Im Kino

Desperate Lebendigkeit

Die Filmkolumne. Von Sebastian Markt, Jochen Werner
04.05.2016. Eine Ästhetik der Zugedröhntheit auf den Straßen Manhattans entwirft "Heaven Knows What", der neue Film der Brüder Ben und Joshua Safdie. Der einstige Tarantino-Protégé Eli Roth fügt seinem unterschätzten Werk mit "Knock Knock" einen hintersinnigen Thriller hinzu.


Harley schreibt einen Liebesbrief, in dem sie sich bei ihrem Freund dafür entschuldigt, dass sie sich das Leben nimmt. Der Freund zerreißt den Brief, ungelesen, stopft in ihr in den Mund. Harley schreibt den Brief noch einmal. Harley sitzt im Park und ihr Freund kommt angerannt, außer sich vor Wut über einen vermeintlichen Verrat und brüllt sie an: Wenn sie ihn wirklich lieben würde, hätte sie sich längst umgebracht. Harley schneidet sich die Pulsader auf, Harley kommt ins Krankenhaus, Harley kommt in die Psychiatrie. Harley kommt aus der Psychiatrie raus und wieder rein in ihren Alltag. Sie sitzt lesend und bettelnd auf Bürgersteigen unter Baugerüsten, windet sich in einer erbarmungslosen Liebe zu einem ihr so nahen wie sie quälenden Liebhaber (Caleb Landry Jones, einziger professioneller Darsteller in einem von Laien geprägten Ensemble), hängt sich immer wieder an Mike, den Dealer und gleichzeitig guten Geist ihres eng begrenzten Universums, obdachlos, und in all dem ständig auf Heroin oder auf der Suche danach.

Szenen von Alltäglichkeit und existentieller Ausgesetztheit aus dem Leben einer jungen Frau, die in einer doppelten Sucht/Liebe feststeckt. Welche die stärkere und welche die bedrohlichere sein mag, bleibt unklar. Sean Price Williams (der als Kameramann bereits für Albert Maysles gearbeitet und jüngst Alex Ross Perrys "Queen of the Earth" fotografiert hat) kommt dieser Harley dabei mit der Kamera sehr nahe und bleibt zugleich fern; der Film ist über weite Strecken in Close-Ups aus Teleobjektiven gedreht, mit der Unberechenbarkeit der New Yorker Straße dazwischen und drum herum.

Harley ist die unbestreitbare Hauptfigur in "Heaven Knows What", dem jüngsten Film der Brüder Ben und Joshua Safdie, ihrem vierten in Kollaboration entwickelten und gedrehten Spielfilm. Gespielt wird sie von Arielle Holmes, die darüber hinaus auch als so etwas wie der Raison des Films firmiert. Es ist, verdichtet, verwandelt und variiert, ihre Geschichte, die der Film erzählt, basierend auf "Mad Love in Manhatten", ihren noch unveröffentlichten Memoiren, die sie auf Josh Safdies Ermutigung hin niedergeschrieben hat, nachdem er sie auf der Suche nach Laiendarsteller*innen für ein anderes Projekt auf der Straße kennengelernt hatte. Über dieses based-on-a-true-story-Märchenhafte wurde viel gesprochen und geschrieben - "Heaven Knows What" lief erfolgreich in Venedig und Toronto und hatte im letzten Sommer einen amerikanischen Kinostart; dem Film selbst ist solch eine Authentifizierungsstrategie einerlei. Holmes' Geschichte und ihre Fähigkeit, davon zu berichten, ihre Intensität, sind schlicht der Grund und Sinn des Films.



Ebenso wenig liegt "Heaven Knows What" als augenscheinlichem Drogenfilm an einer affizierenden Inszenierung von Rausch, an Ausstellung einer narkotisierten Innenwelt. Im Porträt interessiert er sich viel mehr für die Sucht als soziale Praxis, für ihre Handlungsweisen und Gefühlswelten, ihre eigentümliche Zeitlichkeit und ihre Sprache. Mehr als eine Ästhetik des Rausches setzt der Film eine Ästhetik der Bedröhntheit in Szene: in der milchigen Distanz-Nähe seiner Bilder von anästhesierten Beziehungen, bei denen aufs erste nicht zu unterscheiden ist, ob sie von der Abhängigkeit deformiert, oder nicht eher durch sie generiert sind. In den bezaubernd verwirrenden Klängen von Isao Tomitas Debussy-Bearbeitungen mit analogen Synthesizern von "Snowflakes Are Dancing" (1974), aus denen der Film über weite Strecken seinen Soundtrack bestreitet. In seinem Augenmerk auf die Sozialräume solcher peripheren Existenzen, den abgelegenen Parkecken, Bürgersteigen, abgefuckten Fastfood-Restaurants, öffentlichen Bibliotheken und Internetcafés der Upper West Side Manhattans, wo der Film fast ausschließlich spielt, in dem nervösen Gelaber, das in gleicher Tonlage Drogendeals und Beziehungen verhandelt, und in den spezifischen Termini einer Szene, dem "getting nice" des ersten Fixes des Tages, dem Betteln um Kleingeld; in der Logistik von Geldbeschaffung durch das Klauen von Energy Drinks im Drug Store und dem Weiterverkauf an den Kiosk.

