Efeu - Die Kulturrundschau

Aus dem Arsenal der Trillerpfeifendemokratie

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2020. In der NZZ erklärt Vittorio Lampugnani den öffentlichen Wohnungsbau zur Grundsubstanz der Stadt. Die SZ bemerkt eine wachsende Abwehr gegenüber Schiene und Straße, die einst den Anschluss an die Welt bedeuteten. Die FAZ lernt Ingeborg Bachmann als Antipodin des Realismus kennen. Die taz porträtiert das Jewish Chamber Orchestra von München. Ai Weiweis Tiraden gegen Berlin machen Tagesspiegel und Berliner Zeitung beinahe sprachlos.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.02.2020 finden Sie hier

Kunst

Ai Weiwei wütet in einem wirklich anstrengenden Interview mit Susanne Lenz in der Berliner Zeitung gegen Berlin, "die langweiligste, hässlichste Stadt, die es gibt", gegen die Berlinale, die schon wieder seinen Film nicht ins Programm genommen hat, gegen die faulen Studenten, das korrupte System und überhaupt die chinahörigen Deutschen. Ernst nehmen kann man das Rumgemotze nicht: "Ich könnte ein ganzes Buch über Deutschland schreiben. - Tun Sie das doch. - Ich bin zu beschäftigt. Es gibt Wichtigeres als Deutschland. Genießt doch eure Berlinale, oder wie das heißt. - Werden Sie Ihr Studio hier behalten? - Wenn die Deutschen mich weiter unter Druck setzen, muss ich es aufgeben. - Wer setzt Sie unter Druck? - Das möchte ich Ihnen nicht sagen. Ich werde von der deutschen Gesellschaft unter Druck gesetzt. Das ist okay. Ich kenne ihre Geschichte, weiß, wer ihre Großeltern sind." Ach ja, und noch nie hat ihn die deutsche Presse nach seiner Meinung gefragt, wie eine kleine Stichprobe beim Perlentaucher, ähem, nicht bestätigt! Im Tagesspiegel versucht Birgit Rieger, angesichts von Ai Weiweis Tiraden fair zu bleiben.

Johanna Diehl: ARS, 2019, Filmstill. Bild: Haus am Waldsee

Hellauf begeistert kommt SZ-Kritiker Peter Richter aus der Ausstellung Johanna Diehls, die er bisher als Fotografin kannte und die im Haus am Waldsee in Berlin die Geschichte ihrer Familie aufbereitet: "Als reine Abrechnung mit dem Bürgerlichen als Milieu wie als Haltung (Stichwort Affektkontrolle), bestünde auch hier die Gefahr von Selbstgerechtigkeit. Aber die Dinge sind zum Glück ambivalenter: Selbst für die kalte Großmutter gibt es auch noch andere Sichtweisen, solche, die mehr mit Traumaverarbeitung zu tun haben zum Beispiel. Die Leistung dieser Arbeit ist es, in dieser Ambivalenz eine ganze ästhetische Welt dingfest zu machen. Die Begegnung eines Marmorfußbodens mit dem Heckfenster eines XJ8 kann man, wenn man will, immer als eine Anklage lesen - aber auch als eine Würdigung. Und in dieser Weise gelesen ist Johanna Diehls 'In den Falten das Eigentliche' tatsächlich der beste bundesdeutsche Familienroman, den man zur Zeit nicht im Buchhandel bekommt."

Die Kunstwelt diskutiert wieder über die NS-Vergangenheit ihrer bundesdeutschen Galionsfiguren. In der Welt wundert es Hans-Joachim Müller nicht sonderlich, dass auch Documenta-Gründer Werner Haftmann schwer belastet war, wie eigentlich jeder, der nicht emigriert war. Trotzdem bereitet ihm der eilfertige Sound der Kunst-Internationalität, den auch Haftmann anschlug, Unbehagen: "Wer heute die Kataloge der Documenta I bis III durchblättert, begegnet einem Pathos kunstmoralischer Integrität, das so etwas wie Scham angesichts des zerbombten Größenwahns gar nicht erst aufkommen lässt."

