Im Kino

Vor dem Trieb

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Lukas Foerster
04.01.2018. Nicht nach Freiheit, sondern nach Freizeit suchen die Hauptfiguren in Paolo Virzì entschieden zu nett geratenem Road Movie "The Leisure Seeker". David Ayer reichert in seinem netflix-Film "Bright" einen LA-Polizei-Noir mit fantastischen Elementen an, hat aber leider kein Gespür für B-Movie-Dynamik.


In der schönsten Szene des Films trällert das Protagonisten-Ehepaar Ella (Helen Mirren) und John Spencer (Donald Sutherland) Janis Joplins aus dem Autoradio ertönendes "Me and Bobby McGee" mit. Der Song über ein ziellos durch die USA driftendes junges Paar bildet eine der Folien, die der italienische Regisseur Paolo Virzì über seinen ersten US-amerikanischen Film legt: "Freedom's just another word for nothin' left to lose". Viel zu verlieren scheinen die Spencers tatsächlich nicht mehr zu haben. Deutlich sind sie am Ende ihres Weges angekommen. Auf sie wartet nur noch das Altersheim, dem sie sich zu entziehen versuchen, indem sie mit ihrem alten, klapprigen Wohnmobil auf eine Reise die Ostküste der USA hinab begeben, deren Ziel das Haus auf Key West ist, in dem Ernest Hemingway lebte, der Lieblingsautor des früheren Literaturprofessors John.

Gleich mit seiner ersten Einstellung, in der die Kamera einige Sekunden lang über den Asphalt einer Straße gleitet, will der Film das uramerikanische Freiheitsversprechen des Road Movies reaktivieren, dessen Fahrten durch die endlosen Weiten des Landes allerdings schon in seinen Hochzeiten im New Hollywood für die ProtagonistInnen oft genug im Grab oder im Knast endeten. Wie für Joplin, deren unbedingte, verzweifelte Suche nach Freiheit im viel zu frühen Tod mündete, schien auch im amerikanischen Kino der späten Sechziger und Siebziger Jahre jeder Aufbruch bereits den Keim der Desillusionierung in sich zu tragen. Schon der Originaltitel des Films, der heißt wie das Wohnmobil der Spencers: "The Leisure Seeker", deutet an, dass die Reise in diesem Fall nicht mit derselben Dringlichkeit unternommen wird. Gesucht wird nicht mehr Freiheit, sondern nur noch Freizeit.

Gerade angesichts des bisherigen Schaffen Virzìs, der in "Die süße Gier" (2013) allzu bemüht auf das große kapitalistische Ganze abzielte, könnte man es durchaus für eine gute Idee halten, wenn der Regisseur einfach mal ein paar Gänge runter schaltet. Dass ihm das nicht so recht gelingen will, zeigt sich schon in den ersten Minuten des Films, wenn er, es ist Herbst 2016, einen Trump-Wahlkampf-Truck lautstark durchs Bild fahren lässt. Dabei geht es nicht nur darum, seiner Geschichte einen größeren politischen Rahmen zu geben, sondern im Kontext eines Filmes über Menschen, die am Ende ihres Weges stehen, die nostalgische Verklärung der Vergangenheit kritisch zu hinterfragen. Schließlich ist auch das politische Projekt der "Neuen Rechten" im Allgemeinen und Trumps im Besonderen ein zutiefst nostalgisches, das angesichts einer immer weiter globalisierten Welt davon träumt, die Nation durch Abschottung und Rückbesinnung zu alter Größe zurückzuführen.



Es geht also nicht um das Leuchten der Erinnerung, das der wieder mal ziemlich bescheuerte deutsche Verleihtitel ankündigt, sondern eher darum, dass auch diese selbst vergänglich ist, was der Film dadurch unterstreicht, dass John (wobei das Wort konsequent vermieden wird) Alzheimer hat. Seine Erinnerungen verschwimmen und verknoten sich bis zu dem Punkt, dass er die eigene Frau nicht mehr erkennt und mit lange verflossenen Liebschaften verwechselt. Dem geistigen Verfall des Mannes steht der körperliche seiner Frau gegenüber, die Krebs im Endstadium hat. Wenn Virzì in einer Szene Ella ihren Mann waschen lässt, der sich eingepinkelt hat, dann ist es ihm daran gelegen, einen Blick auf seine ProtagonistInnen zu werfen, der ungeschönt, aber dennoch empathisch ist.

