9punkt - Die Debattenrundschau

Wertlos im Leben, wertlos im Tod

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.08.2022. Über Cherson hängt der Gestank fahrbarer Krematorien, berichtet David Patrikarakos in der Daily Mail. Jeremy Cliffe warnt im New Statesman, die Krise des deutschen Wiirtschaftsmodells zu übertreiben. In der FAZ warnen Historiker vor einem ethnisch-national geprägten Blick auf Russland. Die RBB-Intendantin Patricia Schlesinger tritt mit einem wehmütigen Blick auf das schöne Parkett ihres frisch renovierten Büros zurück. Und sie hat den Sendern gewaltig geschadet, fürchtet der Tagesspiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.08.2022 finden Sie hier

Europa

David Patrikarakos, dessen Artikel über Cherson aus Unherd wir neulich bereits zitierten (unser Resümee), berichtet in Daily Mail von neuem aus Cherson, sein Artikel hat auf Twitter zahlreiche Reaktionen ausgelöst. Er ist selbst nicht in der besetzten Stadt, aber in Kontakt mit Informanten, schreibt er. Unter anderem behauptet er - und stützt sich dabei auch auf Fotos -, dass in Cherson mobile Krematorien herumfahren, die dazu da seien, Spuren zu vernichten. In ihnen würden sowohl die Leichen ukrainischer Opfer, als auch die der eigenen gefallenen Soldaten verbrannt. Viele der russischen Soldaten in der Ukraine kämen aus Gebieten nationaler Minderheiten. Zwar wollten deren Familien ihre Söhne ebensowenig in den Krieg schicken wie Moskauer oder Petersburger, "aber sie können es sich nicht leisten, die staatlichen Zahlungen zu verweigern. Folglich werden die Männer aus diesen Regionen vom Kreml als völlig entbehrliche Menschen behandelt, als Leben ohne Wert. Sie in Leichensäcken in ihre Dörfer zurückzuschicken, wäre eine militärische Peinlichkeit - und eine ungerechtfertigte Ausgabe - und so werden ihre Überreste einfach verbrannt. Wertlos im Leben, wertlos im Tod."

Jeremy Cliffe warnt im New Statesman, die Krise des deutschen Wiirtschaftsmodells zu übertreiben. Deutschland habe zwar ein akutes Energieproblem, aber als Volkswirtschaft sei es stabil. Die Überbetonung der Krise sei gefährlich und helfe interessierten Kreisen, meint er: Politiker riskierten damit, "deutsche Kräfte zu stärken, die die Ukraine zu Zugeständnissen an Wladimir Putin drängen... Die größte europäische Volkswirtschaft kann eine vorübergehende Energiekrise überstehen. Aber was ist mit den künftigen Krisen eines Kontinents, dessen Grenzen mit Gewalt neu gezogen werden können?"

Die Forderung, Russland zu dekolonisieren, ist ja schön und gut, schreiben die Historiker Robert Kindler, Tobias Rupprecht und Sören Urbanskyin der FAZ, nur ist das russische Imperium nicht einfach mit ethnonationalen Begriffen zu fassen, denn es ist in sich vielfältig: "Die einseitige Betonung nationaler Bewegungen verkennt, dass in protonationalen Kontexten Stand und Religion oft wichtiger waren als Sprache oder Ethnie. Im multiethnischen Imperium musste man kein Russe sein, um in der zaristischen Bürokratie Karriere zu machen oder in die sowjetische Nomenklatura aufzusteigen. Die alte Vorstellung vom Imperium als 'Völkergefängnis' ist längst widerlegt. Teilweise besteht die Polyethnizität der Eliten innerhalb Russlands bis heute fort: Es sind nicht nur ethnisch russische Großmachtphantasten, die das Regime stützen und dessen Kriegführung vorantreiben, sondern auch ein Verteidigungsminister mit tuwinischen und ukrainischen Wurzeln, ein usbekischer Oligarch sowie Einpeitscher mit armenischen und jüdischen Vorfahren im Staatsfernsehen."

