Efeu - Die Kulturrundschau

Andere Galaxien auch auf der Erdoberfläche

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12.01.2015. Die taz verteidigt Michel Houellebecq, der in "Unterwerfung" die Angst vor dem Islam nicht bediene, sondern aufspieße. Im Standard sucht Yannick Haenel eine "poetische und politische" Lösung für die Papierlosen. In der Welt beklagt  der frühere Zack-Chef Ralf Kläsener die Comicfeindlichkeit von Müttern. Die FAZ schwebt durch die pneumofuturistischen Zellen der Architektengruppe Haus-Rucker-Co. Die Zeit putzt sich die Brille und blickt mit ganz neuer Klarheit auf avantgardistische Moderne der Paula Modersohn-Becker. Und alle trauern um zwei Größen des europäischen Kinos: Francesco Rosi und Anita Ekberg.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.01.2015 finden Sie hier

Film

Ein trauriger Tag für das große europäische Kino vergangener Dekaden. Nicht nur die Ikone Anita Ekberg ist gestorben, sondern mit Franceso Rosi auch ein Altmeister des politischen Kinos. In der NZZ würdigt Marisa Buovolo ihn als einen der wichtigsten Nachkriegsregisseure Italiens: "Der Staat und seine Institutionen, das gesamte Rechtssystem sind in einem grenzenlosen Netz mit mafiosen Praktiken verwoben: Rosi thematisiert die "Sizilianisierung" Italiens, die auch Leonardo Sciascia auf pessimistische Weise vorhergesehen hatte."

Bereits 2008 hat Ekkehard Knörer anlässlich der Rosi gewidmeten Hommage der Berlinale über dessen nüchtern politisches Kino einen auch heute sehr lesenswerten Text beim Perlentaucher veröffentlicht: Rosis an den "Fragen nach Hintergründen und Zusammenhängen" interessierte Methode hatte der Regisseur selbst einst "Cine-Inchiesta" genannt, erklärt Knörer. "Ein Begriff aus der Justiz", der die ""Untersuchung" eines Falles" bezeichnet: Dargestellt werden "nicht nur die Ergebnisse der Ermittlungen, fiktionale Rekonstruktionen, in denen Zweifel beiseite geräumt werden, sondern stets und vor allem die Ermittlungen selbst. Das erinnert zunächst wieder an die Whodunits der Detektivliteratur, aber es bleibt ein großer Unterschied zu deren Konventionen: es fehlt die Zentralfigur des Ermittlers. An seine Stelle tritt das filmische Erzählen, das, was es zu wissen, zu vermuten und aus den Vermutungen zu schließen gibt, sozusagen als filmische Akte präsentiert."

Nachrufe schreiben Wolfram Schütte (CulturMag), Michael Braun (taz), Daniel Kothenschulte (FR), Jan Schulz-Ojala (Tagesspiegel), David Steinitz (SZ) und Andreas Kilb (FAZ). Internationale Stimmen sammelt David Hudson auf Fandor. Ebenfalls sehr schön: Eine Sammlung historischer Filmplakate zu Filmen von Francesco Rosi auf Mubi.

Trauer auch um Anita Ekberg: Als "Männerfantasie, Vagabundin und Pionierin des sexuellen Aufbruchs der 60er Jahre", würdigt sie Christiane Peitz im Tagesspiegel. Für Daniel Kothenschulte war sie auch eine Pionierin des heutigen Medienrummels: Sie war "einer der ersten modernen Medienstars, die weniger für ihre Werke als die eigene Existenz berühmt sind." Weitere Nachrufe schreiben Tim Caspar Boehme (taz), Jens Balzer (Berliner Zeitung), Susan Vahabzadeh (SZ) und Verena Lueken (FAZ). Die Zeit bringt eine Strecke. Es versteht sich, welche Szene wir bringen:



Weiteres: Gestern wurden die Golden Globes vergeben. Große Gewinner waren Richard Linklaters "Boyhood" (unsere Kritik) und Wes Andersons "Grand Budapest Hotel" (unsere Kritik). Die Männer/Polizeiserie "True Detective" ging leer aus. Alle Preistragäer finden sich bei der SZ oder bei Spiegel Online. Für die Berliner Zeitung unterhält sich Patrick Heidmann mit Bill Murray, dessen neuer Film "St. Vincent" (hier auf Gamona von Perlentaucher-Filmkritiker Rajko Burchardt in Grund und Boden gestampt) gerade angelaufen ist.

Besprochen werden Max Linz" "Ich will mich nicht künstlich aufregen" (FR, Perlentaucher), Angelina Jolies Kriegsfilm "Unbroken" (Tagesspiegel), Ian Cheneys per Video-On-Demand erhältliche Doku "The Search for General Tso" über chinesisches Fastfood (SZ) und ein Buch mit Essays und Filmkritiken des Krimiautors Jean-Patrick Manchette (SZ, Perlentaucher).
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Literatur

Michel Houellebecq positioniert sich mit "Unterwerfung" (unsere Rezensionsnotizen) weder links noch rechts, sondern schlicht "gegen alle", konstatiert Ruthard Stäblein mit einiger Begeisterung in der taz. Houellebecq schicke "seine "identitären" Ureinwohner Europas in die Fänge des Islam. Diese Konvertiten bleiben in seiner Attacke erzfranzösische Wendehälse. ... Er spricht das an, worüber aktuell alle reden müssen, er trifft den Nerv der Zeit, der durch das Attentat gegen Charlie Hebdo offenliegt, die Angst vor dem Islam. Aber er bedient nicht die Ängste. Im Gegenteil. Er spießt sie auf."

Im Interview mit dem Standard spricht der französische Schriftsteller Yannick Haenel über seinen Roman "Die bleichen Füchse", mit dem er eine "poetische und politische" Antwort auf die Ausgrenzung der Papierlosen finden wollte: "Auf der Suche nach Modellen, die nicht aus der westlichen Welt stammen, bin ich auf die Mythologie der Dogon in Mali gestoßen. Das ist weniger eine Religion als eine Auseinandersetzung mit der Entstehung der Welt. Es gibt darin einen kleinen Gott, den erstgeborenen Sohn des Schöpfergottes. Das ist ein bleicher Fuchs, eine Art Teufel, ein Rebell, eine anarchistische Figur. Er betreibt Politik, indem er sich den Werten seiner Gesellschaft widersetzt."

Matthias Heine befragt in der Welt den früheren Zack-Chef Ralf Kläsener zur Geschichte der Springer-eigenen Comic-Zeitschrift: "Vor allem von Müttern gab es immer wieder Querschüsse. Wir haben sehr, sehr viele Brief von wütenden Frauen gekriegt. Die lehnten unsere Serien einerseits als gewalttätig ab. Aber andererseits waren Frauen in Deutschland immer schon extrem comic-feindlich, weil sie das für verdummend hielten, das war auch schon vorher bei Micky Maus und Fix und Foxi so. Aber wissen Sie, wer unser erklärter Feind war? Die Welt. Die wussten nämlich gar nicht, dass der Koralle-Verlag, in dem Zack erschien, ein Teil von Springer war. Also haben die auf uns eingeschlagen - das können Sie sich nicht vorstellen."

Besprochen werden Dima Wannous" "Dunkle Wolken über Damaskus" und der von Larissa Bender herausgegebene Reader "Innenansichten aus Syrien" (taz), der Gedichtband "Hold Your Own" der Musikerin Kate Tempest (taz), Ian McEwans "Kindeswohl" (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), Marlene Streeruwitz" unter dem Pseudonym Nelia Fehn veröffentlichter Roman "Nachkommen" (Berliner Zeitung), eine Neuübersetzung von Selma Lagerlöfs "Nils Holgersson" (Zeit), Stephan Thomes "Gegenspiel" (FR) und ein Band mit den gesammtelten Gedichten Heiner Müllers (SZ).

Außerdem jetzt online bei der FAZ: Die aktuelle Lieferung der Frankfurter Anthologie, in der Mirko Bonné Johannes Bobrowskis Gedicht "Immer zu benennen" vorstellt:

"Immer zu benennen:
den Baum, den Vogel im Flug,
den rötlichen Fels, wo der Strom ..."
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Musik

Norwegens Popszene floriert dank eines vielgliedrigen Fördersystems, das auf internationale Vermarktbarkeit achtet, berichtet Markus Schneider in der Berliner Zeitung. Katja Schwemmers (Berliner Zeitung) plaudert mit Marilyn Manson, der den Zeiten nachtrauert, in denen er noch Rockstar sein durfte und nicht bloß Celebrity. Für die Zeit trifft sich Moritz von Uslar mit Berghain-DJ Marcel Dettmann zum Frühstück.

Besprochen werden der vierte ("Mensch-Maschine") und fünfte ("Computerwelt") Auftritt aus der Berliner Kraftwerk-Konzertreihe (hier und hier im Tagesspiegel), ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Herbert Blomstedt mit Bruckners achter Sinfonie (Tagesspiegel) und ein Konzert von Queenz of Piano (FR).
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Design

Richtig gram ums Herz wird es Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung beim Durchstreifen der Adolf Loos und Josef Hoffmann gewidmeten Ausstellung im Wiener MAK angesichts lauter exquisit gestalteter Exponate, mit denen sich ihre Einrichtung zuhause kaum messen kann: Sie hat dabei auch den ganzen "Geiz-ist-geil-Kram unserer heutigen globalisierten Konsumwelt im Hinterkopf. Neidvoll lässt man den Blick über ein riesiges Papier mit Sessel-und Stühle-Entwürfen der Dannhauser"schen Möbelfabrik gleiten - gleichsam ein sprudelnder Quell an stilistischer und handwerklicher Vielfalt, Schönheit, aber auch zweckdienlicher Stabilität - und denkt dabei an den stilnormierten wackligen Ikea-Sessel daheim, aus dem jede zweite Woche die Schrauben herausfallen."
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Stichwörter: Hoffmann, Josef, Ikea, Loos, Adolf

Architektur

Die psychedelischen Architektur- und Raumexperimente der Gruppe Haus-Rucker-Co aus den 60er Jahren hält die Feuilletons auch weiterhin bei bester Laune. Heute ist es Niklas Maak (FAZ), der so begeistert wie berauscht aus der Ausstellung im Berliner Haus am Waldsee schwankt: "Auf dem Höhepunkt der Weltraumeuphorie verlangen die Wiener andere Galaxien auch auf der Erdoberfläche: alles, Gravitation, Rollenmodelle, Gesellschaftsbilder, sollte durch die pneumofuturistischen Zellen außer Kraft gesetzt werden. In ihrer Idee, dass die Stadt eher eine Landschaft für den von entfremdeter Lohnarbeit befreiten, nach sinnlichen Erlebnissen suchenden homo ludens werden möge, stehen die Wiener den situationistischen Utopien von Constants "New Babylon" und der übererotisierten "kybernetischen Stadt" von Nicolas Schöffer näher als grimmigen Ökodystopien."

In der NZZ greift Bernd Noack die von Norbert Frei in der Zeit angestoßene Diskussion um das marode Reichsparteitagsgelände in Nürnberg auf: "Zum Gutgemeinten zählt er auch die unbedingte Bewahrung des Schlechtgemachten. Das ist ein wunder Punkt, denn längst ist Erinnerungskultur in Deutschland ganz allgemein so etwas wie moralische Chefsache, und über kaum jemanden ist die Empörung größer als über denjenigen, der Unbehagen über die gängigen Formen des Erinnerns an den Nationalsozialismus und den Holocaust, an dem, was unanfechtbar "Trauerarbeit" genannt wird, äußert."

Thomas Steinfeld (SZ) besuchte unterdessen zwei Ausstellungen in Mailand und Vicenza über den vor 500 Jahren gestorbenen Donato Bramante.
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Bühne

In der Jungle World rekonstruiert Bernhard Schmid den Verlauf der in den letzten Monaten in Großbritannien und Frankreich mit teils bis hin zu militanter Gewalt geführten Auseinandersetzungen um die Darstellung rassistischer Praktiken und Ideologien in Brett Baileys Installations-Performance "Exhibit B". "Gefragt wurde: Darf ein Weißer für ein - angeblich - "überwiegend weißes" Publikum das Leiden von Schwarzen in der Sklaverei und die Kolonialverbrechen zum Gegenstand eines provokanten Kunstwerks machen? Oder ist der Künstler in einem kolonialistischen Blick befangen? Stehen Antirassismus und Meinungsfreiheit gegeneinander? Macht sich ein Kunstschaffender zum Teil des Systems, wenn seine Aufführung unter Polizeischutz stattfindet?"

Außerdem bringt die Jungle World Carl Wierners umfangreichen Essay über "Samuel Beckett und den Zenit ästhetischer Modernität".

Besprochen werde Roland Schimmelpfennigs am Theater Mannheim aufgeführtes "Schwarzes Wasser" (FR, Nachtkritik, SZ), Péter Kárpátis als Komödie daherkommende Inszenierung "Ich, das Ungeziefer" nach Kafkas "Verwandlung" am Schauspielhaus Hamburg (Nachtkritik), Barbara Freys Inszenierung von Witold Gombrowiczs "Yvonne, die Burgunderprinzessin" am Schauspielhaus Zürich (NZZ, Nachtkritik, FAZ) und Reihaneh Youzbashi Dizajis im Berliner Ballhaus Naunynstraße aufgeführtes "Tableau" (Tagesspiegel).
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Kunst


Liegende Mutter mit Kind II, Paula Modersohn-Becker, 1906.

Auf nach Kopenhagen, ruft uns Susanne Meyer in der Zeit zu. Dort lässt sich gerade Paula Modersohn-Becker in einer großen Ausstellung "als Avantgardistin der Moderne" neu entdecken: "Es ist, als hätte jemand die in gefühlvollen Diskursen beschlagene feministische Brille abgesetzt und den Blick frei gemacht für den Kern dieses Werkes, das die Kuratorin Tine Colstrup "a strange work", ein merkwürdiges Werk, nannte - so wie Paula Modersohn-Becker an ihren Mann schrieb, sie suche mit ihren Bildern "das seltsame Wesen der Dinge"."

Zeit seines Lebens hat der "barocke Großkünstler" Gian Lorenzo Bernini "nie die respektlose Neugier" verloren, meint Michael Zajonz (Tagesspiegel) nach dem Besuch der großen Bernini-Ausstellung in Leipzig. Ingo Arend (taz) schreibt zu Georg Seeßlens und Markus Metz" Buch über den Kunstmarkt "Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld", das zwar bedenklich mit "kulturpessimistischer Apodiktik" flirtet, dankbarerweise aber auch "die überfällige Debatte darüber eröffnet, welchen neuen Höhepunkt die ewige Komplizenschaft zwischen Kunst und Markt inzwischen erreicht hat."
Archiv: Kunst