Magazinrundschau

Der feuchte Traum eines Mikroökonomen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
15.10.2019. New Yorker und Atlantic fühlen dem Behemoth Amazon auf den Zahn, der Kritik erstmals nicht einfach mehr wegdrücken kann. In der New York Review of Books fragt Zadie Smith, ob uns das Konzept der kulturellen Aneignung nicht denkfaul macht. Magyar Narancs und Dissent denken über Agnes Heller und ihr Verhältnis zu György Lukacs nach. Critic.de feiert die Münchner Filmemacher der 60er. Pitchfork führt uns durch die Geschichte der Conceptronica.

New Yorker (USA), 21.10.2019

In einem Beitrag des neuen Hefts untersucht Charles Duhigg in einem abgewogenen Artikel die teilweise geradezu kolonialistischen Geschäftspraktiken von Amazon. Amazon hat in Amerika viele Geschäfte verdrängt und einen neuen eigenen Marktplatz aufgebaut. Das Problem: Es stellt nicht nur den Marktplatz, es produziert auch und verkauft selbst, steht also mit seinem übermächtigen Wissen in Konkurrenz mit den kleineren Firmen, die Amazon als Plattform benutzen. Inzwischen steht es enorm unter Druck, aber seine Marktmacht aufzubrechen, ist nicht so einfach: "Tim Wu, ein Juraprofessor an der Columbia, sagte: 'Amazon ist der feuchte Traum eines Mikroökonomen. Wenn Sie ein Verbraucher sind, ist es perfekt, um möglichst effizient zu finden, was Sie wollen, und es so billig und schnell wie möglich zu bekommen. Aber die Sache ist die, die meisten von uns sind nicht nur Verbraucher. Wir sind auch Produzenten, oder Hersteller, oder Mitarbeiter, oder wir leben in Städten, in denen Einzelhändler pleite sind, weil sie nicht mit Amazon konkurrieren können, und so stellt uns Amazon irgendwie gegen uns selbst.'"

Außerdem: Peter Schjeldahl berichtet über die Erweiterung des MOMA. Hashem Shakeri schickt einen Fotoessay über Irans Immobilienkrise. Hua Hsu stellt die schwarze Indie-Rockerin Laetitia Tamko vor. Und Anthony Lane sah im Kino Bong Joon-hos "Parasite".
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Amazon, Parasite, Moma, Shakeri, Hashem

The Atlantic (USA), 15.10.2019

Auch Atlantic widmet den Titel seiner November-Ausgabe Amazon. Franklin Foer erklärt, was Jeff Bezos, seines Zeichens reichster Mensch der Erde, so alles vorhat und was das für uns bedeutet: "Wenn jede Transaktion über Amazon abgewickelt wird, kann das Unternehmen eine 'Steuer' kassieren. Wenn Amazon Abos für Prämium-Kabelkanäle wie Showtime und Starz verkauft, liegt sein Anteil zwischen 15 und 50 Prozent. Während eine Ware bei Amazon auf Kunden wartet, zahlt der Verkäufer eine Gebühr. Amazon verdient, indem Verkäufer sich in das Ranking einkaufen. Wenn ein Unternehmen sich mit Amazon einlassen will, muss es bezahlen. Der Mann, der sich wie  Jean-Luc Picard aus Star Trek stylt, hat ein Geschäft aufgebaut, das eher zu Picards Erzfeinden, den Borg, passt, einer die Gesellschaft fressenden Größe, die ihren Opfern mitteilt, sie würden angepasst und einverleibt und Widerstand wäre zwecklos. Am Ende hängt, was Amazon einerseits anziehend und andererseits abstoßend macht, zusammen: Amazon hat jedes Ding der Welt im Angebot, das macht es zum größten Einkaufserlebnis ever. Jeder Gegenstand, das bedeutet, die Marktkraft ist auf beunruhigende Weise auf ein Unternehmen konzentriert. Amazons Smart speakers haben die magische Kraft, das gesprochene Wort in die elektronische Tat zu übersetzen, Amazons Türklingelkameras können der Polizei Videos übermitteln und erweitern so den Überwachungsstaat. Mit seiner einzigartigen Management-Struktur, seiner klaren Artikulation und Vermittlung von Werten und seiner umfassenden Datensammlung erobert Amazon spielend neue Geschäftszweige. Bezos ist der unumstrittene Sieger des Kapitalismus. Die Frage für unsere Demokratie ist, sind wir damit glücklich?"
Archiv: The Atlantic

