Bücherbrief

Memphis in Schwarzweiß

16.12.2010. Barbara Conrad übersetzt Tolstois "Krieg und Frieden" mit allen Ecken und Kanten. Mathias Enard schreibt eine Urgeschichte der Gewalt. Janet Frame hat Heimweh nach Neuseeland. Ein unsichtbares Komitee verkündet den kommenden Aufstand. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, den Büchern der Saison vom Herbst 2010, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Herbst 2010, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag" und den Leseproben in Vorgeblättert.


Literatur

Leo N. Tolstoi
Krieg und Frieden
Roman. 2 Bände
Carl Hanser Verlag 2010, 2284 Seiten, 58 Euro

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Dies ist die erste Übersetzung von "Krieg und Frieden" seit fünfzig Jahren. Bisher ist sie in den Zeitungen, die der Perlentaucher liest, zweimal besprochen worden. Beide Besprechungen sind ernsthaft ergriffen. Olga Martynova lobt in der Zeit, dass Barbara Conrad den Mut hat, recht nah am Original zu bleiben. Sie erkennt Tolstois Originalsound wieder. Ulrich M. Schmid betont in der NZZ, dass Conrad dem Roman seine Ecken und Kanten zurückgibt, seine Wiederholungen und karge Rhetorik. Übrigens findet er auch Tolstois Blick auf den Krieg höchst modern. Ein Weihnachtsgeschenk für wirkliche Leser!

Mathias Enard
Zone
Roman
Berlin Verlag 2010, 608 Seiten, 28 Euro

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Gewaltig sei der "Sog", schreibt Katharina Teutsch in der FAZ über diesen Roman, und darüber scheint sie sich fast zu wundern. Denn "Zone" ist ein stream of consciousness ohne Punkt und Komma (naja, das heißt, ohne Punkt, aber wohl mit Komma), eine Zugfahrt voller literarischer Anspielungen, voller Geschichte und voll Anspruch. Aber es hat funktioniert. Es ist spannend. So spannend, dass Jürgen Ritte in der NZZ von einem Epos spricht, das Holger Fock und Sabine Müller auch noch tadellos übersezt haben. Ritte staunt, wie Enard es schafft, Kriegszenen auf dem Balkan, in Algerien und im Spanischen Bürgerkrieg zu überblenden und dabei glaubhaft zu bleiben - eine "Urgeschichte" der Gewalt. Zwiespältiger schreibt nur Marie Schmidt in der Zeit. Der Wust der Szenen und Assoziationen hat sie mitgenommen. Gleichzeitig stellt sie den Roman, weil er moralisch die Schwebe hält, über Littells "Wohlgesinnte".

Janet Frame

Dem neuen Sommer entgegen
Roman
C. H. Beck Verlag 2010, 287 Seiten, 19,95 Euro

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Janet Frame wurde international berühmt durch Jane Campions Verfilmung von "Ein Engel an meiner Tafel". "Dem neuen Sommer entgegen" ist ein nachgelassener Roman, der eine Reise der Autorin nach Großbritannien und ihr Heimweh nach Neuseeland schildert. Nicht unbedingt eine aufregende Konstruktion, so scheint es, aber sämtliche Kritiker waren aus dem Häuschen. Nicht die äußeren Umstände, sondern das innere Erleben und die Erinnerungen an die Kindheit sind das Eigentliche und hier bewege sich das Erzählen stets und auf sehr faszinierende Weise auf der Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit, schreibt Verena Lueken in der FAZ. Auch Jochen Jung äußert sich in der Zeit sehr dankbar, dass dieses "wunderbare, innige", schon 1963 geschriebene Buch sechs Jahre nach dem Tod der Autorin doch noch erschienen ist.

Kim Thuy
Der Klang der Femde
Roman
Antje Kunstmann Verlag 2010, 159 Seiten, 14,90 Euro

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Nicht irgendwer, sondern Karl Markus Gauß, selbst ein begnadeter Reiseschriftsteller, feiert dieses kleine Buch in der Zeit als "geradezu grazilen Roman". Gauß lobt Thuy als höchst präzise und zu lesenswerten Vignetten fähige Beobachterin - und dies gilt sowohl für die in der Erinnerung liegende Heimat Vietnam als auch für ihr Exilland Kanada. Gauß gefällt auch die "leichte Hand", mit der Thuy selbst schwere Schicksalsschläge beschreibt. Und er konstatiert eine - für einen Debütroman - erstaunliche Souveränität der Form. Ähnlich mitgerissen schreiben Shirin Sojitrawalla in der taz und Anja Hirsch in der FAZ.


Lyrik



Lutz Seiler
im felderlatein
Gedichte
Suhrkamp Verlag 2010, 99 Seiten, 14,90 Euro

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Lutz Seilers Gedichtband wurde bisher dreimal besprochen, nicht immer hunderprozentig positiv. Aber was auffällt, ist, dass jeder Rezensent einen völlig anderen Blick auf den schmalen Band entwickelt. Sibylle Cramer, die ganz hingerissen ist, fühlt sich in der SZ vor allem an Stefan George erinnert. Was diesem der "totgesagte Park" sei Seiler der "Technikpark". Rolf-Bernhard Essig ist in der FR nicht nur hin-, sondern auch hergerissen. Manches erscheint ihm sentimental, dann wieder preist er Witz und Emphase. Sein Lieblingsdicht ist "aufenthalt". Wulf Segebrecht befasst sich dagegen in der FAZ mit DDR-Reminiszenzen: NVA, Thüringer Klöße und Bergbau. Die Reime vermisst er nicht, die Verse seien innerlich reich genug.