Die eindringlichste und erschütterndste Schilderung von Abhängigkeit gelingt vor allem in den Szenen, in denen Harley um eine Liebe ringt, die sie zugleich bedroht. Unter dem Diktat der Abhängigkeit ist die Gegenwart ein beständig ins Unerfüllte reichendes Wollen und gerade dort steckt die größte, desperate, Lebendigkeit. Dahingehend ließe sich das Unbestimmte des Titels lesen. "Weiß der Wind" hieß Philipp Diettrichs dokumentarische Arbeit von 2013, in der der Filmemacher seine drogenabhängige Schwester porträtiert. So radikal unterschiedliche ästhetische Strategien die beiden Filme verfolgen, ist ihnen das unnachgiebige Fordern eines Jetzt gemein, das ständig alle Horizonte von Zukunft und Vergangenheit auszulöschen droht. Programmatisch ist in "Heaven Knows What" die beständige Parallelisierung von Sucht nach Drogen und Sucht nach Beziehung (sowie die Sehnsucht, die wie verstellt auch immer darin aufscheint); in der Verwechselbarkeit der beiden liegt vielleicht der soziale Kommentar des Films.

Nichts an "Heaven Knows What", seinen Typen und seinem Setting, seiner Arbeitsweise, seinem narrativen Kern einer destruktiven Hingabe, ist in einem emphatischen Sinn neu. Aber in der Art und Weise wie die Knochen eines melodramatischen Skeletts sich unter der ausgezehrten Gestalt inszenierter Beobachtungen abzeichnen, schafft der Film Besonderes. "Heaven Knows What" stellt den zeitgenössischen Entwurf eines eigensinnigen Kinos dar. Ein Bericht aus dem beschädigten Leben, gespielt von Leuten, denen diese, oder solche Geschichten widerfahren sind - nicht als Siegel einer vermeintlichen Unmittelbarkeit, sondern als Akt der Reflexion: Eben diese Geschichten machen die sorgfältig und mühsam erarbeitete Künstlichkeit des Films erst lesbar. Eine Art, wie die Welt auf der Leinwand erscheinen kann.

Sebastian Markt

Heaven Knows What - USA 2014 - Regie: Ben und Joshua Safdie - Darsteller: Arielle Holmes, Caleb Landry Jones, Ron Braunstein, Buddy Duress - Laufzeit: 97 Minuten.

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In den letzten Jahren ist die Karriere von Eli Roth, jedenfalls wenn man sich auf sein Wirken als Regisseur fokussieren möchte, etwas ins Stocken geraten - ausgerechnet an dem Punkt, an dem sie richtig hätte abheben müssen. Mit "Hostel 2" hatte Roth 2007 nicht nur seinen bis dato besten Film gedreht, sondern vermutlich den bis heute intelligentesten und originellsten amerikanischen Splatterfilm des 21. Jahrhunderts. Die angesichts der bereits in seinem Debüt "Cabin Fever" voll ausgebildeten sarkastischen Spielfreude einerseits und moralischen Komplexität andererseits aufkommenden Rufe nach mehr formaler Geschlossenheit und identifikatorischer Ein-Eindeutigkeit hatte Roth bereits im ersten "Hostel" fröhlich verspottet; im Sequel zum eigenen Erfolgsfilm gab er ihnen den wohl konsequentest denkbaren Dreh, indem er kurzerhand die Perspektive aufsplittete und - je nachdem, wie man es zu betrachten weniger unbehaglich finden möchte - die Killer zu Identifikationsfiguren oder die Identifikationsfiguren zu Killern machte. Ganz im Vorübergehen bewies er in der Wahl seiner Referenzpunkte einen exquisiten Geschmack, indem er Splatterkinogrößen wie Ruggero Deodato und Edwige Fenech zu Gastauftritten lud - nicht als bloßes Nerdratespiel, sondern eingefasst in famosen Set Pieces, die das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Leider überforderte Roth mit diesem Film sein Publikum maßlos und "Hostel 2" wurde zum großen Kassenflop - was sich vielleicht nur deshalb so desaströs auswirkte, weil der junge Regisseur selbst als Protégé von David Lynch und Quentin Tarantino die Bildfläche betreten hatte und mit seinen ersten beiden, niedrig budgetierten Filmen große Erfolge feierte. Nach dem enttäuschenden Einspielergebnis von "Hostel 2" lag Roths Karriere zunächst auf Eis, die Regie für die höher budgetierte (und bis heute unrealisierte) Kinoadaption von Stephen Kings Roman "Puls" wurde ihm entzogen. Roth machte fortan das Beste aus der unfreiwilligen Pause, produzierte eine Reihe mehr oder minder ambitionierter Genrefilme, und trat regelmäßig als Schauspieler auf - am prominentesten in der Rolle des "Bear Jew" in Tarantinos "Inglourious Basterds".