In den meisten Road-Movies machen die Menschen, denen die Hauptfiguren auf der Durchreise begegnen, einen entscheidenden Teil der Diegese aus. "Das Leuchten der Erinnerung" fängt da recht vielversprechend an. Eine Szene zu Beginn, in der John einer überfreundlichen Kellnerin überschwänglich von Hemingways Prosa vorschwärmt, wobei vollkommen unklar bleibt, ob sie sich das nur aus professioneller Höflichkeit oder doch aus persönlichem Interesse anhört, ist hübsch seltsam geraten. Leider hat man sich an solchen Momenten, in denen das Paar mit seiner Schrulligkeit und Dickköpfigkeit zum Sand im Getriebe der mit professioneller Freundlichkeit geölten amerikanischen Dienstleistungsmaschinerie wird, dann schnell satt gesehen.

Irgendwie ist der Film, in dem noch Straßenräuber, die nicht davor zurückschrecken, ein altes Ehepaar auszurauben, harmlos gezeichnete Witzfiguren sind, entschieden zu nett. Das mag symptomatisch dafür stehen, dass Virzìs Kino auch in Amerika den narrativen und ästhetischen Parametern einer langweiligen Vorstellung von Qualitätskino verhaftet bleibt.

Nicolai Bühnemann


The Leisure Seeker - Italien 2017 - Regie: Paolo Virzì - Darsteller: Donald Sutherland, Helen Mirren, Kirsty Mitchell, Janel Moloney - Laufzeit: 112 Minuten.

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Wenn "Bright" auch nur ein klein wenig besser wäre, hätte ich Lust, die von der Kritik mehrheitlich und zum Teil recht hysterisch gescholtene netflix-Produktion zu verteidigen. Denn immerhin ist das eine Fantasy-Großproduktion, in der es um etwas mehr geht als um die aktuellsten Verästelungen eines "cinematic universe", und die sich zumindest streckenweise um einen vergleichsweise erwachsenen Tonfall bemüht. Genauer gesagt unternimmt der Film den Versuch, einen Los-Angeles-Neo-Noir-Polizeifilm in der James-Ellroy-Tradition (Regisseur David Ayer hatte mit "Street Kings" 2008 ein Ellroy-Script verfilmt, leider ebenfalls mit bescheidenem Ergebnis) mithilfe von Fantasyelementen zu einem Rassismus-Kommentar auszubauen.

Praktisch sieht das so aus, dass der Polizist Daryl Ward (Will Smith) zu Beginn eine nervös vor seinem Haus herumflatternde CGI-Fee per Besenhieb erlegt. Sein bulliger, blauköpfiger Kollege Nick Jacoby (Joel Edgerton), zu dem er gleich anschließend ins Auto steigt, ist dann kein Mensch, sondern ein Ork. Und die bösen Jungs, mit denen es die beiden im Folgenden zu tun bekommen, gehören einem mysteriösen Elfen-Orden an. Man merkt recht schnell, wie das funktioniert: Die Fantasywesen machen, stellvertretend für uns Menschen, Diskriminierungserfahrungen, oder sie agieren Privilegien aus, und allesamt halten sie mit ihren wechselseitigen Vorurteilen nicht hinter dem Berg. Die Fantasyebene spiegelt und verstärkt die gesellschaftlichen Spannungen eines ansonsten weitgehend realistisch konstruierten, multiethnischen Los Angeles.

So weit, so gar nicht einmal uninteressant. Das Hauptproblem von "Bright" ist dann aber, dass Ayer und Drehbuchautor Max Landis zwar einige Energie aufs world buidling verwenden, dass ihnen aber nicht mehr viel einfällt, wenn es darum geht, aus dieser Welt eine dramatische Erzählung zu formen. Noch am besten funktioniert der Film, solange er sich damit begnügt, die Vision einer Welt zu entfalten, die komplett vom Ethno-Tribalismus übernommen wurde. Die Ork-Ghettos sehen aus wie die mean streets der Gangster-Rap-Musikvideos, die Quartiere der privilegierten Elfen wie direkt aus der Parfüm-Werbung. Lediglich die räudigen Vergnügungsviertel verflüssigen die strikte Sortierung: Beim orkischen Metal-Konzert moshen auch menschliche headbanger, und im Stripclub hängen ohnehin alle Spezies ab. Vor dem Trieb sind wir alle gleich.



Was aber macht der Film, wenn er versucht, diese durchaus vielversprechende Ausgangssituation in eine politische Allegorie umzuformen? "You make a good point", sagt Daryl zu Nick, wenn der einen guten Punkt hinsichtlich des strukturellen Rassismus macht, unter dem die Ork-Community leidet - derart unbeholfen sind die Dialoge leider oft, was einem vor allem den ziemlich penetrant allgegenwärtigen kollegialen banter der beiden Hauptfiguren in Windeseile verleidet. Und noch ein Dialogsatz, wieder von Daryl zu Nick: "You even manage to make a shootout awkward". Aber ungelenk sind die Shootouts, wie viele andere Szenen, leider nur wegen David Ayers Regieentscheidungen. So lässt er etwa eine vermeintliche dramaturgische Schlüsselszene, die Nicks Wandlung vom braven Pflichterfüllungscop zum renegade nachvollziehen soll, in einer lächerlichen, popmusikunterlegten Zeitlupenaufnahme verpuffen.

