Efeu - Die Kulturrundschau

'Fertig!', rufen sie.

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10.12.2019. An der Wiener Staatsoper hatte Olga Neuwirths Oper "Orlando" Premiere. Absolut berückend finden Standard und SZ, wie Neuwirth Epochen und Geschlechter musikalisch verschwimmen lässt. In der New York Times erzählt die Modemacherin Rei Kawakubo, wie sie den Entwurf der Opernkostüme Synergie und Zufall überließ. Monopol fragt sich, wie eine neue Kundenfreundlichkeit in der Kunst aussehen könnte. In der taz verbeugt sich die Schriftstellerin Dorota Danielewicz vor Olga Tokarczuk, in der SZ beobachtet Paul Lendvai die Bestürzung liberaler Serben über Peter Handkes.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.12.2019 finden Sie hier

Bühne

Kate Lindsay in Olga Neuwirths "Orlando". Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Am Sonntag hatte an der Wiener Staatsoper Olga Neuwirths Oper "Orlando" Premiere, die Virginia Woolfs Stoff über das Jahr 1928 hinaus fortschreibt: Orlando wandert vom Barock bis in die Hippie-Zeit durch die Jahrhunderte, die Geschlechter wechselnd und auf der stetigen Suche nach künstlerischer Anerkennung. In der Welt ist Manuel Brug begeistert von Neuwirths Ehrgeiz. "Sie will es. Total. Große Oper mit Botschaft. Happening mit Spaß und Anspruch. Das totale, stilistisch divergierende Durcheinander. Den Apparat heraus- und überfordern. Alles nutzen, was geht. Schwelgen. Schrillen. Grenzen austesten. Das Gesamtkunstwerk herbeizaubern. Und sie hat es getan."

Im Standard zeigt sich Ljubisa Tosic ganz berückt von Neuwirths "Stilkosmos der musikalischen Parallelsphären", räumt aber auch ein, dass Neuwirth ihr Werk mit einer "Überfülle an essenziellen Botschaften" überfracht habe. Ähnlich sieht das Michael Stallknecht in der SZ, der aber von der virtuosen Musik hingerissen ist: "Wie bei diesem Stoff die Epochen und Geschlechter verschwimmen, so überlagern sich auch in Neuwirths Musik die Stile, gehen Renaissancemadrigal und barocke Cembalomusik, Gustav Mahler und Cancan ineinander über, steuert eine Band auf der Bühne im zweiten Teil verstärkt Jazz, Blues und Rock bei. Allen diesen Stilen muss sich auch die Titelfigur stimmlich anschmiegen, was Kate Lindsey mit phänomenaler Wendigkeit tut. Als Mann agiert sie aus deutlich tieferer Lage denn später als Frau, bewältigt barocke Koloraturen ebenso gestochen, wie sie mit Popstimme ins Mikrofon singt. Auch im Orchester der Wiener Staatsoper verschwimmen E und U symbolisch, indem es um eine E-Gitarre und zwei Synthesizer angereichert wird, dazu spielen immer wieder Instrumentalisten aus dem Zuschauerraum." In der FAZ lobt Reinhard Kager den Abend, "der wichtige Denkräume öffnet".

Constance Haumann als Königin Elizabeth I. in "Orlando"

Vanessa Friedman hat das praktisch Unmögliche geschafft und für die New York Times die japanische Modedesignerin Rei Kawakubo interviewt, die die fantastischen Kostüme für Olga Neuwirths "Orlando" entworfen hat, obwohl sie das Bühnenbild nicht kannte. Es gab "nur eine Liste der Kostüme, die ich anfertigen musste. Da keine Zeit war, die Sets zu entwerfen (ich wurde auch nicht gefragt), beschloss ich, die Kostüme im Leerraum zu kreieren, ohne mir selbst irgendwelche Einschränkungen aufzuerlegen. Ich fragte Olga, ob es in Ordnung sei, die Kostüme der Synergie und dem Zufall zu überlassen, und sie stimmte zu. Ich habe versucht mir vorzustellen, wie die verschiedenen Stücke auf der Bühne zusammenwirken würden. Und ich berücksichtigte, was die Leute zur gleichen Zeit auf der Bühne tragen würden." Das Ergebnis kann man auf den zahlreichen Fotos bewundern, die David Payr für den Artikel beigesteuert hat.

