Im Kino

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Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
17.05.2016. Erste Höhepunkte in Cannes: Ein kollektiver Filmrausch macht Maren Ades "Toni Erdmann" zum Favoriten des Festivals, Jim Jarmuschs "Paterson" findet die Poesie und Pedro Almodóvars "Julieta" den Grund des Schicksals. Nur die Franzosen kommen nicht gut an.

Emma Suárez in Pedro Almodóvars "Julieta"

Als sie die Handschrift ihrer Tochter auf dem Briefumschlag erkennt, bricht die Mutter in Tränen aus. Es ist der 19. Geburtstag von Antía, die Mutter hat eine Torte gekauft, obwohl sie kaum darauf hoffen konnte, dass die Tochter sich noch zeigt. Denn mit ihrer Volljährigkeit hat Antía den Kontakt abgebrochen, sie wird sich zwölf lange Jahre verweigern. Und der so sehnsüchtig empfangene Brief enthält nichts als eine vorgedruckte Aufklappkarte. Julieta, die Hauptfigur in Pedro Almodóvars gleichnamigen Film, ist eine selbstbewusste Akademikerin, aber jetzt bricht es ihr fast das Herz.

Und damit hat das diesjährige Filmfest in Cannes sein Thema - oder zumindest ein Thema: Eltern, die von ihren Kindern verlassen werden. Nicht wie früher einmal, als Eltern sich nicht lösen konnten, sondern in einer neuen Form: Akademische, moderne, nicht klammernde Menschen, aus einer Generation, die die Ablösungskämpfe ihrer Elterngeneration immer vermeiden wollten. Und die nun ebenso alleingelassen dastehen wie jene, weil mit den Kindern etwas passiert ist, was nicht in ihrer Macht liegt. Bei Almodóvar, dazu später mehr, ist es wie so oft bei ihm eine schicksalshafte Familienverwirrnis.

Das Thema gesetzt aber hat am Anfang des Festivals ein anderer Film, der schon bei seiner ersten Vorführung das Festivalpublikum erfasst hat, und der mit jedem Tag der seitdem vergeht, mit jedem anderen Film, der seitdem gezeigt wird (und es sind einige Gute darunter), noch stärker, noch unentrinnbarer, noch stilbildender wird: Die Rede ist von Maren Ades Vater-Tochter-Geschichte "Toni Erdmann", die so sicher, so konsequent, so ohne jede Unentschlossenheit erzählt ist, als käme sie von einem Altmeister und gleichzeitig so unkonventionell, so hakenschlagend und unverdrossen entwickelt wird, als sei Maren Ade gerade erst von einem anderen Filmplaneten in das Cannes-Universum geschleudert worden, um diesem eine andere Richtung zu geben.


Sandra Hüller in Maren Ades "Toni Erdmann"

Wenn nur die Deutschen aus dem Häuschen wären, wäre das ja noch verständlich: Es ist ihre erste Präsenz im bedeutendsten Filmwettbewerb der Welt nach sieben Jahren, so dass die Branche seit einer Weile diskutiert, ob ein Fluch daran Schuld ist oder Ressentiment. Aber die Festivalteilnehmer aus anderen Ländern, die trotz des klugen Vorgängerfilms der Regisseurin "Alle Anderen" noch nie was von Maren Ade gehört haben und, obwohl Sandra Hüller eine mehrfach ausgezeichnete Schauspielerin ist, noch nie etwas von der Hauptdarstellerin - sie scheinen viel begeisterter als die Deutschen. Im internationalen Kritikerspiegel des Fachblatts Screen International gab es das noch nie, dass acht von elf Kritikern die Höchstnote vergeben (und der Rest die zweithöchste). Und, zum Beispiel, Libération schrieb von "kollektiven Orgasmen" im Kino beim Anschauen von Ades Werk, vergleicht Hüller mit Cate Blanchett und widmet ihr eine ganze Zeitungsseite, über der eine deutschsprachige Überschrift steht: "Deutsche Qualitätsarbeit".