Insbesondere fehlt Ayer jegliches Gespür für B-Movie-Dynamik: Anstatt die abstruseren Aspekte seiner Geschichte auszukosten, flüchtet er sich in rhetorische Gesten der epischen Überhöhung: viel zu viele Helikoptershots, viel zu viele stilisierte Weitwinkelaufnahmen. Kein Gespür für Rhythmus und Räume. Die Martial_Arts-Actionszenen gehen in technischer und akrobatischer Hinsicht nur insofern okay, als es ihnen gelingt, Sehnsucht nach dem Hongkongkino der 1990er zu wecken. Will Smith macht derweil professionelle Mine zum lahmen Spiel, aber auch er geht letztlich zu wenig Risiken ein: Wenn er zu Beginn seinen Ork-Partner disst, achtet er stets darauf, unter den gehässigen Sprüchen eine lässige Coolness durchscheinen zu lassen, die ihm trotz allem die Sympathien sichert und beruhigend klarstellt, dass seine Figur keineswegs ein echter Rassist ist. Seiner späteren Wandlung zum Ork-Versteher fehlt es dann an dramaturgischer Fallhöhe.

Und wenn in der zweiten Hälfte der mit allerlei grell leuchtenden Lichteffekten vollgestopfte Elfenplot Überhand nimmt, dann ist der Film endgültig nur noch die noch etwas hässlichere Version eines Marvel-Superheldenblockbusters. "Bright" will auf Teufel komm raus wie ein "richtiger" Kinofilm wirken; und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil er keiner ist. "Bright" ist ein netflix-Prestige-Projekt und noch einmal eine deutlich teurere Produktion als das Brad-Pitt-Vehikel "War Machine", das letzten Sommer ziemlich sang- und klanglos wegversendet wurde. Die Produktionskosten von 90 Millionen sind zwar immer nicht ganz auf dem Niveau aktueller Kino-Großproduktionen, erst recht, wenn man bedenkt, dass Folgekosten für Werbung und Vertrieb deutlich niedriger ausfallen dürften als bei der Studio-Konkurrenz, aber dennoch ist der Film die bisher ausdrücklichste Kampfansage von netflix an den Rest der Filmindustrie: Nicht nur die eh bereits fast ausgestorbenen Videotheken und das herkömmliche broadcast-Fernsehen möchte die Firma überflüssig machen, sondern auch noch das Kino.

Netflix stellt dem Bewegtbild eben nicht einfach nur ein neues Abspielfenster, sondern auch und vielleicht in erster Linie eine neue Ökonomie zur Verfügung. Am ehesten kann man das Geschäftsmodell mit Pay-TV-Sendern wie HBO vergleichen - nur dass netflix sich nicht als Boutique-Spartenanbieter versteht, sondern den Markt gleich komplett übernehmen will, weshalb den Abonnenten nicht nur Autorenfilme von Bong Jong-ho oder Joe Swanberg zur Auswahl stehen, sondern zum Beispiel auch Adam-Sandler-Komödien; und jetzt eben außerdem ein waschechter Blockbusterversuch. Ob die Monopolbestrebung Erfolg haben wird, ist keineswegs absehbar. Ein Gigant ist netflix bislang nur in der Theorie, bisher schreibt die Firma rote Zahlen, und zwar nicht zu knapp. Und spätestens seit der jüngsten Übernahme von Fox durch Disney zeichnet sich ein Showdown ab: 2019 wird Disney einen eigenen Streaming-Dienst an den Start bringen, und da keiner weiß, wie groß der Internet-TV-Markt tatsächlich ist, weiß auch keiner, ob er groß genug für netflix und Disney ist.

Als ein Blockbuster auf Kredit, der nicht auf Gewinnerlöse in der Gegenwart, sondern auf Wettbewerbsvorteile in der Zukunft zielt, könnte "Bright" eigentlich eines der interessanteren Artefakte des rapiden Medienwandels sein, mit dem sich die Bewegtbildindustrie derzeit konfrontiert sieht. Wenn der Film selbst nur, siehe oben, ein wenig besser wäre.

Lukas Foerster

Bright - USA 2017 - Regie: David Ayer - Darsteller: Will Smith, Joel Edgerton, Noomi Rapace, Edgar Ramirez - Laufzeit: 117 Minuten.