Sachbuch

Unsichtbares Komitee
Der kommende Aufstand
Edition Nautilus, Hamburg 2010, 123 Seiten, 9,90 Euro

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Lange hat ein politisches Pamphlet die Feuilletons nicht mehr so in Wallung versetzt wie diese linksradikale Streitschrift aus Frankreich. Es wurde debattiert! Verantwortlich für die Schrift zeichnet ein Unsichtbares Komitee, die französische Justiz hat dafür allerdings den Philosophen und Castorgegner Julien Coupat ins Gefängnis gesteckt: Anstiftung zum Terrorismus, lautet der Vorwurf. "Der kommende Aufstand" ruft zu Widerstand, subversiver Faulheit und Bildung autarker Netzwerke auf. Alex Rühle faszinierten in der SZ vor allem der heitere Ton und der glänzende Stil: "Die Autoren schreiben mit situationistischem Schwung und gleichzeitig düsterrevolutionärem Zorn eine 'Ästhetik des Widerstands' für das neue Jahrtausend." Für den FAZ-Rezensenten Nils Minkmar ist der Text auf dem besten Weg, das "wichtigste linke Theoriebuch unserer Zeit" werden. Er sieht seine Stärke aber eher in der Analyse der französischen Gegenwart, wo sich die Linke in einem "gesamtpolitischen Unwohlsein" eingerichtet habe. Vom Aufstandskonzept ist er nicht so begeistert: "Eine kollabierende öffentliche Ordnung würde nicht von Deleuze lesenden Kommunarden verbessert, sondern durch eine Mafia regiert." In der taz erkannte Johannes Thumfart in dem Text weniger einen linken Wegweiser als eine rechte, von Heidegger und Carl Schmitt inspirierte, "antimoderne Hetzschrift". In der NZZ schwankte Uwe Justus Wenzel bei der Einordnung zwischen "harmlosem Stuss oder gemeingefährlichem Unsinn". In der Jungle World begrüßte Cord Riechelmann das Manifest, das auch frei im Netz als pdf zugänglich ist.

Wlodzimierz Borodziej
Geschichte Polens im 20. Jahrhundert
C. H. Beck Verlag, München 2010, 489 Seiten, 26,95 Euro

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Wlodzimierz Borodziej ist einer der bekanntesten polnischen Historiker, seine Geschichte Polens erscheint in der verdienstvollen Beck-Reihe "Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert. Bisher wurde sie nur einmal besprochen, dies aber ausgesprochen positiv von Gunter Hofmann in der SZ. Ihm gefiel die nüchterne, "liebevoll-kühle" Art, mit der Borodziej die polnische Geschichte beschreibt, fern aller Pathosformeln. Aber klar wird Hofmann doch an dieser Geschichte von Besatzung und Widerstand: "Mit der Solidarnosc 1980 haben die Polen die Summe der Aufstandserfahrung gezogen und endlich Erfolg gesucht, statt sich - wie polnische Literaten es traditionell gern taten - an Niederlagen zu berauschen."


Thomas Etzemüller
Die Romantik der Rationalität
Alva und Gunnar Myrdal - Social Engieneering in Schweden
Transcript Verlag 2010, 502 Seiten, 35,80 Euro

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In der Debatte um Thilo Sarrazin, Bevölkerungspolitik und die Sozialdemokratie stellte sich leider auch heraus, dass die Eugenik nicht unbedingt nur ein nationalsozialistisches Konzept war. Besonders in Schweden propagierte bereits in den 30er Jahren das sozialdemokratische Politikerpaar Alva und Gunnar Myrdal zur Vervollkommnung des schwedischen Volksheims das soziale Engineering: Um der mit einer alternden Gesellschaft einhergehenden "Flutwelle intellektueller Senilität im sozialen Leben" vorzubeugen, sollte "besseres Menschenmaterial" geschaffen werden, zitierte sie schaudernd der Parteienforscher Franz Walther in der Zeit. Der Oldenburger Historiker Thomas Etzemüller hat dem Paar eine Doppelbiografie gewidmet, die Jürgen Kaube in der FAZ "eines der besten ideengeschichtlichen Bücher seit langem" nannte: Eine Geschichte hanebüchener Sozialfantasien und ideologischer Irrtümer.


Bildband

William Eggleston
Before Color
Steidl Verlag 2010, 200 Seiten, 48 Euro

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William Eggleston ist in die Geschichte der Fotografie als derjenige eingegangen, der die Farbe in die Kunst gebracht hat. Der Band "Before Color" versammelt seine frühen Arbeiten aus den amerikanischen Südstaaten, also Memphis in Schwarzweiß. In der SZ war Andrian Kreye begeistert, von Eggleston als "mythischer Figur des amerikanischen Hipster-Kosmos" sowieso und von diesen Fotografien, die ihm verlorene, wartende und suchende Menschen zeigte: "Und dazwischen macht sich die Moderne mit einer ebenso bedrohlichen funktionalen Kälte breit." Außerdem begeistern Kreye der hochwertige Druck und ein Essay des Kulturkritikers Dave Hickey. Eine Kostprobe der Bilder bekommt man beim Guardian.