Besprochen werden Donizettis "Don Pasquale" mit Juli Fuchs (die NZZ-Kritiker Thomas Schacher in der Rolle der Norina für eine Bombe hält),  in der Rolle der Ersan Mondtags Adaption von Viscontis "Die Verdammten" am Schauspiel Köln (deren "oft stupende Imagination" dem SZ-Kritiker Martin Krumbholz zufolge beinahe mit der des Films mithalten könne), die Uraufführung zweier Tanzstücke von Alexander Ekman und Sharon Eyal am Staatsballett Berlin (taz, Tsp, FAZ), Anna Lenks Iphigenie-Bearbeitung am Schauspiel Hannover (Nachtkritik, FAZ), Akira Takayamas "Wagner Project: A School of HipHop" im Mousonturm Frankfurt (FR) und das queerfeministische Theaterfestival "Freischwimmer*innen" in Berlin (Tsp).
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Literatur

Neben den historischen und literarischen Detail-Debatten der letzten Wochen blieben die politischen und moralischen Folgen der Auszeichnung Peter Handkes mit dem Literaturnobelpreis unterbeleuchtet, meint Paul Lendvai in der SZ. Während nationalistische Serben nach der Nachricht jubelten, reagierten liberale Serben bestürzt. "Mit seinen zahlreichen Aussagen für das Milošević-Regime und dessen ultranationalistischen Nachfolger, die er immer wieder auf niederträchtige Weise mit dem 'serbischen Volk' gleichsetzte, hat Handke vor allem der Demokratie in Serbien und der Öffnung des Landes in Richtung des demokratischen Europas einen Bärendienst erwiesen. ... Zur unverhohlenen Freude der rechtsradikalen serbischen Nationalisten sanktioniert der Nobelpreis den enormen Schaden, den Peter Handke in der Verarbeitung der Geschichte angerichtet hat."

Die Schriftstellerin Dorota Danielewicz wirft in der taz einen großen Blick auf das Werk von Olga Tokarczuk, die heute ebenfalls den Nobelpreis erhält. Auf Tokarczuk in nuce stößt sie in dem frühen Werk "Ur und andere Zeiten", das von dem Ort Ur handelt, der räumlich und zeitlich tiefer, miteinander verbundener Legenden  erzählt wird. Das Städtchen kann man nur in der Anstrengung verlassen, wenn man "unsichtbare Grenze von Lebens- und Denkgewohnheiten überschreitet. Hier wird Tokarczuks Credo sichtbar: Die Wahrheit entdeckt man in und durch die Bewegung, auch wenn sie sich nicht beschreiben und begreifen lässt. Der stete Perspektivwechsel ist für die Nobelpreisträgerin von größter Wichtigkeit. 'Ganze Epochen haben ihre Wahrheiten, die nach einer gewissen Zeit in Staub zerfallen. Auch Individuen haben ihre Wahrheiten; manche von ihnen bleiben das ganze Leben lang aktuell, andere werden immer wieder modifiziert', schreibt sie in dem bislang nicht auf Deutsch erschienen Essayband 'Moment niedźwiedzia'."

In Schweden ist derweil das Enthüllungsbuch "Klubben" erschienen, in dem die Journalistin Matilda Gustavsson, deren Recherchen die Schwedische Akademie 2018 in die tiefe Krise gestürzt haben, die Hintergründe ihrer Recherchen und Jean-Claude Arnaults Eskapaden offenlegt: Matthias Hannemann von der FAZ hält damit eine Milieustudie in Händen, "die das Nachdenken über Macht und Sex in der Kulturwelt zwei Jahre nach 'MeToo' wieder anfachen will. Sie liest sich wie das Drehbuch für einen Thriller."

