Außer Atem: Das Berlinale Blog

Terror pur: Kiyoshi Kurosawas 'Creepy' (Special)

Von Lukas Foerster
16.02.2016. Kiyoshi Kurosawa schmiedet virtuos völlig harmlose Bilder zu Folterwerkzeugen um.


Einen "perfekten Psychopathen" glaubt der Polizist Takakura, ein Spezialist für kriminelle Psychologie, gefunden zu haben. Worüber er sich fast kindlich freut. Gleich darauf bekommt er von seinem potentiellen Studienobjekt eine Gabel in den Rücken gerammt. Danach hat er erst einmal genug vom Polizeidienst, besorgt sich einen Job an der Uni und zieht außerdem mit seiner Frau Yasuko (Yuko Takeuchi) in einen Vorort; wo man doch eigentlich, denkt sich das junge Paar, ein etwas weniger entfremdetes Leben führt als im Stadtzentrum und wo man sich deshalb als Neuankömmling den Nachbarn vorzustellen hat.

So fängt das Unheil an. Denn hinter einem etwas verrümpelt ausschauenden Gartenzaun (wundervoll, wie der Film ganz nebenbei die Details des kleinbürgerlichen, japanischen Vorstadtlebens einfängt) wohnt Nishino (Teruyuki Kagawa), ein älterer Herr, der zunächst nur wie ein leicht derangierter Sonderling anmutet. Aber schon die Art, wie sich seine Tochter Mio um ihn herum bewegt, lässt Böses erahnen. Überhaupt ist das ein zentrales Thema des Films: Das körperliche Verhalten im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen. Es scheint, dass da auf einer sehr grundlegenden Ebene etwas in die Brüche gegangen ist in der Welt, die Kiyoshi Kurosawas Film entwirft. Denn nicht nur Nishino irritiert seine Umgebung durch ein scheinbar unkontrolliertes Chargieren zwischen allzu intimer Nähe und paranoider Abweisung.

Auch Takakura läßt, je länger der Film dauert, umso deutlicher, jedes Gespür für den richtigen Abstand zwischen sich und seinen Mitmenschen vermissen. Als ewiger Nerd findet er Psychopathologien jeder Art "interessant", übersieht aber die emotionalen Ausnahmezustände vor seiner Nase. Insbesondere, wenn er sich mit Frauen unterhält, ist er außerdem stets mindestens latent übergriffig; zum Beispiel in den Gesprächen, die er mit einer Zeugin in einem lange zurückliegenden, nie aufgeklärten Kriminalfall führt. Diesen Fall rollt er, obwohl er sich zur Ruhe gesetzt hat, aus einer bloßen Laune heraus wieder auf: zunächst ist da nicht mehr als ein blinkender Punkt unter vielen auf einem Computerbildschirm. Als ein Moment reiner Kontingenz dringt das in den Film ein: Es geht um eine Familie, die aus heiterem Himmel, von einem Tag auf den anderen, verschwunden ist, und ein kleines Haus irgendwo in der Vorstadt leer zurücklässt. Ein x-beliebiges Haus; das allerdings dem von Takakura und seiner Frau ein klein wenig ähnlich sieht.

Eine Weile laufen diese beiden Handlungsstränge getrennt voneinander nebenher: Takakura lässt sich noch einmal, und zunehmend obsessiver auf eine Ermittlung ein; und Yasuko freundet sich derweil, einigen inneren Widerständen zum Trotz, mit dem unheimlichen Herrn Nishino an. Dass sich die beiden Handlungsstränge irgendwann kreuzen, ist erst einmal wenig überraschend - aber nichts bereitet einen auf den rapiden Tonartwechsel vor, den Kurosawa unternimmt, wenn sie das tatsächlich tun. Die zweite Filmhälfte dreht komplett die Perspektive und wechselt in eine groteske Unterwelt - die freilich gerade nicht einfach nur das böse Andere des friedlichen Kleinstadtalltags ist. Stattdessen geht es auch dort nur darum, das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz auszuhandeln - unter etwas extremeren Bedingungen...

Kiyoshi Kurosawa hatte sich in den späten 1990er und frühen Nullerjahren als ambitionierter Gruselspezialist einen Namen gemacht, war zuletzt aber (durchaus erfolgreich) in anderen Genres unterwegs. "Creepy" ist seine Rückkehr zum Horrorfilm - und was für eine! Seine älteren Arbeiten im Genre hatten sich eher dem langsamen, atmosphärischen Auftauchen des Unheimlichen verschrieben. "Creepy" dagegen ist Terror pur. (Und hat möglicherweise eine interessante strukturellen Nähe zu Tobe Hoopers Klassiker "The Texas Chainsaw Massacre"; wobei Kurosawa an Splatterexzessen auch weiterhin kein Interesse hat und das texanische Blutgericht ziemlich konsequent als abjekte Psychologie reformuliert…). Wunderbar, so etwas doch einmal auf der Berlinale zu sehen, wenn auch, aus unerfindlichen Gründen, nicht im Wettbewerb, sondern in der Rumpelkammer Berlinale Spezial: Einen Film, der einem im Kinosessel regelrecht Schraubstöcke anlegt, dem es gelingt, einzelne, erst einmal völlig harmlose Bilder (der Flur in Nishinos Wohnung) zu Folterwerkzeugen umzuschmieden.

Creepy. Regie: Kiyoshi Kurosawa. Mit Hidetoshi Nishijima, Yuko Takeuchi, Teruyuki Kagawa, Haruna Kawaguchi, Masahiro Higashide. Japan 2016, 130 Minuten. (Vorführtermine)