9punkt - Die Debattenrundschau

Offerte an die Bevölkerung flacher Inselstaaten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.11.2018. Zumindest in der Ost-Ukraine arbeiten Linkspartei und AfD als Wahlbeobachter für Russland traut zusammen, erzählt die investigative Plattform Codastory. Donald Trump veröffentlicht eine Liebeserklärung an Saudi-Arabien, die New York Times ruft zur Rebellion der Abgeordneten auf. In der SZ träumt Claus Leggewie von einem Klimapass, der eine unkomplizierte Migration erlaubt. Le Point hat den Bericht von Bénédicte Savoy über die Restitution afrikanischer Kunstwerke aus französischen Museen schon gelesen. Das europäische Leistungsschutzrecht wird vor allem ein Axel-Springer-Recht sein, erklärt Julia Reda im Standard.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.11.2018 finden Sie hier

Europa

Ian Bateson erzählt auf der stiftungsfinanzierten investigativen Plattform codastory.com, wie sich Russland für seine fabrizierten Wahlen in der Ostukraine mit "Wahlbeobachtern" aus dem Westen ausstaffiert, die dem russischen Fernsehen dann selbstverständlich einen vorbildlichen Verlauf der Wahlen attestieren. Dabei kommt es zu überraschenden Koalitionen: "Während der jüngsten Wahlen in Donezk arbeiteten Mitglieder der deutschen Linkspartei und brasilianische Kommunisten Seite an Seite mit Repräsentanten der Alternative für Deutschland, des belgischen Vlaams Belang und der Lega Nord des italeinischen Innenministers Matteo Salvini."
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Politik

Donald Trump hat auf den Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi, der laut CIA-Informationen wohl kaum ohne Zustimmung des saudi-arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman geschehen konnte, gestern mit einer Art schriftlichen Liebeserklärung an Saudi Arabien reagiert. Die New York Times schreibt im Editorial:  "Da der Präsident nicht führt, fällt es dem Kongress zu, Maßnahmen zu ergreifen und Amerikas Ansehen in der Welt zu schützen. Donald Trump weiß, dass er sich auf einem Kollisionskurs mit dem Gesetzgeber befindet: Am Schluss seiner Erklärung warnt er Mitglieder des Kongresses, die 'aus politischen oder anderen Gründen in eine andere Richtung gehen wollen', es nur zu versuchen."

In der SZ schlägt Claus Leggewie die Schaffung eines Nansen-Passes für Klimaflüchtlinge vor. Der soll die sichere Migration von hunderten Millionen Menschen in die westlichen Industriestaaten gewährleisten (Leggewie plädiert zwar für Aufnahmequoten nach dem Verursacherprinzip, aber dass Russland oder China keine Millionen Flüchtlinge aufnehmen, weiß auch er). "Bei der 24. Klimakonferenz im Dezember im polnischen Katowice (Kattowitz) sollte die Bundesregierung den Klimapass als Offerte an die Bevölkerung flacher Inselstaaten, die die 39 Aosis-Staaten bilden, vorschlagen und Maßnahmen empfehlen, die Migranten in den Aufnahmeländern ein prekäres Dasein ersparen. ... Die Lücken des Nansen-Passes sprechen nicht gegen, sondern für eine frühzeitige Befassung mit dem Klimapass. Ein Utopist ist nur, wer nichts tut. Anders als die Rechte behauptet, muss Europa dem Migrationspakt zufolge nicht 'alle' aufnehmen. Am Erfordernis der normativen und operativen Weiterentwicklung eines humanitären Kosmopolitismus ändert das jedoch nichts."

