Tagtigall

Sind auch die da, die nicht da sind?

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
22.09.2016. Kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen und damit ziemlich weit: Oswald Eggers "Erste Berliner Rede zur Poesie" buchstabiert die Welt neu aus.
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In diesem September hat sich die Berliner Literaturwerkstatt zum 25-jährigen Jubiläum in "Haus für Poesie" umbenannt. Unumstritten war das nicht. Die Feier fand im Berliner Rathaus statt und die zu diesem Anlass aus der Taufe gehobene Serie der "Berliner Reden zur Poesie", erinnerte so manchen an die seit Jahren im Münchner Lyrik Kabinett angesiedelte "Münchner Reden zur Poesie". Doch wo die Münchner ein Kabinett mit exquisiter Bibliothek führen, erdenkt man sich in Berlin gleich ein Haus; und wo die Münchner die fadengehefteten Reden broschiert unters Volk bringen, wird in Berlin fest gebunden. Der muss am märkischen Sand liegen.

Die erste Berliner Rede zur Poesie hielt der Dichter Oswald Egger und seine Rede wich deutlich ab vom gedruckten Text. Noch bis Samstag kann man die Rede dankenswerterweise im Deutschlandradio hören (ab 14:07, ob das Haus für Poesie sie auf seine Webseite stellt?):



Angefangen hat Egger mit dem äußerst aktuellen Satz

"Es gibt Grenzen - aber stimmt das"

Und tatsächlich tauchen die Grenzen, wie so vieles in dieser Rede, immer wieder auf. Alle Begriffe, Gegenstände, Ideen und Klänge werden bei Egger gedreht und gewendet; man denkt bei "Grenze" im Laufe der Rede nicht nur an die geöffneten Grenzen des Staates, nicht nur an die Grenzen des Abendlandes oder an den Ruf nach "Obergrenzen", sondern wohl auch an die (Grenz)Wände jenes "Hauses", das an jenem Tag dem Weltreich der Poesie aus der Taufe gehoben wurde. Schabernak ist bei Egger immer mit von der Partie.

... Das muss das Haus der Poesie sein. Aber werde ich im Gedicht auch ich sein? Und dass ich wirklich jetzt in diesem Haus bin und ob das mein Haus ist ... das rede ich mir doch nicht nur ein ... Und doch befühle ich die Wände ...

Und später:  

Es mag gar nicht auszudenken sein, aber schon ein fremder Nachbar ist besser als zwei, drei Spießgesellen der Poesie - im Haus eine Ziege, aus dem Häuschen, satt wie kein Blatt, das sich vor dem Mund gewendet und gedreht hat, nicht wahr? Wort für Wort ist ja ein Mündel für die einen und ein Zügel für die anderen, und übrigens wenn einer eben meint, an der Kandarre sind immer die andern, wie im Märchen

In Eggers poetischem Verfahren können Worte wie Erde, Herde und Rede eng beieinander liegen, wie Ziegen, die im Heu auf Feuerlilien und Himmelsgestirne treffen. In diesen bedrohten Zeiten, da die Welt sich in Nationen, Stämmen und anderes gegeneinander abschottet, kann solche Dichtung die Welt neu ausbuchstabieren, die geltenden Regeln, auch die von Grammatik und Orthografie, über den Haufen werfen und durch freie Kombinationen den ach so fragilen Zusammenhalt der Welt zumindest in der Sprache und für den Moment des Vortrags festigen. "Die einzigen", meinte Hannah Arendt einmal, die noch an die Welt glauben, sind die Künstler - die Beständigkeit der Kunstwerke reflektiere den Bestandscharakter der Welt. Künstler können sich Weltentfremdung nun einmal nicht leisten.

...wie also bekomme ich veränderte, und nicht nur neu zusammengesetzte Welten...

, fragt Egger mitten in der Rede. Erstaunlich, wie beiläufig hier Worte die dringendsten Fragen des Heute stellen. Bei der Feier ging es zeitweise ziemlich heilig zu, doch Egger unterläuft solchen Ton. In seiner Rede zitiert und variiert er munter Dichterstimmen aller Zeiten und verteidigt so den Bestandscharakter der Welt. Doch auch wer die fremden Stimmen nicht wiedererkennt, hat seine Freude an den Kaskaden. Rilke, Nietzsche, Hölderlin, Pastior und die Grimmschen Märchen hallen ebenso hinein wie Brechts "Lob der Partei":

"Wer ist diese Poesie, sitzt sie in einem Haus mit Telefonen?"

Die Welt ist eben doch viel mehr als alles, was der Fall ist. Novalis' "Monolog" kommt einem in den Sinn:

"Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, dass die Leute meinen - sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigentümliche der Sprache, dass sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimnis, - dass wenn einer bloß spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten sprechen, so lässt ihn die launische Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen."

Egger spricht, um zu sprechen, seine Worte sorgen sich um sich selbst, und es gelingt dem Autor, im Gestus des Staunens ganze Weltreiche zusammenzufügen. In diesen Zeiten, da wir von Logik, Verstand und Sachzwang überwältigt zu werden drohen, werden mittels der schönsten poetischen Stilmittel und Klangfiguren Reichtum, Weltoffenheit und Pluralität in unsere Welt zurückgerufen. Der Redner kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen und dabei ziemlich weit. Da sind die Gedichte, die, wie er sagt, "immer das Hölzerne aus den Worten nehmen"; werde er nach Holz in den Wald geschickt, kehre er mit Holz zurück und hat gleich darauf einen Schwan unterm Arm, und wenige Zeilen weiter ist er schon wieder woanders und sein Kopf "... eine Knolle voller Nadeln, auseinanderblasend als Koralle, weil es, wenn ich es doch sage, zu Kontaminationen in der Kontaktkonkatination kommt ... "  - was auch immer das sein mag.

Buchstaben, Silben, Worte, Sätze treiben einander spielend voran und künden dabei auch vom Unerschaffenen. Wie beim Kölner Puppenspiel meiner Kindheit, in dem, bevor das ganze Theater losging, das Hänneschen kurz auf die Bühne schwebte und in breitem Kölsch fragte: "Seid Ihr auch alle da?" Auf unser begeistertes vielstimmiges "Ja" hin setzte er gewohnheitsmäßig nach: "Sind auch die da, die nicht da sind?" Und wieder riefen wir, vom Wiederholungszauber begeistert: "Ja!"

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Zum Weiterlesen und Weiterhören:

-- Erste Berliner Rede zur Poesie  - ab 14:07 ungefähr. (Die im Text angeführten Zitate von Oswald Egger sind entnommen aus der Rede, wie man sie hier hören konnte.) Im Print veröffentlicht beim Wallstein Verlag
-- Hier die Webseite des Lyrikkabinetts München.
-- Hier kann man einige Egger-Gedichte auf der Webseite lyrikline des "Hauses für Poesie" hören.

Zuletzt erschienen:

Oswald Egger, Gnomen & Amben, Brueterich Press, 2015 (BP005)
Oswald Egger, Euer Lenz. Prosa, Suhrkamp, 2013
Demnächst erscheint: Oswald Egger, Harlekinsmäntel und andere Bewandtnisse, MSB Berlin, 2016