Es ist ein bisschen beängstigend, wie sehr "Toni Erdmann" erst nach ein paar Tagen Festival schon in die Favoritenrolle gedrängt wurde. Aber es stimmt ja, verdient hätte der Film es, und zwar jeden Preis, den die Jury zu vergeben hat: Das Drehbuch von Ade, bis in die letzte kleine Wendung ausgefeilt. Ihm fehlen völlig die kleinen Inkonsistenzen, Längen, Nachlässigkeiten, die oft die deutschen Filme auszeichnen, deren Autoren nicht durch Hollywoods Drehbuch-Entwicklungs-Hölle gegangen sind. Die beiden Hauptdarsteller, Hüller und Peter Simonischek, die beide mit großer Selbstsicherheit die Balance halten. Bei Hüller ist es die Balance zwischen der entschlossenen Karriere-Unternehmensberaterin einerseits, der ihre Kollegen anerkennend zurufen: "Du bist ein Tier!", wenn sie wieder einen Kunden überzeugt hat. Und dem sehnsüchtigen, haltlosen Tochter-Menschen andererseits, der nur durchscheinen darf. Aber das ist wichtig, weil dieser Film in jeder Minute klar macht, dass er von Menschen erzählt und nicht von Tieren im Sinne des Consulter-Jargons. Bei Simonischek, der den Vater spielt, ist es die Balance zwischen dem hintergründigen, harmoniebedürftigen Klavierpädagogen aus der Provinz einerseits. Und andererseits seiner eigenen Haltlosigkeit, die ebenfalls nur durchscheinen darf, aber hinter der, natürlich, auch die Angst vor dem Tod steckt.


Sandra Hüller und Peter Simonischek in "Toni Erdmann"

Das sind jetzt also die großen, existenziellen und tragischen Dinge, aber man darf nicht annehmen, dass da nun ein schwermütiger Film daraus geworden ist, wie man es vielleicht von den Deutschen erwartet hätte. Und dafür schon hätte nämlich Maren Ade eine Palme verdient, dass sie ebendiese Geschichte mit entgrenzender Fantasie entwickelt, sie mit einem skurrilen Humor durchzieht und mit einem ungewohnt lebensbejahenden Grundton versieht, dass man - obwohl es fast drei Stunden über Bindung und Sinn und Tod und andere gewichtige Dinge geht - einen saulustigen, absolut kurzweiligen Film vor sich hat, nach dessen Anschauen man geneigt ist, sein Leben zu ändern.

Schon haben amerikanische Kritiker gemutmaßt, dass demnächst Hollywood wegen der Remake-Rechte bei Ade anklopfen könnte. Und es stimmt, die Geschichte könnte man sich auch als große amerikanische, auch französische oder italienische Produktion vorstellen, aber ob das so gut würde? Denn das ist auch ein bisschen tragisch, dass man es in Deutschland beim breiten Publikum weder recht gemerkt hat, noch wirklich zu schätzen weiß, dass hier längst wieder Filme von, mindestens, europäischem Format entstehen. Diese Ignoranz lässt sich etwa beobachten, wenn die großartige Julia Jentsch, ausgezeichnet vor zwölf Jahren hier in Cannes (für "Die fetten Jahre sind vorbei"), mit dem Silbernen Bären (für "Sophie Scholl") und gerade auf der Berlinale brilliert in "24 Wochen" - wenn also eine solche Ausnahmeschauspielerin hier in Cannes alleine bei einem Jubiläumsempfang der NRW-Filmstiftung herumsteht, während jede französische oder italienische Nebendarstellerin mit einer ganzen Entourage herumzieht. Schade dass die Palmen nicht als nationalpsychologische Antidepressiva gedacht sind, sonst wäre schon klar, was die Jury jetzt tun müsste.