Weiteres: In der NZZ meditiert der Schriftsteller Alain Claude Sulzer über das Bücherregal, wo Bücher "zu Gedenktafeln ihrer selbst, Teil eines unübersichtlichen Reihengrabs" werden. In Berlin diskutierten Literaten über Armut und Reichtum, berichtet Ulrike Baureithel im Tagesspiegel. Außerdem wurde in Berlin über jüdische Gegenwartsliteratur gesprochen, berichtet Willi Jasper. Marion Löhndorf meldet in der NZZ, dass Liebesbriefe von James-Bond-Erfinder Ian Fleming versteigert werden.

Besprochen werden Olga Tokarczuks "Die Jakobsbücher" (FR), Nina LaCours "Alles okay" (Tagesspiegel) und Peter Schneiders "Vivaldi und seine Töchter" (FAZ).
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Kunst

Der Kunstwissenschaftler Stefan Heidenreich und der Unternehmer Magnus Resch haben kürzlich gefordert, die Kunst zu demokratisieren und an den Bedürfnissen des Publikums auszurichten. Auf Monopol fragt sich Annika Meier, ob sie damit eine Kundenfreundlichkeit à la Netflix meinen oder die nervige Künstlereigenwerbung auf Instagram: "Instagram ist schließlich die Plattform, auf der Menschen perfekte Bilder vom perfekten Leben teilen, also erzählen auch Künstler Erfolgsgeschichten. 'Fertig!', rufen sie. 'Eröffnet!', lassen sie uns wissen. Der britische Maler Oli Epp ist besonders gut darin, sein Publikum auf dem Laufenden zu halten. Epp hat im Jahr 2017 für seine Malerei den Begriff Post-Digital Pop geprägt, er bringt auf der Leinwand Pop Art und Post-Internet Art zusammen, also Konsum und Internetkultur. Seine Figuren zwischen Mensch und Wurm leiden entweder am digitalen Zeitalter oder versuchen sich mit Baseballcap auf dem Kopf und Apple-Kopfhörern in den Ohren an Coolness. 'Heute hat die @latimes eine sehr durchdachte und glühende Rezension zu meine Soloausstellung bei @richardgallery geschrieben', steht in einer Bildunterschrift, das Foto dazu zeigt ihn lachend vor einer Arbeit in seinem Studio sitzen. Man kann Epp aber auch dabei zusehen, wie er ein Gemälde an die Wand hängt oder an einem Bild malt."

Auch Holger Liebs hält im Freitag wenig von dem Aufruf: "Was aber würde passieren, wenn die wenigen nicht mehr da sind, die entscheiden, was ins Museum reinkommt und was nicht? Mit Blick auf den Raub im Dresdner Grünen Gewölbe lässt sich ahnen, was das Fehlen von Experten bedeuten würde: Wir wüssten nicht mal, was uns abhandengekommen ist. Das wahre Problem dieser Mobilisierung der vox populi ist jedoch noch ein anderes. Was die Mehrheit will, ist nun mal Änderungen unterworfen - Museen können aber per definitionem nicht Tageslaunen folgen. Sie horten das, was bleibt. Und: Ich gehe doch in Ausstellungen, um Neues zu entdecken. Wer will schon ständig sehen, was man sowieso kennt und liebt - sei es Picasso oder Gerhard Richter?"
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Design

Otto Prutscher: Warmwasserbecken im Dianabad, Wien, 1913. Archivio Famiglia, Mailand

