Efeu - Die Kulturrundschau

Von einsamer Zärtlichkeit

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06.08.2021. Die taz swingt zu modularen Synthesen aus analogen und digitalen Klängen des Jazzdrummers Gerald Cleaver. Zeit online gruselt sich in Locarno in Ferdinando Cito Filomarinos Politthriller "Beckett" vor den dunklen Kräften des Staates. Im Standard warnt Matthias Politycki vor Verlagen in Deutschland, die die Backlist ihrer Autoren den neuen Sprachmoden anpassen wollen. Die FAZ steht baff vor einem Kubikmeter unveröffentlichter Manuskripte von Céline. Die SZ hält den Atem an, wenn Cecilia Bartoli einen silbernen Stimmfaden durchs Salzburger Festspielhaus schweben lässt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.08.2021 finden Sie hier

Musik

Tazler Julian Weber hört sich interessiert durch das neue Album "Griots" des amerikanischen Jazzdrummers Gerald Cleaver, der in den letzten Jahren auch mit Elektronik experimentiert hat: "Es geht um modulare Synthese: Analoge und digitale Klänge treffen aufeinander, Beats kollidieren, programmierte Drumcomputersounds und shuffelnde, von ihm selbst eingespielten Grooves, die er zu Loops umgewandelt hat, dazu perlen blinkende Keyboardriffs auf, die der 58-Jährige mit einem VCV-Rack emuliert.  ...  Mal wird die Musik - wie bei dem Track 'Victor Lewis' - von einem Beat getragen, der sich nonlinear bewegt und dabei gleich mehrere spannungsgeladene Rhythmuswechsel vollführt. So entsteht Musik, deren Klangsignatur den Markern von Detroit Techno nähersteht als der Virtuosität, die man gemeinhin mit zeitgenössischem Jazz und seinen oft hermetischen Performance-Techniken assoziiert."



In Christoph Dallachs Oral History "Future Sounds" lässt sich SZ-Kritiker Diedrich Diederichsen von den Protagonisten des Krautrock der 70er (und angeschlossener Sub- und Nebengenres) "gerne etwas erzählen". Die Vorstellung jedoch, dass in diesen Jahren in Deutschland landauf, landab wahnsinnig aufregende Musik zu hören war, existiere lediglich in der nostalgischen Vorstellung jener Briten, die diese Musik Jahre später wiederentdeckt haben. "Brian Eno erklärt die deutsche Musik der Siebziger damit, dass sie sich nicht auf andere Popmusik beziehe, sondern auf bildende Kunst - aber das ist eher seine Geschichte und die der britischen Art Schools. Irmin Schmidt steht für eine Geschichte, die bildende Kunst vor allem als Fluxus, also bereits unter Bezugnahme auf zeitbasierte Künste wie Musik einschließt, aber ansonsten ganz andere Ursprünge hat: Neue Musik als Anfang und Jimi Hendrix als einschneidende Ermunterung, Jazz und improvisierte Musik ganz neu, nämlich elektrisch, glamourös und vor allem laut und noisy neu zu erfinden. Hendrix ist das meistgenannte Erweckungserlebnis, das aber nie so funktioniert hätte, wenn es nicht eine schon entwickelte Avantgardeprägung gegeben hätte, die der Gitarrist konkret negiert hätte."

Außerdem: Jan Brachmann berichtet in der FAZ von der Bachwoche Ansbach. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Joe Paul Kroll über "A Song for Europe" von Roxy Music:



Besprochen werden Feists Musikperformance "Multitudes" in Hamburg (ZeitOnline, taz), Tom Morellos, Eddie Vedders und Bruce Springsteens Coverversion von AC/DCs "Highway To Hell" (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Von Harmonie und Ekstase. Musik in den frühen Kulturen" im Antikenmuseum Basel (FAZ).
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Film

Genrekino meets Autorenfilm: "Beckett" eröffnete Locarno (Netflix)

Mit Ferdinando Cito Filomarinos Agententhriller "Beckett" wurde das Filmfestival von Locarno eröffnet - wegen Unwetters leider nicht auf der legendären Piazza Grande. "Während filmische Verschwörungserzählungen der Neunziger- und Nullerjahre ... ihre Verdachtslogik auf die grundsätzliche Verfasstheit dessen richteten, was wir als Realität begreifen, lotet Filomarino mit seinem Film vielmehr die verborgene Arbeit eines Staats und dessen Teile aus", schreibt Sebastian Markt auf ZeitOnline und sieht den Film daher im Zusammenhang mit den Paranoiaklassikern der siebziger: "Ein Politthriller als kluges Genrekino mit Autorenhandschrift", noch dazu produziert von Netflix, dessen Filme Cannes nicht einmal mit spitzen Fingern anfasst: "Was auch immer die Wahl als Eröffnungsfilm für die unmittelbare Zukunft des Kinos signalisieren mag: Als Parabel steckt in der Erzählung von einem Jedermann, dem die Mächte kaum lesbar werden, die von seinem Leben Besitz ergreifen und in die Geschicke eines Staats einzugreifen scheinen, auch eine gehörige Portion politischen Pessimismus."