Adam Driver und Golshifteh Farahani in Jim Jarmuschs "Paterson"

Aber es geht ja um die Qualität der Filme. Und da hat Cannes, wie gesagt, mehr zu bieten. Zum Beispiel Jim Jarmusch. Der amerikanische Independent-Veteran war zuletzt mit einem Vampirfilm hier in Cannes. Dieses Mal hat er mit "Paterson" ein leises, poetisches, liebevolles, man könnte fast sagen: Alterswerk mitgebracht. Aber das trifft es dann wieder nicht so ganz, dafür ist die Geschichte über Paterson, einen Busfahrer aus (genau!) Paterson, New Jersey, dann zu eigensinnig und leichtherzig. Paterson, der Busfahrer wird von Adam Driver als gutherziger Normalo gespielt, der mit seiner Cupcakes-backenden bildschönen Frau in dem Provinzstädtchen friedlich einherlebt. Noch harmloser würde es wohl nicht mal in einer Romantic Comedy aus Hollywood gehen. Aber Jarmuschs Film handelt von der Poesie des Unspektakulären und komponiert um das schöne Paar selbst eine Geschichte, die wie ein Gedicht funktioniert und strukturiert ist. Wussten Sie schon, dass der Maler Jean Dubuffet Meteorologe auf dem Eiffelturm war? Oder dass der Dichter William Carlos Williams Arzt war, genau der, dessen Hauptwerk "Paterson" in einem Provinzkaff in New Jersey spielt? Und der Busfahrer Paterson in Paterson schreibt auch schlichte kleine Gedichte, liebt seine Frau, führt den Hund aus und rettet einen liebeskranken Schauspieler vor dem Spielzeugpistolensuizid in seiner Stammkneipe. An Romantic Comedy wollen wir da gar nicht mehr denken.

Ein Filmland, in dem Palmen aus Cannes als nationalpsychologische Antidepressiva wunderbar wirken, ist übrigens seit neun Jahren Rumänien. Cristian Mungiu, der 2007 mit "4 Monate, 3 Wochen und zwei Tage" 2007 die Goldene Palme gewonnen hat, kommt mit seinem neuen Film erst am Freitag dieser Woche nach Cannes. Aber Cristi Puius Familiendrama "Sieranevada", das schon vergangene Woche lief, wurde sehr positiv aufgenommen. Durch alle Programmreihen zeigen rumänische Filme dieses Jahr eine Rekordpräsenz, wie gerade das Filmzentrum jubelt. Vielleicht profitieren die Rumänen auch davon, dass es in Osteuropa, anders als in Berlin, Paris, New York noch so viele undefinierte Landschaften, nicht auserzählte Geschichten unerhörte Schicksale gibt. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass auch Maren Ades "Toni Erdmann" großenteils in Bukarest angesiedelt ist, dessen leere Nicht-Orte Sandra Hüllers Figur mit all ihrem turbokapitalistischen Furor durchmisst.

Einen ganz anderen leeren Nicht-Ort hat Bogdan Miricas unerbittlich langsam erzählter Ost-Western "Caini" (Hunde) gefunden, der in einer Art gesetzlosen Niemandsland zwischen Donau und ukrainischer Grenze spielt. An Ordnung und Gesetz glaubt hier niemand mehr, am wenigsten der müde Dorfpolizist, der missmutig das, was mal ein menschlicher Fuß war, aus einem Lederstiefel kratzt. Von hier aus betrachtet ist Bukarest ein Raum der Illusion von Ordnung, daher ist Roman in die unfruchtbare Brache gekommen, die er geerbt hat. Kunstvoll entwickelt Mirica das Porträt eines Landes, das gegen Veränderung so resistent ist, wie gegen menschliche Regeln. Brutal vollzieht sich der Fluch des Ortes.