Bis wieder eine Regiearbeit Roths offiziell in Deutschland zu sehen war, verging fast ein Jahrzehnt. Gut, eine Handvoll Festivalscreenings seines vierten Films "The Green Inferno" gab es zuvor, einem liebevollen und durchaus vielschichtigen, wenngleich sich in der typischen Roth'schen Grellheit durchaus zuhause fühlenden Neuinterpretation von Deodatos Meisterwerk "Cannibal Holocaust". Auf eine offizielle DVD-Veröffentlichung musste man bis März diesen Jahres warten. Roths neuester, fünfter Film hatte es da bereits über den Atlantik geschaffft. Gemerkt hat es allerdings bis heute kaum jemand. "Knock Knock" hat zwar mit Keanu Reeves einen Hauptdarsteller zu bieten, der vor 15 Jahren ein Kinostar war, der Kinostart im Dezember 2015 fand gleichwohl quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Das ist schade, hat der Film doch, wie jeder Film Roths, die Missachtung und den Spott, die ihm entgegenschlagen, keineswegs verdient. Auf eine Neubewertung durch die DVD-Veröffentlichung ist dringend zu hoffen.



An der narrativen Oberfläche wirkt "Knock Knock" wieder durchaus geradlinig. In einer finsteren Regennacht klingelt es an der Tür des Architekten Evan (Keanu Reeves), der eigentlich seine Familie nur ins Ferienwochenende geschickt hat, um endlich mal wieder in Ruhe arbeiten zu können. Als dann zwei tropfnasse, sehr junge, sehr freizügige und nur vermeintlich sehr naive junge Damen vor der Haustür stehen und um Einlass bitten, um auf das arg verspätete Taxi zu warten, beginnt ein Verführungsspiel mit wechselnden Machtpositionen. Der cleverste Schachzug der Inszenierung ist dabei - wie bereits in den "Hostel"-Filmen -, dass die Brüchigkeiten der Perspektivierung und der Sympathie- und somit immer auch Machtverhältnisse selten bis an die Oberfläche dringen. Stattdessen geht Roth das insbesondere für einen an ein amerikanisches Teenagerpublikum als Zielgruppe gerichteten Genrefilm nicht geringe Wagnis ein, Widersprüche und moralische wie ästhetische Konflikte ungelöst klaffen zu lassen. Darin ist er vielleicht der zynische, abgezockte Bruder des großen amerikanischen Kinolyrikers Harmony Korine, mit dessen "Spring Breakers" das ganze böse Spiel mehr zu tun hat als mit dem bis zur Erschöpfung herbeizitierten 80er-Thriller "Fatal Attraction".

In "Knock Knock" werden wir, als Zuschauer, fest an die Seite Evans geschmiedet. Wir sind konfrontiert mit zwei mordlüsternen, sadistischen, selbsternannten Rächerinnen betrogener Familien. (Das Konzept einer nichtmonogamen Beziehungs- oder Familienform wird zwar explizit genannt, aber offensichtlich von niemandem wirklich durchdrungen - fast wirkt es wie ein weiterer böser Witz Roths, der die Sinnlosigkeit all des Leidens, Lügens, Quälens und Mordens damit noch ein weiteres Mal unterstreicht.) Im minimalistischen, kammerspielartigen Setting von "Knock Knock" ist Evan eindeutig als Opfer und die jungen Predatorinnen Bell und Genesis eindeutig als Angreiferinnen markiert, folgerichtig schlagen wir uns auf Evans Seite. Aber war da nicht dieser schmierige Arschlochspruch, als beide Mädchen noch angezogen waren? Dieses seltsame Ausderrollefallen, das durch die bis zum vollzogenen Duschfick durchgehaltene Rolle als standhaft treuer, liebender Familienvater eher noch ekliger wird?

Wie jeder Film von Eli Roth ist auch "Knock Knock" deutlich komplexer, als ein oberflächlicher Blick offenbart. Das wirklich Widerliche in Roths Welt ist nicht der bestrafte Fehltritt - eine Lesart, die eine konservative Interpretation von so ziemlich allen Filmen des großen Genreregisseurs begünstigen würde. Das wirklich Schlimme ist nicht der Fehltritt - es ist die Rolle, die die Fehlenden davor und nicht so selten auch danach wieder einnehmen wollen.

Jochen Werner

Knock Knock - USA 2015 - Regie: Eli Roth - Darsteller: Keanu Reeves, Lorenza Izzo, Ana de Armas, Aaron Burns, Ignacia Allamand - Laufzeit: 99 Minuten.