Efeu - Die Kulturrundschau

Die Pythia schweigt

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11.12.2021. Die FR würdigt die Musikalität des großen Romanciers Gustave Flaubert. Dass ein Handtuch ein ontologischer Zustand sein kann, lernt Amy Sillman (Artforum) vor den Zeichnungen Cézannes. Die taz empfiehlt die Netflixserie "Der Club", die vom Schicksal der Juden in der Türkei in den fünfziger Jahren erzählt. Die nachtkritik amüsiert sich am BE mit Goldonis "Der Diener zweier Herren" im Wilden Westen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.12.2021 finden Sie hier

Kunst

Paul Cézanne, Table de toilette avec essuie-mains et cuvette (Dressing Table with Towel and Basin), ca. 1880


Cézanne, sagt man, sei ein Genie gewesen. Aber was heißt das schon heute? Die Künstlerin Amy Sillman lernt es wieder im Moma, in einer Ausstellung mit Zeichnungen von Cezanne. Nach einigen Räumen "begann die Droge, die ich C nenne, zu wirken; die Welt wurde buchstäblich birnenförmig", erzählt sie im Artforum. "Ich fand mich vor dem Bild eines zerknitterten Geschirrtuchs auf einem Ständer wieder und sagte laut, zu niemandem im Besonderen, 'Oh, fuck', denn das Geschirrtuch hatte sich geschickt aus der Realität gelöst und mich mitgenommen. Es war kein Handtuch mehr, sondern ein ontologischer Zustand, eine durchlässige Schwingung, eine Singularität. ... C erklärte bekanntlich, dass es so etwas wie eine Linie nicht gibt, aber seine Welt besteht aus Linien - aus dicken, hartnäckigen Linien, die immer wieder abbrechen und neu beginnen, wie die Schalter auf der Platine eines Nervensystems, die ein und aus blinken. Das Erstaunlichste von allem war, dass C sich diese Situation der Abstraktion in seinem Körper, in seinen Fingerspitzen, ausgemalt hatte, obwohl es so etwas noch gar nicht gab. Es ging nur darum, da draußen zu sein und das, was er sah, so festzuhalten, dass er durch die Dinge hindurch und an ihnen vorbei in eine Welt des chaotischen Wandels sah, in der sich alles Feste wirklich in Luft auflöste."

Kehinde Wileys Porträt President Barack Obamas und Amy Sheralds Porträt von Michelle Obama,2018


Claus Leggewie besucht für die taz die Ausstellung "Black American Portraits" im Los Angeles County Museum of Arts, in der auch die Porträts der beiden Obamas zu sehen sind: "Hier ist vor allem der Kontext interessant. Das Museum, das seit Jahren afroamerikanische Kunst sammelt und präsentiert, stellt die lebensgroßen Porträts nämlich in eine Reihe mit 150 Gemälden, Fotografien, Skulpturen und Videoinstallationen von 100 ganz überwiegend nichtweißen Künstlern, die ausschließlich Afroamerikaner*innen zeigen. Diese 'Black American Portraits' nehmen eine dezidiert schwarze Perspektive ein und unterstreichen damit nicht nur, dass seit 1776 der erste nichtweiße Präsident die Vereinigten Staaten regiert und repräsentiert hat. Sie weisen auch darauf hin, dass sich die Rassendiskriminierung in und nach dem Ende seiner Amtszeit eher noch verschärft hat. Da Wileys Obama so bewusst an die Tradition der neuzeitlich europäischen Herrscherporträts anschließt, fragt sich, wie sich diese mit dem ausdrücklichen black gaze verträgt, der in den Nebenräumen vorherrscht."

