur den Einstieg in Morrisseys neues Album an: Schlachtentrommel, Kriegsgeheul. ... Morrissey erkennt nicht nur alle Lügen, er bietet auch Lösungen. Höhepunkt ist schließlich die Single 'Spent The Day In Bed'. Hier ruft Morrissey seinen Freunden zu: 'Hört auf, Nachrichten zu schauen! Die sollen euch nur Angst machen. Damit ihr euch klein und einsam fühlt. Und damit ihr eurem eigenen Verstand nicht mehr traut. Wer so argumentiert, der sitzt eigentlich schon neben Götz Kubitschek."

Christian Schachinger kann dem im Standard nur beipflichten: In der "gewohnt schweren Hausmannskost mit blutig gebratener Schweinerockgitarre" offenbart sich ihm ein "Wutbürger" vom Format einer "beleidigten Leberwurst" mit sehr offener Flanke rechts. Morrissey betätige sich diesmal "reichlich infantil in ewiger Selbstaufopferung am Altar seiner Eitelkeit." Eine bertächtliche Nummer kleiner formuliert es allerdings Pinky Rose in der Pop-Kolumne zum Wochenende auf ZeitOnline: Morrissey sei demnach lediglich eine "sich in Widersprüchen umtänzelnde Protestdiva."



Außerdem: In der taz porträtiert Diviam Hoffmann den britischen Musiker Benjamin Clementine. Holger Pauler berichtet in der NMZ vom Festival "Music Unlimited" im österreichischen Wels.

Besprochen werden Charlotte Gainsbourgs "Rest" (Pitchfork), Taylor Swifts "Reputation" (Spex), Pharoah Sanders' Berliner Konzert (Tagesspiegel), ein Auftritt des Klarinettisten Louis Sclavis (FR), ein Konzert von John Maus (taz), das Debütalbum von Paul Plut (Standard), Daniel Barenboims Geburtstagskonzert (FAZ) und das neue Album "Welcome" des Klangkünstlers F.S. Blumm (taz). Daraus ein herbstlich-schöner erster Eindruck:


Archiv: Musik

Bühne

Im Nachtkritik-Interview mit Simone Kaempf und Nikolaus Merck spricht Thomas Ostermeier über seine Erfahrungen an der Berliner Schaubühne, die Vorzüge des Ensemble-Theaters und weshalb die von ihm vor siebzehn Jahren eingeführte Einheitsgage und das Mitbestimmungsrecht für alle SchauspielerInnen scheiterte: "Gewerkschaftsarbeit, Parteiarbeit - politische Arbeit überhaupt - hatte keinen Sex Appeal mehr (wenn diese Arbeit überhaupt mal einen hatte). Wenn Du schon diese Mehrarbeit auf Dich nimmst, brauchst Du eine andere Aura als die eines spießigen Funktionärs. Du musst ja doch etwas davon haben, wenigstens, dass die Leute sagen: 'Wir lassen uns jetzt mal von Dir das Betriebsverfassungsgesetz erklären!' Möglicherweise ändert sich das gesellschaftliche Klima gerade wieder."

Weiteres: "Weit entfernt und seltsam konturlos" erscheint NZZ-Kritiker Peter Hagmann die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos Künstleroper "Ti vedo, ti sento, mi perdu" an der Mailänder Scala: "kein Wunder angesichts der Schreibweise eines Komponisten, der sich so nachhaltig des Leisen bedient, der in seiner Musik, dem Spätwerk Luigi Nonos folgend, dem Flüstern vielfältigste Nuancen abgewinnt und gerade daraus so eigenartige Spannung erzeugt." In der SZ erlebt Reinhard J. Brembeck hingegen eine "Traumzeitreise zwischen Antike, Moderne und Barock." In der taz gratuliert Katrin Bettina Müller dem Berliner Ensemble zum 125jährigen Bestehen. Über den "tiefschwarzen Humor" des vom Nature Theater of Oklahoma zusammen mit der slowenischen EnKnapGroup aufgestührten Tanzstückes "Pursuit of Happines" hat Nachtkritiker Reinhard Kriechbaum herzhaft gelacht: "Ein Abend, der überquillt vor Selbstironie. Die ist sonst nicht gerade die Stärke der Tanzszene." In der Berliner Zeitung verlebt Doris Meierhenrich hingegen einen "bierernsten Salonabend": "Zwei-Stunden-Kriegstheaterblödelei."
Archiv: Bühne