Laura Weißmüller freut sich in der SZ über eine Ausstellung im Wiener Museum für angewandte Kunst, die den Gestalter Otto Prutscher in sein Recht setzt. Wie Weißmüller erklärt, gehörte Prutscher zur zweiten Generation der Wiener Moderne, er entwarf vom Palmenkübel bis zum Teeservice einfach alles, ohne sich dabei auf einen bestimmten Stil festzulegen: "Bis hin zu kompletten Innenräumen, etwa dem Warmwasserbeckenraum im Dianabad und den mondänen Interieurs des Cafés Imperial, des Feinkostgeschäfts Piccini oder der Apotheke 'Zum goldenen Adler'. Vermutlich ist es also nicht übertrieben zu behaupten, dass sich ein bürgerliches Leben im Wien der Zehner- bis Dreißigerjahre zu großen Teilen in Entwürfen von Otto Prutscher abspielte."

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Film

Netflix macht die Kinos kaputt. Behaupten Kinobetreiber. David Steinitz hat für die SZ nun den einen Kinobetreiber ausfindig gemacht, der das völlig anders sieht: Thomas Kuchenreuther betreibt in München das ABC und das Leopold und freut sich über ausverkaufte Vorstellungen der Netflix-Filme "The Irishman" und "Roma". Dass das parallele Online-Angebot die Zahl der verkauften Tickets senkt, kann er anhand der eigenen Bilanz nicht nachvollziehen, ebenso wenig wie die Tiraden seiner Kollegen - stattdessen schwärmt er von den guten Konditionen: "Netflix überlässt uns einen Film gegen eine Abgabe von 35 Prozent pro Kinoticket. Das ist viel weniger, als klassische Verleihe nehmen. Ich verdiene an einem Netflix-Film mehr Geld. ... Kürzlich startete 'Le Mans 66', ein sehr guter Film. Der lief nur leider nicht so gut wie erhofft, deshalb hätte ich ihn gerne aus der Hauptschiene rausgenommen, um stattdessen den Netflix-Film 'Marriage Story' zu spielen. Aber 'Le Mans 66' ist ein Film des Fox-Studios, das wiederum von Disney aufgekauft wurde. Da wurde gesagt, wenn ich den nicht im Hauptprogramm weiterspiele, nehmen sie mir den Disney-Film 'Die Eiskönigin 2' weg - und auf den kann wiederum ich nicht verzichten."

Weiteres: Für die FR porträtiert Susanne Lenz die  Filmemacherin Annekatrin Hendel, die gerade ihren Porträtfilm "Schönheit und Vergänglichkeit" über den Berghain-Türsteher und Fotografen Sven Marquardt in die Kinos gebracht hat. Lory Roebuck annonciert in der NZZ die Zürcher Aufführung des Films "Midnight Traveller", in dem Fatima Hussain und ihr Ehemann Hassan Fazili ihre Flucht aus Afghanistan dokumentieren. Marco Koch wirft im Filmforum Bremen einen Blick in die Film-Blogosphäre. Besprochen werden eine Maximilian-Schell-Ausstellung im Filmmuseum in Frankfurt (FR).
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Musik

In der SZ-Klassikkolumne widmet sich Helmut Mauró einigen neuen Beethoven-Veröffentlichungen und -Editionen, mit denen sich die Klassiklabels fürs große Geldverdienen im kommenden Gedenkjahr wappnen. Herausragend findet Mauró die von Ádám Fischer dirigierte Gesamtedition der Beethoven-Symphonien: "Es handelt sich wohl um die überzeugendste, spannendste, erfrischendste, erfreulichste Neueinspielung der jüngeren Zeit. So viel Spielfreude bei einer so ernsten Musik - da geht einem das Herz auf, und man fragt sich: Kommt dieser präzise und dabei höchst flexible und dramatische Orchesterklang am Ende Beethoven näher als alle traditionelle Schwermut?"

Weiteres: Andreas Bock jubelt auf ZeitOnline, dass Moses Arndt das einst in den 80ern und 90ern legendäre Punk- und Hardcore-Fanzine Zap wiederbelebt hat. Besprochen wird das neue Album von The Who (Standard).
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