In der NZZ schmachtet Urs Bühler derweil die Schauspielerin Laetitia Casta an, die in Locarno einen großen Auftritt hat. Außerdem sprach er für die NZZ mit dem Spezialeffekte- und Stopmotionmeister Phil Tippett, der einst in "Star Wars" George Lucas' Weltall-Bestiarium Leben einhauchte und in Locarno seinen seit Jahrzehnten in seiner Garage in Produktion befindlichen Stopmotionfilm "Mad God" (hier der sehr beeindruckende Trailer mit Eindrücken) präsentiert. Geholfen hatte ihm dabei letztlich Crowdfunding, "aber es ist viel zu viel Aufwand, auf diesem Weg Mittel zu beschaffen. Das ist definitiv nicht die Zukunft der Filmfinanzierung."

Weitere Artikel: Im Freitag sprechen Barbara Schweizerhof und Thomas Abeltshauser mit Dominik Graf über seine Kästner-Verfilmung "Fabian" (unsere Kritik hier, eine weitere in der FR).

Besprochen werden Robin Wrights Regiedebüt "Abseits des Lebens" (FR), James Gunns Comicverfilmung "The Suicide Squad" (Standard, FAZ), der neue Ebernhofer-Krimi "Kaiserschmarrndrama" (SZ), Tristan Séguélas auf DVD veröffentlichte Komödie "Ein Doktor auf Bestellung" (SZ), die Komödie "Die perfekte Ehefrau" mit Juliette Binoche (Standard) und eine DVD-Edition mit Arbeiten der französischen Filmpionierin Alice Guy-Blaché (FAZ).
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Literatur

Matthias Polityckis Umzug von Hamburg nach Wien dürfte wohl der am meisten kommentierte seiner Art in der jüngeren deutschen Literaturgeschichte sein. Begründet hatte der Autor seine Entscheidung mit den aktuellen Gender- und Sprachdiskussionen. Michael Wurmitzer vom Standard hat sich mit dem Neu-Wiener zum Bilanzgespräch seiner ersten drei Monate in Österreich getroffen. Das "untergründig Anarchische", das er in Wien sieht, empfindet der Schriftsteller als "notwendiges Korrektiv" zur gesellschaftlichen Stimmung in Deutschland. "Er wisse, dass in manchen Verlagen die Backlist auf entsprechende Stellen gesichtet werde. Die könne man in künftigen Ausgaben umformulieren oder weglassen. 'Der Schatz einer Kulturnation wird auf die Weise, nennen wir es mal so, redigiert. Wird in Debatten mal einer angeprangert, kann ich das verstehen. Geht Cancel-Culture aber still und systematisch vor, wird es wirklich gefährlich.' Kann er den gesellschaftspolitischen Ansatz beim Gendern gar nicht nachvollziehen? Doch, schon. 'Wir haben es damals halt nicht 'Sichtbarmachung von Frauen' genannt, bei uns hieß das 'Frauenemanzipation', und es war für uns eine Selbstverständlichkeit.'"

Ein ganzer Kubikmeter Manuskripte aus Célines Feder wurde in Frankreich aufgetan: "Diesen Fund eine Sensation zu nennen wäre krass untertrieben", schreibt Marc Zitzmann in der FAZ. "Der fesselndste Fund, der das Herz jedes Célinianers in rasende Wallung versetzen dürfte, sind sechshundert unveröffentlichte Manuskriptseiten des Romans 'Casse-pipe' ('Kanonenfutter'). Die Referenzausgabe dieses Textes in der Bibliothèque de la Pléiade zählt gerade einmal sechzig Seiten, mit fünf Anhängen kommt man knapp auf deren achtzig. ... In seiner kompletten Version spannte 'Casse-pipe' offenbar die zeitliche Brücke zwischen den Romanen 'Mort à crédit' ('Tod auf Kredit'), der Célines Pariser Kindheit und Jugend ausspinnt, und 'Voyage au bout de la nuit', der die Erlebnisse des Autors im Ersten Weltkrieg durch die literarische Mangel dreht. Auch von ersterem Werk finden sich in dem entdeckten Konvolut tausend Manuskriptseiten."

Besprochen werden unter anderem Aleksandar Tišmas Autobiografie "Erinnere dich ewig" (NZZ) und Rose Lagercrantz' Holocaust-Kinderbuch "Zwei von jedem" (Tagesspiegel). Außerdem präsentiert Dlf Kultur die besten Krimis des Monats.
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Architektur

In der FAZ stellt Laura Helena Wurth die Pekinger Architektin Xu Tiantian vor, die ganze Regionen mit ihrer "Architectural Acupuncture" umbaut zwecks Stärkung der von Xi Jinping verordneten "ländlichen Identität".
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Bühne