Christian Esch fliegt für den Spiegel in "sein Moskau" zurück, das er als Korrespondent kannte. Die Oberfläche ist erstaunlich intakt, wenig Anzeichen für Krieg. Darunter ist alles anders. Er trifft zum Beispiel die Menschenrechtlerin Marina Litwinowitsch, die den Preis ihre Bleibens kennt. "Es ist Zeit, sich vorzubereiten: Noch mal zum Zahnarzt gehen, die Dokumente der Kinder checken, Pläne für eine längere Abwesenheit machen. 'Ich liebe es zu leiden, wie alle Russen', sagt sie lachend. 'Ein paar Jahre Gefängnis gehen in Ordnung für mich. Sieben sind zu viel, aber sagen wir drei.' Die Zahlen sind nicht aus der Luft gegriffen. Sieben Jahre Lagerhaft, so viel hat gerade erst der Moskauer Bezirksabgeordnete Alexej Gorinow erhalten, weil er den Krieg kritisiert hatte. Zum Einsatz kam ein Paragraf, der 'Fake News' über die russische Armee bestraft."
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Geschichte

Ja, der Zionismus ist mit dem Kolonialismus verflochten, schreibt der Historiker Michael Brenner, Autor des Buches "Israel - Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates" in der FAZ, aber die Dinge liegen doch ein bisschen komplexer: "Der Zionismus ist ohne den europäischen Kolonialismus nicht vorstellbar, aber gleichzeitig ist er eine Befreiungsbewegung einer von Europäern unterdrückten Minderheit. Ein Teil der jüdischen Einwanderer nach Israel waren weiße Europäer, die von anderen weißen Europäern vertrieben wurden, ein anderer Teil waren arabische Juden, die von muslimischen Arabern aus ihrer Heimat verwiesen wurden. Die Palästinenser tragen keine Verantwortung am Mord an den europäischen Juden, und doch mussten sie dafür bezahlen."
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Gesellschaft

Die hessische Polizei kann ihr Rechtsextremismusproblem offenbar nicht bewältigen. Wieder haben sich Frankfurter Polizisten in Chats mit dem Austausch von Nazi-Symbolen amüsiert, berichtet Christoph Schmidt-Lunau in der taz. "Für die Führung der Polizei steht das Fehlverhalten von Beamten bereits fest: Fünf Polizisten sind inzwischen suspendiert und dürfen ihre Dienstgeschäfte nicht mehr ausüben. Darunter sind immerhin der Hauptgebietsleiter der Organisationseinheit, der für die Bearbeitung von Amtsdelikten zuständig war, außerdem ein Kommissariatsleiter in der Fahndung der Kriminaldirektion und ein ihm nachgeordneter Ermittlungsgruppenleiter."
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Stichwörter: Rechtsextremismus

Politik

Die jüngsten Militäraktionen Israels galten nicht der Hamas, sondern dem Islamischen Dschihad Palästina (PIJ). Judith Poppe erklärt für die taz, wer diese kleine, aber bestens mit Waffen versorgte Gruppe ist: "Die eng mit dem Iran verbundene militante Organisation bezieht ihre Ressourcen aus ebendieser Republik. Der Islamische Dschihad Palästina (PIJ) wurde 1981 formell von ehemaligen Muslimbrüdern gegründet, allen voran Fatih Shakaki und Abd al-Aziz Awda. Bis Ende der 1970er Jahre waren die beiden palästinensischen Studenten in Ägypten Mitglieder der Muslimbrüderschaft. Von dieser Organisation wandten sie sich jedoch enttäuscht ab. Zu moderat wurde sie in ihren Augen, engagierte sich nicht ausreichend für die palästinensische Sache. Stattdessen rückten die beiden mit der Gründung der PIJ die Idee des Dschihadismus ins Zentrum, inspiriert von Ajatollah Chomeini und seiner Islamischen Revolution im Iran Ende der 1970er Jahre."