Außerdem: Im Tagesspiegel empfiehlt Birgit Rieger zwei Ausstellungen des amerikanischen Light-and-Space-Pioniers Robert Irwin im Kraftwerk Berlin und in der Galerie Sprüth Magers.
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Literatur

Reduktion aufs Wesentliche: Gustave Flaubert

Die Feuilletons erinnern an Gustave Flaubert, der vor 200 Jahren geboren wurde. Er war ein Moderner, aber ein Moderner zugleich auch nicht, schreibt Arno Widmann in der FR. Flaubert "artikulierte den Anspruch, dass die Prosa ebenso strengen Auflagen sich zu beugen hätte wie die Lyrik. Die Wahl eines Adjektivs war kein weniger heikler Vorgang als die des richtigen Reimes. Die Musikalität eines Satzes, eines Absatzes, einer Erzählung ja eines Romans war ebenso wichtig wie die Story. Und angesichts der Menge der zu verarbeitenden Laute ungleich schwieriger zu erreichen als bei einem herkömmlichen Gedicht." Nur zu gerne hätte er "einmal einen Roman über Nichts" geschrieben, "einen Roman also, dessen Handlung keine Rolle spielt, der dafür von Metaphern, Klängen, Assoziationen, Strukturen lebt."

Jürgen Kaube versucht in der FAZ, Flauberts Stil der Knappheit und des Metaphernverzichts auf den Grund zu gehen. Solcherlei Strategien der Reduktion dienen "dem Zurückdrängen von Empfindungen, die dem Autor zugeschrieben werden könnten. Flaubert strebte eine kommentarlose Kunst an. Deshalb auch hat er die Möglichkeit ergriffen, beim Erzählen offen zu lassen, ob gerade der Autor spricht oder die Figur. Beides macht Unpersönlichkeit unmöglich, weil dann sowohl der Erzähler wie die Hauptfigur ein Darstellungsmonopol beanspruchen. Flaubert möchte dahinter zurück und wie eine Kamera, ein Objektiv für Dinge und Einstellungen, agieren."

Eine Kamera um sich dahinter zu verstecken? Jedenfalls "dient ihm die Kunst als Schutzschild gegen die Zumutungen der Wirklichkeit: seiner privaten, der gesellschaftlichen, der politischen", hält Gerrit Bartels im Tagesspiegel fest. "Gleichwohl bildet er diese Wirklichkeit präzise ab, nüchtern, so unpersönlich es geht - und macht sie mit seiner Prosa schöner, als sie ist, ohne ihr ihren wahren, mitunter deprimierenden Gehalt zu nehmen. Das ist der ewige Glamour des Realismus, als dessen Großmeister Flaubert gilt; die Geburt der literarischen Moderne." Paul Jandl skizziert in der NZZ Flaubert als Außenseiter seiner Zeit. Andrea Köhler liest für die NZZ nochmal Flauberts Julian-Legende. Thomas Steinfeld liest für die SZ Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet". Gustav Seibt erinnert in der SZ daran, wie Flaubert in seinen Briefen gegen den Deutsch-Französischen Krieg anschrieb.

Weiteres: Die FAZ dokumentiert Ines Geipels Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Marieluise-Fleißer-Preis. Besprochen werden unter anderem Émine Sevgi Özdamars "Ein von Schatten begrenzter Raum" (NZZ), Kim Stanley Robinsons "Das Ministerium für die Zukunft" (Freitag), Colson Whiteheads "Harlem Shuffle" (Standard), Alex Schulmans Debütroman "Die Überlebenden" (Tagesspiegel) und Miljenko Jergovićs "Der rote Jaguar" (FAZ).
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Film

"Der Club" zeigt das jüdische Leben im Istanbul der Fünfziger (Netflix)

Das Netflix-Melodram "Der Club" um die Protagonistin Matilda spielt in einem Istanbuler Nachtclub in den Fünfzigern. Es erregt in der Türkei großes Aufsehen, schreibt Ömer Erzeren in der taz, denn es erzählt die Geschichte der Juden und anderer Minderheiten in Istanbul kurz vor der Zeit, bevor sie endgültig aus dem Land getrieben oder unterdrückt wurden: "1942 ist ein Trauma in der Geschichte der Istanbuler Juden. In dieses Jahr fällt die Abweisung des jüdischen Flüchtlingsschiffes Struma in Istanbul, die mit dem Tod von fast 800 Menschen endete. 1942 tritt auch, begleitet von einer antisemitischen Hetzkampagne in den Medien, eine Vermögenssteuer in Kraft. Auch Matildas Familiengeschichte ist eng mit dieser Vermögenssteuer verknüpft. Faktisch ist die Vermögenssteuer ein Instrumentarium, die Reichen der religiösen Minderheiten zu enteignen und eine neue türkisch-muslimische Kapitalistenklasse zu schaffen. Es sind Juden, Armenier und Griechen, deren Existenzen durch horrende Besteuerung kaputtgemacht werden."

