Efeu - Die Kulturrundschau

Triumph der drei alten Frauen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.04.2015. In der Paris Review erklärt der britische Knausgaard-Übersetzer Don Bartlett, warum er den Knausgaard-Sound mit dänischen Ohren hört. Die Berliner Theaterkritiker freuen sich schon auf politisches Gegenwartstheater beim Theatertreffen. In der Spex fragt HAU-Chefin Annemie Vanackere eben diese Kritiker anlässlich des Theaterstreits: Wo habt ihr eigentlich die letzten zwanzig Jahre gelebt? Der Freitag ist genervt vom halbwissenden Popkultur-Berlin. Die NZZ schickt einen ersten Bericht von der Mailänder Expo
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2015 finden Sie hier

Bühne

In der Spex unterhält sich Jennifer Beck mit HAU-Leiterin Annemie Vanackere über die neue Volksbühne und die Zukunft der Berliner Theater generell. Vanackere wurde gewissermaßen im Vorfeld schon von den Kritikern als künftige Konkurrentin Chris Dercons beschrieben, weil sie einem Haus ohne festes Ensemble vorsteht. Doch die ganze Diskussion um Ensemble- versus Projekt-Theater findet sie absurd: "In Deutschland haben sich bestimmte, neue Erzählweisen, damit meine ich über die Sprachen hinaus auch Bilder und Musik, aus einer Unzufriedenheit mit dem Stadttheater heraus entwickelt - Gruppen wie She She Pop, Gob Squad oder Rimini Protokoll beispielsweise. Aber diese Gruppen existieren nun schon seit 20 Jahren und sie haben sich genauso lange schon die Freiheit genommen, sehr selbstbestimmt als Kollektiv zu arbeiten, ihre eigenen Stoffe zu entwickeln."

Morgen beginnt das Theatertreffen in Berlin. Beim Durchblättern des Programms (aber auch der Spielpläne der vergangenen Saison) stellt eine erfreute Christine Wahl im Tagesspiegel fest, wie politisch das Gegenwartstheater insbesondere in diesem an uraufgeführten Stücken besonders reichen Jahrgang wieder geworden ist: "Gut möglich, dass der globale Krisen-Status-quo verstärkt (dramatische) Existenzen hervorbringt, für die das Private notgedrungen auf eine unmittelbarere Art politisch ist, als ihnen lieb sein kann. Jedenfalls haben derzeit nicht nur dokumentarische Rechercheprojekte Konjunktur. ... Flüchtlingsdramen, der NSU oder realkapitalistische Systemanalysen [stehen] auf der Agenda der Stückeschreiber."

Dieser Beobachtung kann Katrin Bettina Müller in der taz nur beipflichten: Elfriede Jelineks Flüchtlingsdrama "Die Schutzbefohlenen" (mit dessen Regisseur Nicolas Stemann sich Patrick Wildermann im Tagesspiegel unterhält) und Yael Ronens Inszenierung "Common Ground" sind ihrer Ansicht nach beide nicht nur ungeheuer sehenswert, sondern "zeichnen auch unterschiedliche Bilder von dem, was Gesellschaft in Zeiten der Migration sein kann. Und stellen damit die Frage, wer wir sein wollen."

Außerdem: Patrick Wildermann (Tagesspiegel) freut sich, dass der Stückemarkt des Theatertreffens wieder zu seinen Tugenden zurückgefunden hat: "Er wirkt nicht mehr so zerquält um Zeitgenossenschaft und Mode bemüht. Vielleicht auch, weil sich viele Debatten (...) inzwischen leergelaufen haben. Es darf jetzt wieder um gute Texte gehen." Im Tagesspiegel porträtiert Christine Wahl die Schauspielerin Stefanie Reinsperger.

Jochen Werner kramt ein rüschiges weißes Frackhemd aus dem Schrank und macht sich auf zur langen Performance-Nacht der Zero-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau: "Monochrome Menschen tun monochrome Dinge", erklärt er im Berliner Festspiele Blog. "Manche dieser Dinge sind entweder sehr laut oder sehr leise. Die lauten Dinge sind raumgreifend, auf eindrucksvolle - und manchmal gar doppeldeutige - Weise: So eine ziemlich unfassbare Schlagzeugperformance, in der der Percussionist Lukas Ligeti zunächst den Eindruck erweckt, über zirka sechs Arme verfügen zu können. Und dann die einzelnen Bestandteile seines Schlagzeugs immer weiter in den Raum des Lichthofs hinein verrückt, während er manisch zwischen diesen hin- und herläuft."



