Redaktionsblog - Im Ententeich

In Paradisum ...

Von Marie Luise Knott
04.04.2016. Zum Tode des schwedischen Dichters, Philosophen, Mathematikers und Romanciers Lars Gustafsson. (Foto: Frankie Fouganthin/Wikipedia)
Die Stille der Welt vor Bach

Es muss eine Welt gegeben haben vor
der Triosonate in D, eine Welt vor der A-moll-Partita,
aber was war das für eine Welt?
Ein Europa der großen leeren Räume ohne Widerhall,
voll von unwissenden Instrumenten,
wo das 'Musikalische Opfer' und das 'Wohltemperierte Klavier'
noch über keine Klaviatur gegangen waren.
Einsam gelegene Kirchen,
in denen nie die Sopranstimme der Matthäus-Passion
sich in hilfloser Liebe um die sanfteren
Bewegungen der Flöte gerankt hat,
weite sanfte Landschaften,
wo nichts zu hören ist als die Äxte der Holzfäller,
das muntere Bellen starker Hunde im Winter
und Schlittschuhe auf blankem Eis wie ferne Glocken;
die Schwalben, die durch die Sommerluft schwirren,
die Muschel, die das Kind lauschend ans Ohr drückt,
und nirgends Bach, nirgends Bach,
Die Schlittschuhstille der Welt vor Bach.


Das erste, was ich von Lars Gustafsson las, war die Zeile "Die Stille der Welt vor Bach". Wochenlang stand das Buch, das ich wegen des Titels gekauft hatte, damals in meinem Bücherregal, wartete auf mich - ein Versprechen auf eine Zukunft, in der ich eine Antwort bekommen würde auf die Frage: Was hatte es mit dieser Zeile auf sich? Warum Stille? Warum sollte die Welt vor Bach still gewesen sein - gar öd und leer vielleicht? Und die gregorianischen Gesänge? Was war mit: In paradisum deducant te angeli?

Dann, irgendwann, griff ich nach dem Buch, las darin, wie man in guten Gedichtbänden liest, wieder und wieder, mal hier mal dort verweilend, den Raum, den Gedichte uns bereitstellen und den sie in uns herstellen, versuchsweise wieder und wieder betretend. Hier und da tat sich beim Lesen ein Fenster auf in Welten, die mit mir eng verbunden und doch stumm geblieben waren.

Was spontan auffiel, war, wie Gustafsson in diesem Gedicht Bachs Musik mit der Landschaft verband - wie das "vor Bach" sich nach und nach beim Lesen und Wiederlesen aus meiner Erwartung eines historischen "Vors" in ein ganz anderes "Vor" verwandelte, in die Stille der Welt seiner Kindheit, in die Stille, in der jedes Geräusch noch einsam war. Plötzlich beim Lesen hört man es selber wieder, das Rauschen der Muschel am Ohr, den Klang des Schlittschuhfahrers an einer entlegenen Ecke des Sees, die Axtschläge eines Holzfällers, das Bellen der Hunde.
Bachs polyphone Musik muss in die Welt seiner Kindheit regelrecht überwältigend hereingebrochen sein. Wie Pubertät vielleicht. Eine ganz andere Schönheit tat sich mit Bach plötzlich auf, zum Beispiel eine, in der eine Sopranstimme "sich in hilfloser Liebe um die sanfteren Bewegungen der Flöte" rankt. Doch die Stille, die zu Beginn der Lektüre als eine glücklich hinter sich gelassene abgelegene Welt erscheint, entdeckt sich im Laufe des Gedicht von einer anderen Seite - "muntere" Hunde, ferne Glocken und die Weite eines Sees, auf dem man eben ganz für sich, ganz bei sich war und ganz sich selbst gehörte. Die Schönheit einer Schlittschuhstille. Was ist schon die ganze Kultur dagegen? Die Stimmung bleibt in der Schwebe. So kann sich alles, alles wenden - nicht nur im Gedicht.