Roland Zag sorgt sich in einem kulturhistorisch unterfütterten Artechock-Essay um die "Kraft des Kollektiven", die dem Kino im Zeitalter zusehends individuierter Filmerlebnisse im Zuge von Digitalisierung und Corona abhanden zu kommen drohe: "Mit der Gleichzeitigkeit des Erlebens entfällt das Moment der gemeinsam geteilten Erschütterung bis hin zu einem veränderten Verständnis von Gesellschaft." Damit schwinde "auch die Idee, durch (Film)-Kunst so etwas wie 'Sinn' im altgriechischen Sinne zu erfahren. ... Die Vorstellung, dass sich eine imaginäre 'Polis' an gemeinsamen Erfahrungen vor dem heimischen Bildschirm orientiert, hat hier keinen Ort mehr. Das Schicksal hat in der digitalisierten Welt nichts mehr zu melden. Die Pythia schweigt."

Auf Artechock appelliert Rüdiger Suchsland an Claudia Roth, beim neuen Medienstaatsvertrag gegenüber den öffentlich-rechtlichen Sendern die Position des Films zu stärken. "Recht unverhohlen machen die Sender klar: Sie wollen raus aus den Kino-Coproduktionen", da sie am liebsten nur noch seichtes Programm für die eigenen Sendeschienen produzieren wollen. "Das darf man ihnen nicht durchgehen lassen. Denn es ist entgegen mancher Wünsche aus Macherkreisen keineswegs wünschenswert, wenn die Sender aus der Filmförderung rausgehen. Es handelt sich immerhin um öffentlich-rechtliche Sender, nicht um Privatsender" und "sie bekommen Gebührengeld nicht, um damit zu tun, was sie wollen, sondern um einen Programmauftrag zu erfüllen. Zu diesem gehört Kultur."

Weitere Artikel: Auf Artechock erzählt der Filmemacher Dirk Schäfer davon, wie es dazu kam, dass er in die Türkei ausgewandert ist. Daniela Herzberg widmet sich in der Langen Nacht des Dlf Kultur Hans Albers und seiner Ehefrau Hansi Burg, die als Jüdin von den Nazis verfolgt wurde. In der FAZ gratuliert Maria Wiesner der Schauspielerin Rita Moreno zum 90. Geburtstag. Nachrufe auf die italienische Filmemacherin Lina Wertmüller schreiben Barbara Schweizerhof (ZeitOnline), Josef Schnelle (Filmdienst) und Fabian Tietke (taz) - weitere Nachrufe in unserem gestrigen Efeu.

Besprochen werden Steven Spielbergs "West Side Story" ("sehr schön, sehr klassisch und komplett überflüssig", meint Rüdiger Suchsland auf Artechock, SZ, Filmdienst, mehr dazu hier), Joya Thomes "Lauras Stern" (Filmdienst, Artechock), Maryam Touzanis "Adam" (Filmdienst), die Serie "Dopesick" über die Opioidkrise in den USA (Freitag), Adam McKays auf Netflix gezeigte Komödie "Don't Look Up" mit Leonardo di Caprio, Jennifer Lawrence und Meryl Streep (SZ), Danielle Arbids "Simple Passion" nach einer Novelle von Annie Ernaux (Artechock), Paolo Sorrentinos "Die Hand Gottes" (Artechock), der auf Arte gezeigte Science-Fiction-Thriller "Das Haus" mit Tobias Moretti (FR) und das "Sex and the City"-Revival auf Sky (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus Goldonis "Diener zweier Herren" im Wilden Westen. Foto: JR/Berliner Ensemble