Das vorgezogene Wort zum Sonntag: Sehr allgemeine, grundlegende Gedanken über Theater und Gesellschaft macht sich Moritz Schuller im Tagesspiegel. Das Theater sei gesellschaftspolitisch und sozial längst abgehängt, weil wir alle nur noch Musik über mobile Endgerät hören, wie er glaubt: "Die Gesellschaft ist kein Theater mehr, sie hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen; umgekehrt ersetzt das Theater die Gemeinschaft nicht mehr." Außerdem rollt Peter von Becker (Tagesspiegel) nochmals die Urheberrechtsdebatte über Castorfs lose "Baal"-Adaption auf, die beim Theatertreffen per Gerichtsbeschluss letztmalig zu sehen sein wird. Das Provinztheater wird vom Theatertreffen sträflich übergangen, tadelt Martin Eich im Freitag.

Besprochen werden eine Frankfurter Aufführung der "Kinder des Olymp" (FR), Milo Raus am Residenztheater München aufgeführtes Stück "The Dark Ages" (Freitag), Lilja Ruprechts Münchner inszenierung von Albert Camus" "Caiigula" (SZ) und eine Ausstellung über den Theatermacher Tadeusz Kantor im Neuen Museum in Nürnberg (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Sehr billig findet es Jörg Augsburg im Freitag, Kulturstaatssekretär Tim Renner wegen dessen angeblicher Defizite im Bereich hochkultureller Bildung anzugehen. Soll man doch mal gucken, was er in der Popmusik macht, aus der er kommt. Doch damit ist Augsburg auch nicht zufrieden, wie er am Beispiel der großzügig von Berlin finanzierten Reihe "Pop-Kultur" erklärt, die sich vor allem gut aufs Sloganeering verstehe: "Es passt zu diesem halbwissenden Popkultur-Berlin, wie hier theoretisch spannende Diskussionsgrundlagen für einen griffigen Slogan kontextlos verwurstet werden. Was außerhalb der Konzerte wirklich verhandelt wird, dürfte kaum den Boden des angestammten "Lasst uns mal irgendwas Kreatives" machen verlassen, der zum enormen Nervfaktor von Berlin maßgeblich beigetragen hat."

Weitere Artikel: Die Welt sammelt zum Maifeiertag die schönsten proletarischen Hymnen: Von Donna Summers "Working The Midnight Shift" bis zu Ernst Buschs "Der heimliche Aufmarsch". Der Freitag übernimmt ein Guardian-Gespräch zwischen Iggy Pop und Jarvis Cocker, Sänger von Pulp, die nun beide bei der BBC Platten auflegen. Auf The Quietus stellt Gary Suarez neue Hiphop-Mixtapes vor. Tristan Bath (The Quietus) resümiert das Resonate Festival in Belgrad. Die FAZ hat ihr Interview mit Juliette Gréco online nachgereicht. Die Zeit hat Moritz von Uslars Geschichte über seinen Spaziergang im Volkspark Friedrichshain mit Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow aus der vorletzten Ausgabe online nachgereicht. Martin Meyer schreibt eine kleine Eloge auf Peter Hagmann, der nach 30 Jahren als Musikkritiker der NZZ zurückgetreten ist. Eleonore Büning freut sich in der FAZ über die großzügige Auslegung des Begriffs "Kammermusik", der den Tagen für neue Kammermusik in Witten zu Grunde liet: "Neue Kammermusik, meint [WDR-Redakteur] Vogt, bedeute übersetzt nichts weiter als "gut musizierte gute Musik"."

