Redaktionsblog - Im Ententeich

Außerhalb des Blumenbeets

Von Sascha Josuweit
17.03.2015. Das Welterweiternde, Weltverändernde des Gedichts, wie es immer heißt, vielleicht hat es der Giersch gefressen - oder warum geht der Leipziger Buchpreis an Jan Wagner?
Der Gewinner des Leipziger Buchpreises ist ein Netter. Er vereint die Gediegenheit der Hamburger Schule mit einer Sanftheit, die beinahe schmerzt. Auf die zahnlosen Fragen der Kulturzeit-Redakteurin Andrea Meier antwortet er mit vollendeter Geduld und Freundlichkeit. Aber in Wagners Augen blitzt es auch schelmisch. Keine Frage, der Mann verfügt über Einfühlsamkeit und Humor.

Als Lyriker geht Wagner konventionelle Wege, bedient sich traditioneller lyrischer Formen und Mittel und lenkt den Blick auf die sogenannten kleinen Dinge. Ihre Existenz möchte er in Erinnerung rufen und ihnen neue Seiten abgewinnen, der Leser soll staunen und die Welt neu und anders wahrnehmen. Magie, nennt Wagner das und zitiert seinen Lieblingsdichter Dylan Thomas. Egal ob Wagner über Tennisbälle schreibt, über Zäune, Seife, Torf, den Grottenolm oder die Regentonne im elterlichen Garten, immer ist da der Anspruch, im Kleinen und Einzelnen wenn schon nicht das große Ganze, so doch etwas Unerwartetes zu entdecken.

Das ist in Ordnung, letztlich jedoch weder neu noch originell. Genau genommen ist es die Basisforderung von Literatur. Erst, wenn es gelingt, im Besonderen das Allgemeine, im Vertrauten das Neue sichtbar zu machen, ist ein Text für Leser überhaupt von Interesse. Wenn es einen Gradmesser für Literatur gibt, dann diesen. Diesen Vorgang kann man Magie nennen, nüchterner betrachtet ist es ein rhetorischer Kniff, durch den sich Romane, Gedichte, Dramatik und Essays von Gebrauchsanleitungstexten unterscheiden. Funktionieren kann er nur, wenn der Dichter weiß, was er tut, und der Leser ihm zu folgen bereit ist.

Wagner weiß genau, was er tut. Aber Wagner ist auch der perfekte Repräsentant einer Literatur, die gefallen möchte und die das Neue daher nicht in allzu komplizierten Zusammenhängen sucht. Seine Texte sind solide Handarbeit, verfasst nach dem Motto: Es gibt sie noch, die guten Dinge. Manufactum-Lyrik. Irritation ist eher nicht zu erwarten. Vorsichtshalber erklärt der Dichter auf allen Kanälen, was es mit dem Giersch auf sich hat. "Giersch", so heißt ein Text in Wagners soeben ausgezeichneten Band "Regentonnenvariationen". Es handelt sich um ein Unkraut, das jeden Laubenpieper zur Verzweiflung bringt, weil es sich alles einverleibt, wie Wagner sagt. So weit, so banal. Nachzulesen in jedem Hobbygärtnerbuch. Doch Wagner wäre nicht Dichter, wenn er nicht mehr wüsste. Kommt jetzt die Magie? Diese unbändige Gefräßigkeit, sagt er, sie stecke ja schon im Wort: GIERsch! Ein Glück bloß, dass im Buch auf Versalien verzichtet wird. Das Welterweiternde, Weltverändernde des Gedichts, wie es immer heißt, vielleicht hat es der Giersch gefressen.

Ist es beckmesserisch und billig, dergleichen festzustellen, wie es Georg Diez auf Spiegel Online macht? Oder ist es billiger, sich in die Reihe der Jubler von FAZ (hier) bis Zeit (hier) zu stellen und Diez einen Krawallmacher zu schimpfen?

Vielleicht wäre es besser gewesen, den Preis in diesem Jahr gar nicht zu vergeben, wenn schon kein Roman, keine Lyrik, die sich den Herausforderungen der Gegenwart außerhalb des Blumenbeets stellt, dafür infrage kamen (was ja nicht der Fall ist). Jan Wagner hofft, die deutschsprachige Gegenwartslyrik möge mit dieser Auszeichnung endlich mehr Aufmerksamkeit bekommen. Fragt sich nur, ob ihr das gut tut. In der Amazon-Hitliste rangierten die "Regentonnenvariationen" am Wochenende auf Platz drei, gleich hinter dem Provinzkrimi "Zwetschgendatschikomplott" und vor "Fifty Shades of Grey" und dem Bürgerlichen Gesetzbuch.

Sascha Josuweit