Inzwischen hat auch Australien - nach den USA, Ungarn, Österreich, Tschechien, Bulgarien, Estland, Israel und Polen - seine Ablehnung des UN-Migrationspakts ausgesprochen, meldet Zeit online: " Australiens konservative Regierung sagte, der Pakt könnte zur illegalen Einwanderung in das Land ermutigen. Dies bedrohe hart erkämpfte Erfolge im Kampf gegen den Menschenschmuggel. Der Migrationspakt sei nicht im Interesse Australiens und stehe im Widerspruch zur Politik seiner Regierung, sagte Premierminister Scott Morrison."
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Religion

Die Ahmadiyya-Gemeinde, die von vielen Mit-Muslimen gar nicht als islamisch anerkannt wird, gibt sich in Deutschland reformislamisch und genießt in einigen Bundesländern hohe Anerkennung. Ihre freundlich wirkende Außenseite schützt sie zur Not auch juristisch, wie sich nun in einer Klage der Gemeinde gegen die freie Autorin Necla Kelek zeigt, die die Gemeinde in einem Interview als "Sekte" bezeichnet hatte. Durch ihre Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts darf die Gemeinde in einigen Bundesländern Religionsunterricht erteilen, schreibt Daniel Haas in der NZZ: "Auch im Hinblick auf das pädagogische Image wäre ein auf Austausch basierender Umgang mit Kritik wünschenswerter als der Versuch, auf dem Rechtsweg einen Maulkorb zu erteilen."
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Urheberrecht

Instruktiv liest sich ein Interview, das Fabian Sommavilla für den Standard mit der EU-Abgeordneten Julia Reda über die EU-Urheberrechtsreform geführt hat. Sie kritisiert da die SPD, die dem Leistungsschutzrecht zugestimmt hat, weil sie sich gleichzeitig Verbesserungen für Urheber erhoffte, die nun aber auch noch kassiert zu werden drohen. Wenn das europäische Leistungsschutzrecht durchkommt, dann vor allem wegen des massiven Lobbydrucks des Axel-Springer-Verlags, so Reda: "Wo der Verlag eine große Präsenz hat und große Boulevardmedien besitzt, ist definitiv auch die Unterstützung für das Leistungsschutzrecht größer… Es gab eine Axel-Springer-Tour durch zahlreiche Mitgliedsstaaten, wo sie mehr oder weniger alle Regierungen abklapperten, wohl auch Österreich. Da gab es auch zum Teil merkwürdige zeitliche Zusammenhänge. Ungarn war im Rat beispielsweise gegen das Leistungsschutzrecht. Kurze Zeit nachdem die CSU den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu ihrem Parteitag einlud - wo auch Springer zu Gast war und es offenbar ein Treffen gab und teils auffallend freundliche Artikel in Springer-Medien folgten -, war Orbán auf einmal für das Leistungsschutzrecht."
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Kulturmarkt

Nach Jahrzehnten beim Privatfernsehen ist Christiane zu Salm in die Verlagswelt zurückgekehrt: Sie ist die neue Verlegerin des Nicolai Verlags. Im Interview mit der FR erklärt sie, warum sie jetzt zu einem Verlag gegangen ist: Hier kann man noch wirklich etwas neu machen. "Ich habe vor 30 Jahren eine Ausbildung im S. Fischer Verlag gemacht und muss zunächst einmal feststellen, dass sich so sehr viel gar nicht geändert hat. ... Ich bin aber der festen Überzeugung, dass die Branche in der Lage sein wird, sich neue Wege einfallen zu lassen. Wir zum Beispiel können, weil wir so klein sind, auf schnellere Erscheinungsrhythmen setzen. Das Buch 'Kryptopia' von Philipp Mattheis und Milosz Matuschek, in dem es um die neuen Kryptowährungen geht, ist innerhalb von drei Monaten entstanden. Es gibt bei uns auch kein Frühjahrs- und Herbstprogramm. Und was das Digitale angeht: hier gibt es auch ja noch viele unausgeschöpfte Möglichkeiten."
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Gesellschaft

Klaus Walter erzählt in der taz, wie Steve Bannon die Porno-Vokabel "Cuck" (von "Cuckold", gehörntem Ehemann, der gerne zuschaut, wenn seien Frau Sex mit einem anderen hat, mit Vorliebe einem "BBC", einem Big Black Cock) in die Zirkulation brachte. Sie stehe für die "Pornifizierung" der Politik durch die Neue Rechte, so Walter: "Cuck fungiert als Begriffscontainer für alles, was der Feminismus und die angebliche Diktatur der politischen Korrektheit aus dem einst so stolzen weißen Mann gemacht haben: Weichei, Warmduscher, Schattenparker, Sitzpinkler, Schwanzlutscher. Oder 'Jammerlappen' und 'Distanzierungs-Muschi'. So nannte der AfD-Politiker André Poggenburg kürzlich parteiinterne KritikerInnen. Der sexistisch befeuerte Antifeminismus der AfD macht auch vor den eigenen Leuten nicht halt."