In Antú Romero Nunes' ausschließlich mit Frauen besetzter Inszenierung von Carlo Goldonis Komödie "Der Diener zweier Herren" wird nur Englisch gesprochen. Das Berliner Ensemble stiftet aber deutsche Übertitel, beruhigt nachtkritiker Christian Rakow, der einen lustigen Abend verspricht. Denn Nunes' hat den Commedia dell' Arte-Klassiker in den Wilden Westen verfrachtet: "Das alles sieht mitunter aus, als sei eine abgerockte Version der Waltons auf die Bretter am Schiffbauerdamm gehopst und verharre jetzt ein wenig in der Western-Pose. Bei Goldoni hat man sich ja noch verkleidet und den Diener auf Botengänge geschickt, damit Ehen geschmiedet werden. In kurzen Szenen, mit rasendem Takt. Nunes entschleunigt. Er zeigt eine mafiöse Farmer-Riege, die im Grunde in der Überzeichnung still gestellt ist. Inmitten der 'Quietlands', wie er das Setting nennt. Für Beckers Doppelrolle im Liebespaar Beatrice/Florindo (hier heißen sie Jolene March und Brody Brandson) gibt's darin ganz notwendig keine Auflösung und kein Happy Ending. Es gibt nur die obercoole Checker-Attitüde im XXL-Package." FAZ-Kritikerin Irene Bazinger hat sich zwar amüsiert, aber "diese Stückmigration hat ihren Preis", meint sie, "ihr Glanz bleibt kalt und erzwungen und oberflächlich - zu viel neue Welt für zu viel alten Stoff".

Im Tagesspiegel berichtet Kirsten Liese von den Verdi-Spielen in Mailand. Besprochen wird außerdem die Uraufführung von "Dea Ex Machina" durch das Gießener queerfeministische Performancekollektiv Swoosh Lieu im Frankfurter Mousonturm (nachtkritik, FR).
Archiv: Bühne

Musik

"Wieder mal ganz bezaubernd geworden" ist das Comeback-Album von Michael Hurley, schwärmt Detlef Diederichsen in der taz. Untergekommen ist der mittlerweile 80-jährige Folkmusiker, der in seinem Leben schon in vielen Szenen und Nischen Halt gemacht hat, nun in einem fest in der Indieszene verankerten Label. Woran liegt es, dass immer neue Musikzusammenhänge den Mann für sich entdecken? Er "ist kein Purist, er verletzt ständig die ungeschriebenen Gesetze all derer, die den Folksong zu einem regulierten Genre machen wollen. Er ist kein Virtuose, er vermengt unterschiedlichstes Material, verfährt mitleidslos mit gefundenen Objekten. ... Man könnte ihn als verspielt beschreiben, als kindlich-unbekümmert, aber er zieht eine große künstlerische Kraft daraus, die Form immer wieder neu zu testen, zu kitzeln, zu ärgern." Wir hören ins Album:



Außerdem: Karl Fluch schreibt im Standard zum Tod von Steve Bronski. Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Bassisten Robbie Shakespeare (weitere Nachrufe hier). Im Standard empfiehlt uns Christian Schachinger Rockdokus im Netz.

Besprochen werden das neue Album von Alicia Keyes ("ein warmes Milch-Honig-Bad gegen die Schuppen, die uns in zwei Jahren Wegtauchen gewachsen sind", schreibt Marlene Knobloch in der SZ), der gemeinsame Auftritt der lange verfeindeten Rapper Ye und Drake (SZ), ein Konzert der HR-Sinfoniker (FR), das neue Album des Zürcher Dancehall-Sängers Stereo Luchs (NZZ), das neue Nalan-Album "I'm Good. The Crying Tape" (Tsp), ein von Andris Nelsons dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tsp),  neue Aufnahmen von Weihnachtsmusik, darunter eine Praetorius-Aufnahme des Dresdner Kammerchors unter Hans-Christoph Rademann (FAZ), und der neue Albenzyklus von Arca (ZeitOnline, Pitchfork).

Archiv: Musik