Besprochen werden ein Auftritt von Deichkind (Tagesspiegel), ein Konzert von Edita Gruberová (FR), das neue Album des Café Unterzucker (SZ) und ein Konzert der Sleaford Mods (FR).
Archiv: Musik

Architektur


Weizenfeld von Agnes Denes in Mailands Puerto Nuevo. Foto: Barbara Francoli

Erste Eindrücke von der Mailänder Expo, die morgen offiziell eröffnet wird, schickt Gabriele Detterer der NZZ: "Das Expo-Motto [Den Planeten ernähren] und Themenfelder wie Getreide, Obst, Reis, Gewürze legen nahe, dass die Design-, Finanz- und Mode-Metropole Mailand ihren grünen Daumen entdeckt. Doch hat Mailand wirklich Interesse an der agrarischen Landnutzung entwickelt? Im Wolkenkratzer-Viertel "Porta Nuova" sprießt seit neuestem ein Weizenfeld. Aber damals, 2008, nachdem sich Mailand die Expo 2015 gesichert hatte, unterließ es die Stadt, die Bodenqualität des Expogeländes zu überprüfen. Die den Event organisierende Expo-S.p.A. musste daraufhin viel Zeit für die Entsorgung der Altlasten und Bodenschäden des ehemaligen Industrieareals einplanen."

Etwas bedauerlich findet es Ophelia Abeler in der taz, dass Renzo Pianos Gebäude des Whitney-Museums in New York eines "zum Rausgucken, nicht zum Draufgucken" sei. Die SZ bringt eine Fotostrecke mit Innenaufnahmen aus dem NS-Dokumentationszentrum in München.
Archiv: Architektur

Literatur

In der Paris Review gibt es ein interessantes Interview mit Don Bartlett, dem englischen Knausgaard-Übersetzer. Bartlett ist Brite und hat zuerst Dänisch gelernt. Er höre den Knausgaard-Sound mit "dänischen Ohren", sagt er auch. Der Interviewer findet wiederum, dass die Übersetzung für amerikanische Ohren einen Hauch britisch klingt. Dazu Bartlett: "I have British English in my head, and that's what appears on paper. When Archipelago takes over for the American publication, they're faced with certain problems. Mum, football, pavement, motorway, pram, buggy are the sort of words that will crop up again and again and probably rankle with an American reader, so the Archipelago editor, Jill Schoolman, changes those to U.S. English. Otherwise she has a light touch and doesn't change too much, and that explains why you feel some Britishness in the U.S. version. I like what I have read of what she does. Again, it is a fine line she treads, and it may keep her awake at night."

Weitere Artikel: Ebenfalls in der Paris Review untersucht Ian MacDougall Knausgaards Vorliebe fürs Scheißen. Deutschland fehlt "der eine glaubwürdige Krimi-Dichter, der in Kontinuität die Geschichte des Landes ausleuchtet", beklagt sich Eva Erdmann im Freitag. Wulf Segebrecht (FAZ) gratuliert der Lyrikerin Ulla Hahn zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Bao Ninhs "Die Leiden des Krieges"(taz), Petros Markaris" Krimi "Zurück auf Start" (Freitag), ein Band mit den späten Erzählungen von Rudyard Kipling (FR), John Banvilles unter dem Pseudonym Benjamin Black verfasste Chandler-Hommage "Die Blonde mit den schwarzen Augen" (FR), Hedin Brús "Vater und Sohn unterwegs" (FR), John Williams" "Butcher"s Crossing" (Freitag), Jérôme Ferraris "Das Prinzip" über Werner Heisenberg (Zeit), Jochen Rauschs "Rache" (Freitag), die gesammelten Briefe von Hunter S. Thompson (Tagesspiegel) und Siri Hustvedts "Die gleißende Welt" (FAZ). Mehr um 14 Uhr in unserer Bücherschau.

In Tagtigall, der Lyrikkolumne des Perlentauchers, stellt Marie Luise Knott ein unfertiges, ohne Titel gebliebenes Gedicht von Ernst Jandl vor:

"ich gern hätten sterben
in mein muttern seinen arm
sein aber nur noch einigen knochen wahrscheinlichen
..."
Archiv: Literatur

Film



Die Filmkritik ärgert sich - mit Ausnahmen - gründlich über Annekatrin Hendels Porträtfilm über Rainer Werner Fassbinder. Nahezu unerträglich findet tazlerin Cristina Nord den Film: "All das, was der Boulevard zu Lebzeiten des Regisseurs kleffend von sich gab, wird hier repetiert, wenn auch in säuselndem Tonfall. ... Viel erfährt man über Fassbinders Liebesverhältnisse und deren Scheitern, über Steuerschulden, Aufputsch- und Beruhigungsmittel, so gut wie nichts über Ästhetik, Programm, Ideen, politische Positionierungen und die intensive Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte." Im Freitag geht Elena Meilicke "die ausgestellte Lockerheit und Hemdsärmeligkeit (...) auf die Nerven", zumal der Film sich Fassbinders Filmen reichlich naiv und auch ziemlich brav nähert. Auch Thomas Groh wundert sich im Perlentaucher über manche ästhetische Entscheidung - Rammstein als Fassbinder-Filme unterfütternder Soundtrack? - und hält den Film mitunter für "boulevardesk". Barbara Möller (Welt) hat sich dagegen prächtig unterhalten: "Ein Triumph der drei alten Frauen. Ein Triumph des Überlebens. Fassbinder ist tot, aber seine Heroinen sind noch da. Und wie. Hanna Schygulla, Irm Hermann, Margit Carstensen." Außerdem sprechen in der Welt Margit Carstensen und Irm Hermann über ihr kompliziertes Verhältnis zu Fassbinder.