Zum Tod der französischen Comic-Zeichnerin Claire Bretécher schreibt Christian Thomas in der FR und betont, dass sie nicht nur feministische Karikaturistin war, als dies noch nicht in Mode war, sondern viel viel mehr: "Nämlich eine scharfe Beobachterin der sprichwörtlichen 'Mythen des Alltags', also der falschen Versprechungen, der wahren Sehnsüchte und unserer dazwischen changierenden Enttäuschungen." So witzig war Gesellschaftskritik nur bei ihr, meint auch Lars von Törne im Tagesspiegel.
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Architektur

"Eine Stadt ist nur dann attraktiv, wenn ihr Kern bewohnt ist - und zwar dicht und von unterschiedlichen Menschen. Dafür braucht es auch billige Wohnungen", mahnt der Architekturhistoriker Vittorio Magnago Lampugnani in der NZZ und fordert mehr öffentlichen Wohnungsbau: "Neben ihrer unverändert wichtigen sozialen Aufgabe, einen ökonomisch geschützten Ort für das umfassende Wohl ihrer Bewohner zu schaffen, obliegt den kollektiven Wohnbauten eine zweite, nicht minder bedeutsame: die städtebauliche. Sie sind, Brinckmanns Axiom folgend, die Grundsubstanz der Stadt. Weit effektiver als die urbanen Monumente modellieren sie ihre Freiräume und bestimmen deren Bild. Hinter ihren scheinbar alltäglichen Putz- oder Backsteinfassaden verbirgt sich ein überreiches Spektrum typologischer, konstruktiver und architektonischer Varianten: vom geschlossenen Block zum offenen Hof, von der rhythmischen Kammbebauung zum räumlich vielfältigen Labyrinth."

Das Architekturbüro RKW+ plant eine Überbauung der Bahnstrecke, die sich durch Düsseldorf zieht, und möchte gleich einen ganzen Stadtteil darüber errichten. Klingt verrückt, ist aber eigentlich eine tolle Idee, meint Gerhard Matzig in der SZ. Nur leider lässt sich heute mit solchen Großprojekten kein Blumentopf mehr gewinnen: "Wo immer möglich wenden sich mittlerweile die Bewohner der Städte von den zu breiten Ausfallstraßen und den zu lauten Gleisarealen ab. Schiene und Straße: Einst gehörten sie zum Stolz der Stadt. Sie waren Garanten für den Anschluss an die Welt. Heute werden die Infrastrukturen, die eigentlich nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben, bestenfalls in Kauf genommen. Und schlimmstenfalls werden sie mit den Mitteln aus dem Arsenal der Trillerpfeifendemokratie bekämpft."
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Bühne

Besprochen werden Friederike Hellers Bühnenfassung von Ingo Schulzes "Peter Holtz"-Roman am Dresdner Staatsschauspiel (taz) und Anna-Elisabeth Fricks Inszenierung von Dea Lohers Stück "Das letzte Feuer" an den Théâtres de la Ville de Luxembourg (Nachtkritik).
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Film

Wirklichkeit und Fiktion: Problematisch in "Bombshell"

Langsam sickert die Aufarbeitung von #MeToo auch in die Produktion des Hollywoodkinos ein: Jay Roachs "Bombshell" erzählt, wie die Moderatorin Gretchen Carlson - im Film gespielt von Nicole Kidman - 2016 Roger Ailes vom Krawallsender Fox News zu Fall brachte. Die Art der Umsetzung dieses Films kommt bei den ersten Kritiken allerdings nicht gut an: Dass es bei Fox News zu Übergriffen kam, war kein Zufall, sondern fast schon Teil des Gesamtpakets, erklärt Sabine Horst auf ZeitOnline: Denn "Sexismus ist ein integraler Bestandteil der rechtspopulistischen Agenda, mit der der zum Murdoch-Imperium gehörende Kanal sein Geld einspielt. Und die Frauen, die 'Bombshell' vorstellt, haben dieses Programm, zum Teil an vorderster Front, repräsentiert und mitgetragen. Ein Widerspruch, den der Film nicht aushält, sondern aus dem er sich herauswindet - indem er die 'Frauenfrage' im Stil liberaler Identitätspolitik von allen anderen Formen der Unterdrückung trennt und die unbequemeren Eigenschaften der Protagonistinnen herunterspielt."

Ähnliches beobachtet Susan Vahabzadeh in der SZ: Dass der Film die Figur der Megyn Kelly (Charlize Theron), die mal dafür bekannt war, nicht unbedingt im positivsten Sinne erheblich auf den Putz zu hauen, aus dramaturgischen Gründen als Heldin darstellt, grenze an Geschichtsklitterung. Und das ist symptomatisch, findet Vahabzadeh: Roach versuche "jegliche Politik, also allen Kontext, aus seinem Film herauszuhalten - Fox News zeichnet er als normalen Nachrichtensender, bloß mit Belästigung, und Megyn Kelly als Vorkämpferin für Frauenrechte. Die Murdochs sind bei ihm keine politischen Drahtzieher, sondern Beobachter, die ganz irritiert aus der Ferne mitbekommen, dass Ailes - oh Schreck! - Mitarbeiterinnen belästigt hat. 'Bombshell' hat ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit."
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Literatur

