9punkt - Die Debattenrundschau

Mit hohem politischem Druck

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2016. Am Tag Null des Countdowns holt Trump noch die Waffe des Antisemitismus aus seinem Arsenal, analysieren die Washington Post und der Youtube-Kanal The Young Turks.  In der New York Times fragt Harry Belafonte: "Was haben wir zu verlieren?" Und antwortet: "alles".  In der taz klagt der Verleger Jörg Sundermeier nochmal über die VG-Wort-Entscheidung des BGH. Irights.info zitiert aus einem Papier der VG Wort, die überlegt, wie man die Autoren doch noch zum Verzicht auf ihre Ansprüche bewegen kann.  In der Presse spricht Olga Tokarczuk über die national-katholische Ideologie der polnischen Regierung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.11.2016 finden Sie hier

Politik

In den letzten Tagen seines Wahlkampfs setzt Donald Trump auf Antisemitismus. Er hatte bereits im Oktober eine Rede gehalten, in der er Hillary Cliton beschuldigte, mit Großbanken zu paktieren. Diese Rede wird nun in Trumps letztem Werbespot mit Bildern von konkreten Personen untermalt. Dana Milbank analysiert für die Washington Post: "Am Freitag veröffentlichte er seinen abschließenden Werbespot und wiederholte beleidigende Kernsätze aus der Rede, die diesmal mit Bildern prominenter Juden illustriert waren: der Finanzier George Soros (zu der Passage 'jene, die die Hebel der Macht in der Hand haben'), die Chefin der US-Notenbank Janet Yellen (zu den Worten 'globale Sonderinteressen') und der Goldman-Sachs-Chef Lloyd Blankfein (nach dem Zitat über 'globale Machtstukturen'). Der Spot zeigt Clinton und sagt, sie stehe im Bündnis 'mit diesen Menschen, die nichts Gutes für Sie im Sinn haben'."

Auch der Youtube-Kanal The Young Turks analysiert Trumps Wahlkampf-Video und zeigt die entsprechenden Passagen:



In der New York Times fragt Harry Belafonte: "Was haben wir zu verlieren?", und antwortet gleich: "alles". Donald Trump sehe "amerikanische Größe als ein schweres, totes Ding, das wir wiederkriegen sollen. Wie einen Goldbarren, einen Banktresor oder eines dieser sterilen leblosen Gebäude, die er so gerne baut. Es ist eine Simplifizierung, die alle Komplexität der amerikanischen Geschichte zu eine vagen Größe  reduziert, und seine Vision für die Zukunft ist ebenso undefiniert, ein Versprechen, dass wir wieder 'gewinnen' werden, ohne zu sagen was."

Wenn die Demokratie zerstört wird, dann liegt das nicht an den Trumps und Putins und ihren Milliarden, nicht an den erzkonservativen Fernsehnetzwerken und Boulevardblättern, nicht an fanatischen Religionsführern, sondern an den Algorithmen des Internets, ist tazler Ingo Arzt überzeugt, der zur Untermauerung dieser These die Autorin Cathy O'Neil getroffen hat: "'Weapons of Math Destruction' heißt O'Neils Buch. Ein Wortspiel, das in der deutschen Übersetzung etwas schwerfällig klingt, in etwa 'Mathevernichtungswaffen' statt Massenvernichtungswaffen. Für O'Neil verbessern diese Programme die Gesellschaft nicht. Sie verstärken Rassismus, vertiefen soziale Probleme und höhlen die Demokratie aus. 'Die Leute denken, die Demokratie ist am Leben, nur weil zwei Parteien mit unterschiedlichen Interessen zur Wahl stehen. Die Annahme ist ziemlicher Bullshit', sagt sie in ihrem Wohnzimmer etwas außer Atem - die U-Bahn war verstopft, trotz Algorithmen, die den Verkehr optimieren sollen."

Im Interview mit der Welt bürstet Werner Herzog alle Kritik an den amerikanischen Wahlen ab: Die USA gehen nicht vor die Hunde, sie haben Nixon überlebt und Reagan und sie würden auch Trump überleben, so der unwirsche Regisseur: "Unsere alten Sehweisen funktionieren nicht mehr, weil sich Veränderungen mit einer Geschwindigkeit ergeben, der viele Leute nicht mehr wirklich folgen können. Und daraus erklärt sich die riesige Anhängerschaft für Trump - das sind Leute, die sich gestrandet fühlen, die das Amerika mit dem Ordnungsgefüge der frühen fünfziger Jahre zurück haben wollen. Das übrigens auch nur eine Fiktion war. Trump ist die Funktion dieser Stimmungslage. Ich halte das ganze Gejammer für reine Bettnässerei. Abgesehen vom Wählengehen könnten die, die da jammern, etwas Konstruktives tun. Das fängt in der Nachbarschaft an."

Weiteres zu Tag 0 des Countdowns: Jonathan Freedland schreibt im Guardian: "2012 titelten wird auf dem Cover, dass das Rennen Obama gegen Romney 'eines der umkämpftesten und polarisiertesten der Geschichte' gewesen sei. Im Rückblick erscheint es wie ein Philosophieseminar." Hans Hütt fühlt sich im Freitag durch den Wahlkampf Trumps an den von Richard Hofstadter einst diagnostizierten "paranoiden Stil" in der amerikanischen Politik erinnert.
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Kulturmarkt

Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag und der Kurt-Wolff-Stiftung stimmt in der taz nochmal die Klage über die in vier Instanzen durchgefochtene VG-Wort-Entscheidung des Bundesgerichtshofs an - da stellte sich heraus, dass die Gelder der VG Wort gemäß Urheberrecht (das die Verlage sonst immer so hochhalten) allein den Autoren gebührt . Durch den Prozess hätten kleinere Verlage das an sie ausgeschüttete Geld vorsichheitshalber ansparen müssen, was sie wohl nicht immer getan haben (mehr dazu in den Perlentaucher-Artikeln von Martin Vogel): "Dass einige Verlage keine ausreichenden Rücklagen gebildet haben, mögen Ökonomen belächeln, die Klagesituation war ja bekannt. Doch gerade unabhängige Verlage zeigen oft großen Enthusiasmus, und nicht selten investieren sie jenes Geld, das sie gemäß der BWL ansparen sollten, lieber in ein Projekt, bei dem nicht sicher ist, ob es Gewinn erwirtschaften wird. Das gerät der Literatur oft genug zum Vorteil."

Die VG Wort sucht unterdessen schon nach Wegen, um die Verlage zu schonen - auf Kosten der Autoren, berichtet irights.info und zitiert aus einem Papier der VG Wort, das zuerst von der Piratenpartei geleakt wurde: "Der 'einzige realistische Ausweg', um Rückzahlungen der Verlage zu verhindern, sei eine 'Verrechnungslösung', heißt es darin. Bei der sogenannten 'Verrechnung' sollen Autoren erklären, dass sie ihre Ansprüche gegenüber der VG Wort abtreten; die Verwertungsgesellschaft würde auf Rückforderung gegenüber den Verlagen verzichten."
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Ideen

In der NZZ plädiert Roman Bucheli für mehr Fantasie, sonst werden wir noch vom Faktischen erdrückt: "Das Denken ist praktische Vernunft geworden in ihrer pragmatischsten Ausprägung. Wo aber bleibt da die Fantasie? Und wo die Einbildungskraft, die doch seit eh und je im Rücken der Vernunft ihr stilles Werk vollbrachte? 'Man muss beim Denken schon haben, was man sucht, durch Phantasie - dann erst kann die Reflexion es beurteilen', so heißt es bei Nietzsche. Was wäre daraus zu lernen? Zunächst einmal dies: Jeder Think-Tank müsste, als freie Außenstelle und anarchisches Widerlager, ein Traumlabor und eine Dunkelkammer der Phantasie betreiben. Die Vernunft sähe sich so ganz anders herausgefordert, als wenn sie nur im eigenen Saft tapfer schmorte."
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Stichwörter: Fantasie, Schmoren

Medien

in einem rückblickenden Buch über die Mohammed-Karikaturen-Affäre schreibt Flemming Rose, der die Karikaturen einst in Jyllands Posten herausbrachte, dass sein Verlag keineswegs so eindeutig hinter ihm stand, wie es nach außen schien, berichtet Reinhard Wolff in der taz: "Der Konzernführung hätten von ihm verfasste Kolumnen zum Thema Islam und ein Teil seiner öffentlichen Stellungnahmen nicht gepasst. Ihm sei vorgeworfen worden, ein 'Fanatiker' zu sein, und Anfang 2011 habe man ihn vor ein Ultimatum gestellt: keine Kommentare oder Beiträge mehr zu religiösen Fragen allgemein und den Mohammed-Karikaturen im Besonderen und keine Teilnahme mehr an öffentlichen Diskussionen in Radio oder Fernsehen. Rose wurde ein Achtpunktekatalog präsentiert mit der Ansage, dass ein Verstoß das Ende seines Anstellungsverhältnisses bedeuten würde."
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Europa

Jürgen Gottschlich fordert in der taz Sanktionen gegen die Türkei und hat schon ein gutes Beispiel parat: "Wenn Erdoğan so weitermacht, muss man ihm die Daumenschrauben zeigen. Wie das geht, hat der russische Alleinherrscher Putin im letzten Jahr vorgemacht. Kein russischer Charterflieger landete mehr an der türkischen Mittelmeerküste, Turkish-Airlines erhielt Landeverbot in Russland, sämtliche türkischen Baufirmen mussten das Land verlassen, die Grenzen wurden für türkische Agrarexporte geschlossen. Binnen weniger Monate war Erdoğan bereit, in Moskau Abbitte für den Abschuss eines russischen Kampfjets zu leisten."

Im Tagesspiegel fordern Berliner Kulturschaffende in einem Offenen Brief Angela Merkel auf, so zeitnah wie möglich dieser verheerenden Entwicklung in der Türkei mit hohem politischem Druck entgegenzuwirken".

Im Interview mit der Presse versucht die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk den neuen alten Nationalismus in Polen zu erklären: "Der polnische Populismus knüpft an alte national-katholische Traditionen an, mit antisemitischen und teilweise antiwestlichen Untertönen. Demnach erfüllt der Katholizismus die Rolle des nationalen Bollwerks, der Kapitalismus muss ebenso national ausgerichtet sein, und die Linke ist eine Bedrohung für die Einheit des Volkes. Dieses ideologische Konstrukt gibt es seit 150 Jahren, es hat den Kommunismus überdauert, und nun tritt es ans Tageslicht wie ein Zombie, der nicht in der Lage ist, zu erkennen, dass sich in der Zwischenzeit nicht nur Polen, sondern das gesamte Europa grundlegend verändert hat." Doch auch die Kommunisten haben ihr Teil zu einer Homogenisierung der polnischen Kultur beigetragen: "Die Suche nach kulturellen und ethnischen Differenzen war zu Zeiten der Volksrepublik nicht gern gesehen."

Und: In einer Reportage für die NZZ liefert Daniel Wechlin ein lesenswertes aber verwirrendes Porträt der "Generation Putin".
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