Auf Filmlöwin unterhält sich Sophie Charlotte Rieger mit der ägyptischen Filmemacherin Amal Ramsis, die über ihre Tätigkeit als Regisseurin hinaus auch das Frauenfilmfestival in Kairo ins Leben gerufen hat. Dabei erfahren wir unter anderem auch, wie patent sie die Zensur in ihrem Heimatland zu umgehen versteht: "Wir haben ein großes Netzwerk von Freund_innen unseres Festival, die überall auf der Welt Filme zugeschickt bekommen und wiederum Menschen mitgeben, die nach Ägypten reisen. Wenn man_frau bedenkt, dass wir letztes Jahr 56 Filme gezeigt haben, kann man_frau sich vorstellen, wie kompliziert, aber gleichzeitig auch effektiv dieses Networking ist." Ein solches Schmuggeltalent wäre wohl auch in Hollywood vonnöten, könnte man nach einem Blick in die aktuelle L.A. Weekly meinen: Dort schreibt Jessica P. Ogilvie eine große Reportage darüber, wie Frauen systematisch ausgeschlossen werden.

Wer die Unruhen in Baltimore verstehen will, sollte zur in der Stadt angesiedeten HBO-Serie "The Wire" greifen, meint Meike Laaff in der taz: Denn "an den sozialen Katastrophen, auf die die Serie aufmerksam machen wollte, hat sich praktisch nichts geändert." Dazu passend: Ein Interview auf The Marshall Project mit David Simon, dem "Wire"-Mastermind, über die Ausschreitungen in Baltimore.

In Belgrad wurde das Filmtheater Zvezda besetzt, berichten Benjamin Renter und Aleksandra Miljkovic im Freitag: Dadurch wurde "ein neuer Ort für alternatives Kino geschaffen". Für den Tagesspiegel unterhält sich Jan Schulz-Ojala mit der Regisseurin Mia Hansen-Love über deren (hier besprochenen) House-Film "Eden".

Besprochen werden das Buch "Berlin wird feministisch - Das Beste, was von der 68er Bewegung blieb" der Filmemacherin Cristina Perincioli (taz), Marjane Satrapis "The Voices" (Perlentaucher, ZeitOnline, FAZ), Pierre Morels Actionthriller "The Gunman" mit Sean Penn (taz, SZ), Haro Senfts auf DVD veröffenlichter Film "Der sanfte Lauf" von 1967 (taz), die fünfte Staffel der Serie "Downtown Abbey" (Freitag), Helen Simons Dokumentarfilm "Nirgendland" (taz) und die Indien-Doku "An den Ufern der heiligen Flüsse" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Kunst


Isa Genzken, Schauspieler II, 2014: Courtesy Galerie Buchholz, Berlin, Köln, Hauser & Wirth, Zürich/London, David Zwirner, New York

Sehr hart geht Ulf Erdmann Ziegler (Perlentaucher) mit Isa Genzkens im MMK Frankfurt ausgestellten "New Works" ins Gericht: "Ihre Kunst hat keinen Charme, stellt nichts Relevantes dar, brilliert nicht durch Abstraktion und löst auch keinen Schock aus. Sie ist überflüssig wie ein Kropf. Ist es dies, was der Kunstmarkt an ihr ausagiert: ein Akt des Selbsthasses in grellsten Farben? "

Weiteres: In der SZ liefert Evelyn Vogel Hintergründe zu den Zukunftsplänen für das Münchner Maximiliansforum. Die SZ bringt eine Strecke mit Telefonfotografien aus einer italienischen Ausstellung.

Besprochen wird Peter Krauskopfs Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien in Berlin (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst