Efeu - Die Kulturrundschau

Wie ein Duft nach Weihrauch

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.05.2016. Wagner als  italophilen Melodiker und eine vor Sehnsucht glühende Anna Netrebko als Elsa erlebten die Musikkritiker im Dresdner "Lohengrin".  Wollen die Russen einfach keine Freiheit?, überlegt der russische Autor Dmitry Glukhovsky in der SZ. Der Freitag sehnt sich nach einem Revival linker Literatur. In der FAZ erklärt Designer Raf Simons, warum er gern für die Nische arbeitet. Die Filmkritiker ziehen erste Bilanz in Cannes.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.05.2016 finden Sie hier

Bühne


Anna Netrebko und Evelyn Herlitzius. Foto: Daniel Koch

An der Semperoper hat Anna Netrebko erstmals die Elsa in einer von Christian Thielemann dirigierten "Lohengrin"-Aufführung gesungen. Alle Beteiligten sind in grandioser Form, staunt ein hingerissener Manuel Brug in der Welt: "Wagner wird in gleißendem Licht als italophiler Melodiker vorgeführt, der zwei Prachtstimmen auf der Höhe ihres Könnens zum hellsten Glanz poliert. In der großen Elsa-Ortrud-Szene schwelgt Anna Netrebko gerade im schartigen Gegensatz zur grellstes Kreischen in Kunst verwandelnden Evelyn Herlitzius als makellose Lyrikerin in einer Glut sondergleichen. Die Sequenz 'Es gibt ein Glück, das ohne Reu'' deutet sie zur allerschönsten (auch sexuellen) Verheißung aus. Und sie und Beczala steigern sich im dritten Akt in kaum für möglich gehaltenem Maße. Das ist ein Sehren und Sehnen, welches das Publikum in der akustisch dafür grandiosen Semperoper kollektiv den Atem anhalten lässt."

Ein außerordentliches Vergnügen, lobt auch Wolfgang Schreiber in der SZ, der Netrebko gelinge "hier tatsächlich die Darstellung der Elsa aus innerer Tiefe heraus: mit einer ruhig und organisch strömenden Deklamation des Gesangs, mit Intonationsreinheit und dynamischer Fantasie. Die Sopranstimme klingt mittlerweile abgedunkelt, mit einem berückenden Timbre ". In der FAZ schwärmt Eleonore Büning: Ein "Coup" war dieser Abend, "glanzvoll und ein Operntraum".

Wenig Freude hatte Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens: Der werde zwar immer internationaler, aber nicht gerade besser - vielmehr verkomme er "zunehmend zur Plattform purer Selbstvermarktung." In Wiesbaden wurde eine Adaption von Salman Rushdies "Satanischen Versen" unter Polizeischutz aufgeführt, berichtet Judith von Sternburg in der FR. Für die FAZ berichtet Shirley Apthorp von den Göttinger Händelfestspielen.

Besprochen werden Till Harms Dokumentarfilm "Die Prüfung" über die Prüfverfahren in Schauspielschulen (Tagesspiegel), Anna Sophie Mahlers Bühnenbearbeitung von Josef Bierbichlers Roman "Mittelreich" in München (Tagesspiegel) und Ohad Naharins in Frankfurt von der Batsheva Dance Company aufgeführte Choreografie "Last Work" (FR).
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Kunst

Besprochen werden die Ausstellung "Harry Graf Kessler - Flaneur durch die Moderne" im Liebermann-Haus in Berlin (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Gutes böses Geld" in Kunsthalle, Kasino und Stadtmuseum Baden-Baden (NZZ).

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Stichwörter: Flaneure

Literatur

Wladimir Putin hat in Russland ein System aufgebaut, das ihm nützt. Aber was treibt so viele Russen dazu, dieses System, das sie an der Kandare hält, zu unterstützen? Das fragt sich im Gespräch mit der SZ auch der russische Science-Fiction-Autor Dmitry Glukhovsky, der gerade seinen neuen Roman "Metro 2035" veröffentlicht hat: "' Schreibe ich gegen die Interessen der Leute an? Wollen die Russen einfach keine Freiheit?' Eines jedoch glaubt er nicht: dass reine Unwissenheit hinter der Putin-Begeisterung seiner Landsleute steckt. Er kenne viele gebildete, weit gereiste Menschen, die Zugang zu ausländischen Medien hätten und das System trotzdem stützten. 'Viele Russen glauben lieber der Lüge - selbst wenn sie die Wahrheit kennen. Das ist doch erschreckend.'"

Im Freitag sehnt sich Enno Stahl nach einem Revival linker Literatur, selbst wenn deren Ruf und Charme seit der K-Gruppen-Gesinnungsliteratur der Siebziger einigen Schaden genommen hat: Offen rechtskonservative und staatstragend unpolitische Literatur gebe es schließlich auch sehr selbstverständlich. Linke Literatur "wird kaum eine Revolution auslösen, aber sie kann historisches Wissen bewahren und anschaulich machen. Sie kann Zeitströmungen aufnehmen, neue Blickwinkel eröffnen, nicht wie ein Essay durch explizite Kritik, sondern durch die Unmittelbarkeit der Darstellung, durch Einfühlung, durch Nachleben und Ausleben der Widersprüche. Sie kann Bewusstsein wecken oder wachhalten."

Weiteres: Die taz bringt Ulrich Gutmairs siebe Lieferung der Lektürechronik zu Maxim Billers "Biografie".

Besprochen werden Georg Objartels Band über "Sprache und Lebensform deutscher Studenten im 18. und 19. Jahrhundert" (Welt), Nikolaus Wachsmanns Buch über das Lagersystem der Nazis "KL" (Welt), Michael Köhlmeiers Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" (NZZ), Sascha Rehs Roman "Gegen die Zeit" (NZZ), Edward Bulwer-Lyttons Gesellschaftsroman "Was wird er damit machen? Nachrichten aus dem Leben eines Lords" (NZZ), Gedichte von Jon Fosse (NZZ), Chico Buarques "Mein deutscher Bruder" (taz) und ein neuer "Corto Maltese"-Comicband (Tagesspiegel).
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Musik

Für die taz hat sich Dirk Schneider mit der Neofolk-Sängerin Aldous Harding getroffen. Deren melancholischer Poesie kann er einiges abgewinnen: "Ihre Texte sind poetisch und düster, sie erzählen vom Teufel, der gelbe Rosen als Einladung schickt. Die Jungfrau Maria hängt an der Wand, und hinter allem lauert der Tod, der wie ein Erlöser erscheint. Schließlich geht es immer wieder um Wasser, das mal als Symbol fürs Leben, mal für den Tod herhält. ... Bedeutung schimmert in ihren Texten nur als Ahnung auf, wie ein Duft nach Weihrauch, feuchtem Keller und frischer Erde - das bewahrt diese Musik vor Pathos und Klebrigkeit."

Skeptisch reagiert Annette Walter in der Jungle World auf den "kapitalistischen Feminismus", wie ihn Beyoncé auf ihrem neuen Album "Lemonade" skizziert: Das Album sei "fürchterlich durchkalkuliert und musikalisch durchwachsen". Überhaupt "ist [es] eine endlose Feier der zweifellos makellosen Schönheit von Beyoncé, garniert mit einigen alibimäßig eingesetzten Next-Door-Frauen. Sie sind rührend, aber wirken mehr wie Staffage denn wie ebenbürtige Protagonistinnen. ... Wer 'Lemonade' als revolutionär preist, geht vielleicht doch einer perfekt inszenierten Kampagne auf den Leim."

Weiteres: Für die taz porträtiert Waltraud Schwab die aus der Sahara stammende Sängerin Chiha. Die FAZ hat Dietmar Daths wunderbar bösen Verriss des neuen Dylan-Albums "Fallen Angels" aus der gestrigen Printausgabe online nachgereicht., die SZ Diedrich Diederichsens Kritik. Für Popmatters bespricht Chris Gerard das Album.

Besprochen werden ein Konzert von Tony Allen (Tagesspiegel) und ein Konzert des neuen Trios mit Anne-Sophie Mutter, Yefim Bronfman und Lynn Harrell (Tagesspiegel).
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Design

Vor einem halben Jahr sprang der belgische Modedesigner Raf Simons als Chefdesigner von Dior ab. Der Rhythmus wurde ihm zu irre, für manche Kollektionen hatte er gerade mal einen Monat Zeit, erzählt er im Interview mit der FAZ. Da enwirft er lieber Möbel oder Stoffe für Kvadrat: "Was ich mache, ist sehr speziell. Ich will nicht von allen geliebt und bewundert werden für das, was ich tue. Ich bin glücklich, wenn es einer Nische gefällt. Es fällt auch vielen Menschen heute schwer, Dinge zu begreifen. Sie sind zu schnell in ihrem Urteil. Heute geht es ums Sehen. Als ich jung war, ging es darum, Dinge zu verstehen oder etwas herauszufinden. Bei vielen Kunstwerken hat es zehn Jahre gebraucht, bis ich sie verstanden habe. Manche Kunst, die ich mag, verstehe ich bis heute nicht. Das lässt mich nicht los. Ich lasse die Werke nicht einfach an mir vorbeiziehen. Jetzt wird's aber schon sehr philosophisch hier." (Bild: neu bezogener Franco-Albini-Sessel. Foto © Kvadrat)
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Architektur

Liliane Pfaff begutachtet für die NZZ den neuen Anbau am Moma in San Francisco. In der SZ schreibt Charlotte Theile über die Kontroversen rund um den 118 Meter hohen Kornturm, der mitten in Zürich entstanden ist.
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Stichwörter: San Francisco, Moma

Film

Morgen werden in Cannes die Preise vergeben. Die Kritiker stellen die letzten Filme vor und wagen erste Bilanzen. Von einem alles in allem "enttäuschenden Wettbewerb" spricht Anke Westphal in der Berliner Zeitung - auch wenn mit Maren Ades bislang ungeschlagenem Kritikerliebling "Toni Erdmann" eine handfeste Überraschung im Programm aufwartete. Ades Film wurde denn auch "zum Energiezentrum, ja, zum Herz dieses Festivals", erklärt Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel, für den die "aufregendsten Filme" allerdings Brillante Mendozas "Ma'Rosa", Kleber Mendonça Filhos "Aquarius" und die Filme der Rumänen Cristi Puiu und Cristian Mungiu darstellten: "Weil es in ihnen noch um etwas geht, das zu bewahren und um das es sich zu kämpfen lohnt." Auch SZler Tobias Kniebe ist sich sicher, dass Rumänien - wo auch weite Teile von "Toni Erdmann" spielen - bei der Preisvergabe am Sonntag eine Rolle spielen wird. Über die seit Jahren anhaltende Güte des rumänischen Autorenfilms schreiben David Hugendick und Wenke Husmann auf ZeitOnline.

Mit einer Vielzahl von Cannes-Veteranen im Programm setzte der Wettbewerb in diesem Jahr vor allem auf Nummer Sicher, schreibt Verena Lueken in der FAZ. Da die gestandenen Herren des Autorenkinos in erster Linie solide Routine ablieferten, fühlte die Kritikerin eine fast spukartige Atmosphäre: "Kann [die Gespenster von Cannes] mal jemand verjagen, bitte: Fenster auf, Licht rein, frisches Blut - mehr davon, das ist es, was das Festival braucht." Und Tim Caspar Boehme von der taz empfiehlt abschließend Laura Poitras' neuen Dokumentarfilm "Risk" über Julian Assange und Jim Jarmuschs "Gimme Danger" über die Stooges und Iggy Pop.

Auch Bernard-Henri Lévy war in Cannes. Er mischt sich mal wieder in einen Krieg ein - und präsentierte seine filmische Hommage an die kurdischen Peschmerga. Thomas Sotinel ist in Le Monde nicht gerade begeistert: "'Peshmerga' ist ein Propaganda-Film zum Ruhme der kurdischen Krieger. Ein nomadischer Film, der der Frontlinie bis zur syrischen Grenze folgt. Der Autor wird von einem Filmteam, aber auch von einer militärischen Eskorte begleitet. Aus Paris hat er Kamera-Drohnen mitgebracht, die das Territorium des Feindes überfliegen. Aus der Luft gesehen wirken die gebiete des Islamischen Staats seltsam friedlich und undurchschaubar." Noch abgestoßener ist Le-Monde-Kritikerin Isabelle Regnier von Sean Penns Drama um humanitäre Mediziner in der Dritten Welt, "The Last Face". Sie nennt den Film "den hysterischen Schrei eines Superstars auf Egotrip, der die bestürzende Gewalt zweier afrikanischer Konflikte ausbeutet, um daraus ein vor Pathos triefendes Horrorspektakel zu machen." Kritiken im einzelnen zu allen wichtigen Filmen bieten Kino-Zeit und critic.de. In der Welt berichtet Hanns-Georg Rodek. Für KeyframeDaily stellt David Hudson internationale Pressespiegel zusammen.

Abseits von Cannes: Französische Filme kriegen hierzulande gerne mal einen infantilisierenden Zusatz-"Monsieur" in den Verleihtitel geknallt, ist Matthias Dell vom Freitag aufgefallen. Im aktuellen Fall von Roschdy Zems "Monsieur Cholocat" (im Original schlicht: "Chocolat") über das Leben des schwarzen Varieté-Stars Rafael Padilla führt das "immerhin [zu] einem deliranten Effekt, weil er die Exotisierung potenziert. Hierzulande wird die rassistische Abwertung absurd höflich mit 'Monsieur' angeredet."

Für die taz unterhält sich Katharina J. Cichosch mit Marion Klomfaß, der Leiterin des auf japanisches Kino spezialisierten Frankfurter Festivals Nippon Connection.
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