Kristen Stewart in Olivier Assays' "Personal Shopper"

Wer definitiv nicht über einen Fluch in Cannes klagen kann, sind die Franzosen. Mit fünf Filmen sind sie allein im Wettbewerb vertreten, doch bislang haben sie da zum großen Teil enttäuscht. Frankreichs Filmhoffnung Olivier Assayas ("Carlos, Der Schakal") liefert mit "Personal Shopper" eine verschwurbelt-esoterische Geistergeschichte ab. Und Nicole Garcia legt zwar in "Mal de pierres" alles auf den Tisch, was der Weltmarkt vom französischen Kinos erwartet: Die warme südfranzösische Abendsonne, in der sich anmutig die Lavendelfelder wiegen, die zum Akkordeon feiernde Landbevölkerung, mitten darin die große Marion Cotillard als Landfranzösin mit einer so unstillbaren Sehnsucht nach Liebe und Sex, dass sie sich den Lavendel-Erntehelfern bald nackt im Fenster präsentiert und folglich als reif für die Klapsmühle gilt. Der einzige Ausweg ist die von der Mutter arrangierte Zweckehe. Die das Verlangen aber nicht befriedigen kann, was erst ein elegisch in ein Schweizer Sanatorium hindrapierter Indochina-Veteran besorgt (Wir schreiben die Fünfziger Jahre). Am Ende aber akzeptiert Gabrielle mit dem Kruzifix in der Hand das Zwangsfamiliengefängnis als vollkommenes Glück, so reaktionär sind die Botschaften des französischen Kinos geworden.

Auch das Hollywood-Drama "Loving" ist in einer wunderschön arrangierten Fünzigerjahre-Provinz mit warmen Licht angesiedelt, nämlich in Virginia. Die von Jeff Nichols als routiniertes Stück Gefühlskino erzählte Geschichte von Mildred und Richard Loving handelt von einem einfachen Paar auf dem Land, das immerhin Geschichte schreibt: Sie erreichen schließlich jenes Urteil des Supreme Court, das in vielen Bundesstaaten das Verbot von Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen kippt, das die Musterfamilie der Lovings in Gefängnis, Emigration und Unglück geführt hat.


Ruth Negga und Joel Edgerton in Jeff Nichols' "Loving"

Bemerkenswert: Nichols' glatte Südstaatengeschichte ist bislang der einzige politische Film des Wettbewerbs, abgesehen natürlich von Ken Loach, der sich in "I, Daniel Blake" wie eh und je über die Benachteiligung der Benachteiligten empört. Die Geschichte um einen herzkranken Tischler und eine alleinerziehende Mutter, die verzweifelt um ihre Sozialhilfe kämpfen müssen, ist nach ein paar Enttäuschungen wieder einer der besseren Loach-Filme und doch gibt es auch hier Momente, in dem die Armen besser und die Welt böser wird, als es der Geschichte guttut.

In Cannes werden ansonsten in diesem Jahr - zumindest bislang - nicht die politischen, sondern die menschlichen Verhältnisse ausgeleuchtet. Und damit zurück zu Almodóvar: Gemessen an dessen sonstigen Filmen ist die Familien- und Herkunftsverwirrnis in "Julieta" überraschend konventionell, aber dafür hat die Geschichte wieder Momente von einem antiken Schicksalsdrama um Schuld und Verhängnis: Der Vater von Antía war nämlich Fischer und ist vor Jahren in einem Sturm von biblischen Ausmaßen auf seinem Boot ertrunken. Doch ob es die Strafe für Xoans gelegentliche (und weithin bekannten) Eskapaden mit der schönen Töpferin war? Oder trifft sie nicht vielmehr Gattin Julieta, die ebendiese am nämlichen Morgen in Frage gestellt hat? Macht sich gar Antía selbst zu recht verantwortlich? Almodóvar beantwortet diese Fragen nicht, lehrt aber, dass Schuld keine streng kausale Angelegenheit des Schicksals ist, sondern die Sache des Individuums, das danach sucht. Und dass es weiterleben muss.