Für die FAZ hat Sandra Kegel Ingeborg Bachmanns Bruder Heinz Bachmann und die Bachmann-Biografin Andrea Stoll zum großen Gespräch über die Schriftstellerin und deren Relevanz heute an einen Tisch gesetzt. Für Stoll war Bachmann eine Anitpodin zum Realismus, für den in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur Frisch, Böll, Grass und Andersch standen: "So hat Bachmann nie gedacht. Für sie war die Realität bloß Ausgangsmaterial, das sie motivisch verdichtete und konzentrierte, um zu einer präziseren Wirklichkeit zu gelangen. Das Reale hat sie kompositorisch bearbeitet, in den großen Romanmanuskripten ebenso wie in ihrer Lyrik. ... Bachmann war geprägt durch die Stimmenvielfalt Kärntens. Die vielen Sprachen und Mentalitäten dort lehrten sie früh, dass es immer mehr gibt als nur eine Perspektive, um Wirklichkeit zu erfassen. Das hat sie immun gemacht gegen Faschismus und nationalen Kleingeist."

Weitere Artikel: Die Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse wurden bekannt gegeben - und Mladen Gladic erwartet im Freitag das übliche Kommentatorenspiel: "Na, denn mal losdiskutiert, kritisiert, ergänzt, verworfen!" Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer blickt in der NZZ wehmütig zurück auf die Zeit, als die gesichtslosen Stimme der Telefonauskunft noch die Herausgabe von Wissen verwalteten - eine "ehrwürdige Einrichtung" von "Gottähnlichkeit". Im Tagesspiegel stellt Peter von Becker einige Neuveröffentlichungen zum Hölderlin-Jahr vor. In der SZ gratuliert Daniela Strigl dem Schriftsteller, bildenden Künstler und Musiker Gerhard Rühm zum 90. Geburtstag. Christian Schlüter (FR), Lars von Törne (Tagesspiegel) und Christoph Haas (SZ) schreiben Nachrufe auf die Comiczeichnerin Claire Bretécher.

Besprochen werden Monika Helfers "Die Bagage" (NZZ), Josef Haslingers "Mein Fall" (Freitag, Tagesspiegel), Christian Barons "Ein Mann seiner Klasse" (NZZ), Eva Weissweilers Buch über die Ehe von Dora und Walter Benjamin (Dlf Kultur), Lars Gustafssons Nachlassroman "Dr. Weiss' letzter Auftrag" (Dlf Kultur), Elisabeth Klars "Himmelwärts" (FR) und Thomas Mullens Krimi "Weißes Feuer" (Intellectures).
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Musik

Für die taz porträtiert Dominik Baur Daniel Grossmann, Chefdirigent des Jewish Chamber Orchestra Munich, das gerade an einer musikalischen Untermalung von "Nacht und Nebel" von Alain Resnais arbeitet. Was genau macht ein Orchester jüdisch, möchte Baur wissen: "'Die Thematik', sagt Grossmann. 'Ich kenne kein anderes Orchester, das sich explizit so einem inhaltlichen Thema widmet und es so verfolgt.'' Was die Sache nicht unbedingt leichter macht. Nicht fürs Orchester, aber auch nicht fürs Publikum. 'Wir bieten nicht Genuss, bei uns muss man schon irgendwie auch mitdenken', erklärt der Dirigent. 'Meistens haben unsere Konzerte auch eine thematische Idee, eben einen Ausschnitt aus dem Judentum.' Da reiche es nicht zu sagen: 'Hier habe ich ein interessantes Werk von einem jüdischen Komponisten, und das spielen wir jetzt mal.'"

Weitere Artikel: Ein Großbrand in einer der beiden großen Vinyl-Rohlinge-Fabriken in den USA bedroht den Vinylmarkt, meldet die Welt. Arne Löffel plaudert in der FR mit DJ Hell. Simon Rayß spricht im Tagesspiegel mit Kevin Parker über sein neues Tame-Impala-Album "The Slow Rush" (mehr dazu bereits hier). Anlässlich der kommenden Tour von Guns'n'Roses erinnert sich Ronald Pohl im Standard an "Led Zeppelin! Brunftschreie! Doppelhalsgitarren!"

Besprochen werden ein Bach-Konzert mit András Schiff ("ein milder, aber in jedem einzelnen Ton klug und fantasievoll gestalteter Bach", schreibt Christian Wildhagen in der NZZ), die Ausstellung "Wie geht es dir jetzt?" in der Bremer Galerie K-Strich, die sich mit Aspekten der Kleidung in den Arbeiten der Berliner Punkband Die Tödliche Doris befasst (taz) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Green Day ("Blanker Eskapismus, Partypunk", wird hier geboten und das obwohl in der Ära Trump doch gerade erheblicher Bedarf an Polit-Punk besteht, meint SZ-Popkolumnist Max Fellmann).
Archiv: Musik