Xi Jinping hat sich im Blick auf Taiwan jede Möglichkeit eines Kompromisses versperrt. Aber auch für Taiwan liegen die Dinge klarer als vor Jahren, schreibt Alexander Görlach in der SZ: "'Ein Land, zwei Systeme' ist tot, auch in den Augen der Taiwaner. Heute sehen sich weit mehr als achtzig Prozent von ihnen als Taiwaner, nicht als Chinesen. Tsai Ing-wen wurde 2021 vor allem deswegen wiedergewählt, weil sie sich auf die Seite der Hongkonger gestellt und geschworen hat, die Demokratie und Freiheit in der Republik China gegen den Aggressor in Peking zu verteidigen."
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Ideen

Irritierend findet Claudia Mäder in der NZZ am Begriff der "Kulturellen Aneignung" vor allem, dass er das Kulturelle verdinglicht und ökonomisiert: "Vieles ist verstörend am Konzept der Aneignung, die unterstellte Omnipräsenz des wirtschaftlichen Denkens aber irritiert besonders. Gewiss wäre es naiv, Kultur ohne Ökonomie zu denken. Doch alles durch die Brille der Ökonomie zu betrachten, bedeutet, den Blick auf den Menschen zu verzerren. Als ob jede einzelne unserer Regungen das Resultat einer profitorientierten Überlegung wäre!"
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Stichwörter: Kulturelle Aneignung

Medien

Dies ist der Bericht, der - neben einem Artikel aus der Bild-Zeitung (nur hinter Paywall) - die RBB-Intendantin Patricia Schlesinger zu Fall gebracht hat. Gestern Abend erklärte sie ihren Rücktritt als Intendantin, mehr hier. Jan C. Wehmeyer hatte für den Business Insider über die allzu statusbewusste Führungskultur Schlesingers berichtet und konnte ein paar neue Details dazu benennen: "Nach Informationen von Business Insider hat Schlesinger 2021 neben ihrem Grundgehalt einen Bonus von mehr als 20.000 Euro erhalten. Der RBB sagt zu der Höhe: nichts. Stattdessen erklärt ein Sprecher: 'Die ARD weist für die Intendantinnen und Intendanten die Grundvergütung aus, das tut auch der RBB. Variable Gehaltsanteile für außertariflich bezahlte Führungskräfte sind im RBB seit Jahren gängige Praxis.' (...) Business Insider machte daher bereits vor einer Woche eine Umfrage bei anderen ARD-Anstalten: Erhält auch dort eine Intendantin oder ein Intendant eine variable Vergütung? WDR, SWR, MDR und Co. verneinen dies." Auch ihre persönlichen Zusatzsteuern, die sie für ihren exorbitanten Dienstwagen zu bezahlen hatte, soll der Sender kompensiert haben. Bild hatte parallel dazu über die luxuriöse Renovierung des Chefinnenbüros berichtet.

"Der Fall Schlesinger schadet den Öffentlich-Rechtlichen gewaltig", schreibt Kurt Sagatz, Medienredakteur des Tagesspiegel, in einem der ersten Kommentare zum Rücktritt Schlesingers: "Am Ende ist Patricia Schlesinger an ihrer Hybris gescheitert. Eine öffentlich-rechtliche Senderchefin kann nicht gleichzeitig am Programm sparen, bis es knirscht - siehe Kulturradio und TV-Vorabend - und gleichzeitig Beitragsgelder für Prestigeprojekte ausgeben. Glaubte sie wirklich, dass einer Führungsfigur wie ihr das alles zusteht oder hoffte sie, dass dies geheim bleibt - in einem Medienunternehmen? Das ist nicht nur vermessen, sondern schlicht weltfremd."
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