Poesie ist dem Denken am nächsten, hat Hannah Arendt geschrieben, und Lars Gustafsson pflegte diese Nähe von Lyrik und Philosophie in seinen zahllosen Werken mit Witz, Ironie und Humor. Viele seiner Gedichte, die aus herrlich genauen Beobachtungen entstanden und sich immer ins Offene hinausschrieben, treffen mitten hinein in die Paradoxien unserer Zeit und unseres Daseins ("Was ich für Stille und Vertrautheit gehalten hatte, war Blindheit"). Große Poesie, hat er einmal gesagt, bietet Grund, auf dem man zumindest einen Augenblick einen Fuß setzen kann. Er, der elegisch-witzige Poet, der mit Leichtigkeit die tiefsten Fragen bewegte, der den Versuch, das Fragmentarische ja Experimentelle liebte, pflegte im Gespräch einen singenden Tonfall. Mit seinen durch ein schwingendes "Jooh" herausgezögerten Satzanfängen gab er dem Versuchsweisen allen Sprechens Raum.

Seine Bilder und sein Denken, so klar und doch sanft wie die Landschaft, in der er aufwuchs, hatten große Kraft. Dass dies so geblieben ist, bei aller Melancholie seiner Spätwerke, zeigte sich zuletzt, als er im Januar dieses Jahres ein Hohelied des Computerschreibens sang, mit dessen Hilfe man in einen Text in kürzester Zeit an verschiedensten Stellen eingreifen könne. Dies sei ihm immer wie jener musikalische Moment erschienen, da der Gefangenenchor in Beethovens Oper "Fidelio" aus dem unterirdischen Gefängnis ans Tageslicht hinaustritt.

Am 3. April ist Lars Gustafsson gestorben. Er war ein Philosoph, ein Mathematiker, ein Romancier und ein Dichter. Es ist vor allem die Poesie von Lars Gustafsson, die seinen Tod weit überstrahlen wird. Sie schreibt sich in uns ein und läßt uns immer wieder für einen Augenblick glauben, diese Welt wäre "ein gänzlich natürlicher Aufenthalt".

Mit einer Katze im Bett zu schlafen

Ich weiß nicht, ob ich Katzen mag.
Hunde sind mir lieber.
Hunde lügen nicht so gerne.
Aber schön ist es, mit Katzen im Bett
zu schlafen, irgendwo in der Nähe
der Füße, dort, wo die Zehen
vorsichtig in eine nächtliche Welt
Ausschau halten wie Mauerwächter
einer sehr alten Stadt, der Stadt
des Schlafs auf der Hochebene der Dunkelheit -
die Katze also, nicht allzu nah,
doch in einer Art Einverständnis
mit den Zehen, diesen zehn Wächtern
gegen Dunkelheit, Chaos, Nichts
und gegen den Lärm eines fernen Zuges.
Und der Schlaf der Katze ruft in mir
einen tieferen Schlaf hervor,
ihre Art, sich wie ein Fötus einzurollen
um ihren eigenen Mittelpunkt,
gibt mir ein Gefühl der Vertrautheit,
ein Heimatgefühl,
so als wäre diese Welt
ein gänzlich natürlicher
Aufenthalt.


***

Zum Weiterlesen:

Lars Gustafsson, Die Stille der Welt vor Bach, München 1982.
Ders., Augenblick und Gedicht. Tübinger Poetik-Dozentur, 2006.
Ders., Gegen Null. Eine mathematische Phantasie, dt. Barbara M. Karlson, Berlin 2011.
Ders., Auszug aus Xanadu. Gedichte, München 2003.
Mehr hier

(Die Übersetzungen von "Die Stille der Welt vor Bach" und "Mit einer Katze im Bett zu schlafen" besorgte Hans Magnus Enzensberger, der neben vielen anderen großen Dichtern auch Lars Gustafssson in Deutschland bekannt machte. Andere Gedichte in seinen Gedichtbänden wurden vor allem von Verena Reichel übersetzt, die auch seine Prosa ins Deutsche übertrug.)