Michael Stallknecht ist in der SZ voller Lob für Robert Carsens wiederaufgenommene Salzburger Inszenierung von Händels Oratorium "Il trionfo del tempo e del disinganno", das als Casting-Show gegeben wird. Unter den Sängern glänzte besonders Cecilia Bartoli. Sie bescherte "einen der Momente, mit denen die Mezzosopranistin das Publikum von jeher dazu bringen konnte, den Atem anzuhalten: indem sie die mehrfach wiederholte Melodie in ein immer feineres Piano zurücknimmt, bis sie nur noch auf einem fil di voce, als silberner Stimmfaden, von einsamer Zärtlichkeit durch das Salzburger Haus für Mozart schwebt. La Bartoli bereitet eben, was der Name ihrer allegorischen Figur verheißt: piacere - Vergnügen. Dass sie damit in der Handlung des in Salzburg szenisch realisierten Oratoriums nicht gewinnen kann, liegt am Libretto aus der Hand eines veritablen römischen Kardinals."

Besprochen werden außerdem erste Aufführungen beim Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg (nachtkritik) und das Pasticcio "So sanft wie Du" im Frankfurter Palmengarten (FR).
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Kunst

Sarah Friend inside an installation of her work "Clickmine" at the Brandscape in Toronto, 2018. Foto: Finlay Paterson


Die FAZ bringt heute eine Seite über Kryptokunst, auch Digitalkunst oder NFT (Non-Fungible Token) genannt. Die Begriffe rund um NFT werden dankenswerterweise kurz erklärt. NFT beschreibt kurz gesagt ein Echtheitszertifikat für eine digitales Kunstwerk, das damit zum Unikat wird. Im Hauptartikel erzählt Ursula Scheer, wie Museen auf NFT reagieren. Zum Beispiel in der Ausstellung "Proof of Art" im Linzer Francisco Carolinum: Dort "kann man der Software 'Random Darknet Shopper' der Schweizer !Mediengruppe Bitnik dabei zusehen, wie sie mit wöchentlich hundert Dollar in Bitcoin auf Shoppingtour ins Darknet geht. Als sie dort vor einiger Zeit Ecstasy-Pillen kaufte, schritten die Behörden ein, konfiszierten die heiße Ware, ließen den Bot aber straffrei weiter agieren. Man kann darin einen Ausdruck der Kunstfreiheit sehen oder einen Kommentar auf unsere Hilflosigkeit gegenüber autonomen Systemen. ... Das böse Spiel zwischen Konzept und Körper, Physis und Virtualität um einen Geldwert spielt zurzeit wohl Damien Hirst am erfolgreichsten, bleibt aber in der Ausstellung unerwähnt: Er lässt Käufern seiner Punkt-Bilder 'The Currency' die Wahl, ob sie eine Arbeit auf Papier erwerben oder ein NFT - und die zugrundeliegende Papierarbeit verbrannt wird."

Jacoba van Heemskerck, Bild no. 18, 1915 (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)


Auch die Kunsthalle Bielefeld hat jetzt eine Malerin entdeckt, die bisher kaum Anerkennung fand: Jacoba van Heemskerck. In ihrem Fall hat SZ-Kritiker Till Briegleb allerdings einige Zweifel, "ob das nur an männlicher Selbstbezüglichkeit im Kunstbetrieb, oder nicht doch auch ein wenig an der künstlerischen Qualität ihrer Arbeiten gelegen hat. Das hier erstmals in diesem Umfang präsentierte Gesamtwerk van Heemskercks zeigt sich nämlich thematisch und motivisch eng begrenzt, eher entwicklungsarm und nur sporadisch originell. Auch wenn der erste Eindruck zunächst ein anderer ist. Eine Handvoll Ölbilder, in denen sie mit starken Farben und mutiger Abstraktion ihr Lebensthema der Segelboote auf dem Meer in wuchtige Bildsprache packt, lösen im Zentrum der Ausstellung tatsächlich Staunen aus."

Weitere Artikel: Larissa Kikol unterhält sich für monopol mit dem Galeristen Peter Michalski und dem Berliner Graffiti-Kollektiv 1UP, die während des Lockdowns eifrig abgestellte U-Bahnzüge besprayt haben. Im Tagesspiegel schreibt Lars von Törne den Nachruf auf den Cartoonisten Martin Perscheid.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von Mies van der Rohe, Wilhelm Lehmbruck und Georg Kolbe im Krefelder Haus Lange (Tsp), die Ausstellung "Vor Ort: Fotogeschichten zur Migration" mit Selbstdokumentationen von Migranten in Deutschland im Kölner Museum Ludwig (SZ), die Ausstellung "Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990" des Fotografen Ergun Çağatay im Essener Ruhr Museum (taz), der Band "A Photo Spirit" mit bisher unveröffentlichten Bildern von Ruth Orkin (monopol), eine Ausstellung in der Kieler Galerie Cube+ mit Werken von Thomas Judisch und Kyoko Takemura (taz) und die Designausstellung "Die frühen Jahre. Mart Stam, das Institut und die Sammlung industrielle Gestaltung" im Berliner Museum der Dinge (FAZ).
Archiv: Kunst