Gerade hat Bundesfamilienministerin Franziska Giffey eine BKA-Statistik über Partnerschaftsgewalt vorgestellt. Danach tötet jeden zweiten oder dritten Tag in Deutschland ein Mann seine Partnerin. In der SZ fragt Julian Dörr entsetzt, warum so wenig über dieses Thema berichtet wird, und wenn, dann mit schiefer Wortwahl, etwa dem Begriff "Familiendrama": "Die Debatte darf sich nicht auf die weibliche Opferrolle fixieren, darf den Handlungsbedarf nicht allein auf Seiten der Frau suchen. Eine Veränderung beginnt mit der Anerkennung der Tatsache, dass es sich hier um ein Problem handelt, das alle angeht. Gewalt gegen Frauen ist keine Privatsache. Und noch viel weniger ist sie Frauensache. Gewalt gegen Frauen fängt bei Männern an. Sie ist das Resultat eines schädlichen Verständnisses von Männlichkeit."
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Kulturpolitik

Sehr kritisch berichtet Laureline Dupont in Le Point über den Bericht zur Restitution afrikanische Kunstwerke, den die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und ihr Kollege Felwine Sarr übermorgen Emmanuel Macron überreichen sollen. Macron wird auf einer geplanten Afrika-Reise in den nächsten Tagen sicher auf den Bericht eingehen. Dupont konnte ihn bereits lesen und kritisiert allein schon den Begriff "Restitution", der bereits eine grundlegende und ursprüngliche Schuld unterstelle - Savoy und Sarr sehen es aber so, wie aus einem Zitat aus ihrem Bericht hervorgeht: "Dieser Begriff erinnert uns daran, dass die Aneignung und der Genuss des zurückzugebenden Eigentums auf einer moralisch verwerflichen Handlung beruht (Diebstahl, Plünderung, Plünderung, Betrug, erzwungene Zustimung und so weiter)  (....) Offen über Restitution zu sprechen bedeutet, von Gerechtigkeit, Wiederherstellung, Anerkennung, Wiederherstellung und Wiedergutmachung zu sprechen, vor allem aber, den Weg für den Aufbau neuer kultureller Beziehungen zu ebnen, die auf einer neu überlegten Beziehungsethik basieren." Sarr und Savoy machen in dem Bericht auch klar, dass sie eine "temporäre" Restitution ablehnen und grundsätzlich eine dauerhafte Rückgabe befürworten. Mehr zum Thema bei Hyperallergic. Dort wird auch darauf hingewiesen, dass französische Museen bisher laut Gesetz überhaupt keine Gegenstände dauerhaft hergeben dürfen.
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Ideen

In einem längeren Essay für republik.ch leuchtet Nils Markwardt unter Zuhilfenahme einiger Neuerscheinungen (besonders Philip Manows Buch "Die Politische Ökonomie des Populismus") die komplexen Faktoren für den Niedergang der Sozialdemokratie aus, um der sozialdemokratischen Idee am Ende doch brennende Aktualität zu bescheinigen: "Tatsächlich ist der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ja keineswegs verschwunden, ganz im Gegenteil. Wurde dieser lediglich von der 'Dritte Weg'-Ideologie überdeckt, bestünde die gegenwärtige Aufgabe darin, ihm neue Ausdrucksformen zu verleihen. Innerhalb einer pluralisierten Gesellschaft, in der sich zudem die völlige Entpolitisierung der Gewerkschaften vollzogen hat, lässt sich das aber nicht mit einem Drehbuch aus den siebziger Jahren machen."
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