New York Review of Books (USA), 24.10.2019

Dreißig Jahre nach den Revolutionen in Warschau, Leipzig, Prag und Budapest blickt Timothy Garton Ash nach Mitteleuropa und eruiert, was schief gelaufen ist in den post-kommunistischen Gesellschaften. Keine Frage, meint er, der große Graben verläuft noch immer zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Wende, aber nicht nur der Wohlstand ist ungleich verteilt, sondern vor allem auch Aufmerksamkeit und Anerkennung. Und noch ein Ungleichgewicht gibt es: "Für mich persönlich ist es eine Quelle tiefer Befriedigung, dass so viele junge talentierte Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken nach Oxford kamen, um bei mir und meinen Kollegen zu studieren und wertvolle, produktive und befriedigende Lebenswege einschlugen. Aber sie führen ihr Leben selten zu Hause in ihren Ländern. Ich begegne ihnen eher in London, Paris, Wien oder Berlin. So schafft die individuelle Errungenschaft der Freiheit in den post-kommunistischen Ländern Europas das kollektive Problem der Emigration. Ihr Ausmaß ist erschütternd. Zwischen 1989 und 2017 emigrierten 27 Prozent der Bevölkerung aus Lettland, für Bulgarien liegt die Zahl bei fast 21 Porzent. Über drei Millionen Menschen verließen Rumänien in den gerade mal zehn Jahren nach dem Beitritt des Landes zur EU... Die Emigration ist das wahre Problem der Region, die Immigration ist das eingebildete."

In einem ebenfalls lesenswerten Essay verteidigt Zadie Smith die Freiheit der Fiktion, unter anderem gegen das Konzept der kulturellen Aneignung. Was ist so falsch daran, fragt Smith, andere Menschen zu imaginieren, sich in jemand anderen hineinzuversetzen? "Die Sprache ist zum bevorzugten Schlachtfeld geworden. Sie ist aber auch ein Behältnis, das Schreiben einengt. Der Begriff, den wir wählen - oder der uns angeboten wird - dient der Umschließung unserer Ideen, er formt und bestimmt die Art, wie wir denken oder denken, dass wir denken. Unsere Diskussionen über 'kulturelle Aneignung' zum Beispiel sind zwangsläufig von diesem Begriff beeinflusst. Und doch behandeln wir diese beiden sorgsam gewählten Wörter, als wären sie elementar, an sich neutral, vom Himmel geschickt. Dabei sind sie wie die gesamte Sprache verbale Behältnisse von Ideen, die nur das Aufkommen von bestimmten Gedanken zulassen, während sie die Möglichkeiten anderer begrenzen. Wie würden unsere Diskussionen über Literatur aussehen, frage ich mich, wenn wir das Schreiben über Andere nicht mit dem Begriff der kulturellen Aneignung labelten, sondern eher mit 'gegenseitiger Voyeurismus', 'tiefe Faszination für Andere' oder 'Belebung durch wechselseitigen Hautkontakt'? Unsere Debatten wären immer noch lebhaft, vielleicht auch immer noch wütend - aber ich bin sicher, sie wären nicht dieselben. Sind wir nicht ein bisschen zu passiv angesichts ererbter Konzepte? Wir erlauben ihnen, für uns zu denken, und sie stehen als Platzhalter da für das, worüber wir uns keine eigenen Gedanken machen."

Wired (USA), 09.10.2019

Ein kurzweiliges Stück Computerspielgeschichte erzählt Lisa Wood Shapiro: In den 90ern war sie nämlich bei Take Two an der Produktion von "Ripper" beteiligt, einem Abenteuerspiel, das als interaktiver Film angelegt und mit Christoph Walken und Burgess Meredith (in seiner letzten Rolle!) bemerkenswert prominent besetzt war. Dass allerdings nicht etwa "full motion video" (mit allen Herausforderungen und Begrenzungen), sondern vielmehr die 3D-Egoperspektive das nächste große Ding der Gamekultur werden würde, dämmerte einigen wohl schon damals - das Spiel floppte, versank in der Versenkung und feierte zuletzt in Form von Youtube-Replays ein Comeback. Womit sich die Frage stellt: Wie sollen Games, als nicht unwichtiger Teil popkultureller Geschichte, künftig historisch gesichert und aufbereitet werden? Bücher und Filme aus den 90ern sind problemlos abrufbar, aber das Spiele-Erbe der 90er droht verloren zu gehen: "Versucht man, ein Videospiel aus diesen Jahrgängen zum Laufen zu bringen, merkt man schnell, wie weit entfernt die nahe Vergangenheit wirklich liegt. Wenn der physische Verfall die CD-ROM nicht sowieso schon unlesbar gemacht hat, müsste man Stunden an Arbeit investieren, um das Spiel zum Laufen zu bringen. ... Egal, wie viele Arbeitsstunden in ihnen stecken, um ihre detaillierten und beeindruckend gerenderten Welten entstehen zu lassen: Alte Spiele verschwinden rasch, ihr Programmcode ist dem Verfall preisgegeben. ... James Clarendon, der früher bei 2K Games arbeitete, einer Tochter von Take Two, räumt ein, dass die Firma, als sie ihren Megahit BioShock nach fünf Jahren wiederveröffentlichen wollte, feststellen musste, dass es von dem Spiel keine Archivversion gab. 'Wir mussten die Rechner der Mitarbeiter durchforsten - Künstler, Programmierer, allesamt -, um die fehlenden Teile zusammenzusuchen und wieder zusammenzufügen. Deshalb entsprach die wiederveröffentlichte Version auch nicht der ursprünglichen.' Take Two gab für diese Reportage keine Auskunft. Ob sie noch über die Bauelemente von 'Ripper' verfügen, ist somit unklar." Hier ein kleiner Ausschnitt mit Christopher Walken, der selbst noch unter den spärlichen Bedingungen einer Videospielproduktion liefert:

Archiv: Wired

Magyar Narancs (Ungarn), 12.09.2019

In seinem Nachruf auf die im Juli verstorbene Ágnes Heller ließ der Philosoph (und Weggefährte von Heller) Mihály Vajda die Frage offen, warum Vertreter der Budapester Schule (zu der auch er gehörte) um den Philosophen György Lukács zunächst Marxisten waren, sich dann kritisch gegenüber dem Marxismus positionierten, bis sie sich gänzlich vom Marxismus lossagten. Einige Wochen später nur geht er dieser Frage nach. "Ich wollte nicht darüber sprechen, ob wir Marxisten waren oder nicht, sondern darüber, warum wir Marxisten waren. Und hier kann auch ich den Zusammenhang mit unserem Jüdischsein nicht ignorieren. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die meisten jüdischen Jugendlichen - auch solche Kinder wie ich - daran glauben, dass sich etwas wie der Holocaust nicht wiederholen würde. Dass es nie wieder möglich sein sollte, dass die Gesellschaft den ANDEREN ausschließt: den Juden, den Zigeuner, den mit körperlicher oder geistiger Behinderung Lebenden etc. So suchten wir eine Ideologie, die eine Welt versprach, in der so etwas nicht mehr möglich sein würde. Und der Marxismus mit seiner Utopie versprach genau dies. (…) Dass die Kommunisten nicht wirklich eine solche Welt aufbauten, haben wir früh erkannt. Aber zu verstehen, dass nicht einfach nur der Versuch schlecht umgesetzt wurde, sondern dass der ganze Plan unverwirklichbar ist, das war ein ziemlich langer Prozess: Zu verstehen, dass der Plan nicht für Menschen, sondern für Engel gefertigt war. Der Marxismus hatte den Menschen vergessen."
Archiv: Magyar Narancs

Dissent (USA), 08.10.2019

Ausführlich würdigt Mitchell Cohen, einst Redakeur der ehrwürdigen Zeitschrift Dissent, die häufige Autorin des Blattes und Freundin Agnes Heller. Natürlich erinnert er an ihr Verhältnis zum berühmten Neomarxisten György Lukacs, dessen Schülerin sie war - und an 1956: "Wie Lukacs begrüßte Heller die Revolution, jenen erbitterten, blutigen Kampf, der 'die größte politische Erfahrung meines Lebens war', wie sie sagt. Während sie später Hannah Arendts Theorie des Totalitarismus in ihr Denken integrierte, wich sie von Arendts Beschreibung der Ereignisse in Ungarn ab. Arendt sah in ihnen einen Moment direkter Demokratie, in dem die Menschen aus ihren Routinen heraus in die politische Öffentlichkeit traten. Heller fand das zu romantisch, Ausdruck von Arendts Wunsch, 'absolute theoretische Schlüsse aus einer Geschichte zu ziehen, die gerade zehn Tage dauerte'. Eigentlich hatten ihre ungarischen Mitbürger für repräsentative Demokratie und Unabhängigkeit gekämpft. Heller kam zu dem Schluss, dass 'reine Demokratie' - Demokratie ohne 'Absicherungen'- sich in 'reinen Terror' verwandelt."
Archiv: Dissent

Elet es Irodalom (Ungarn), 11.10.2019

Für den Soziologen und Publizisten Márton Kozák war das Scheitern der neuen Republik durch die Wende-Verfassung von 1989 vorprogrammiert: "Es hätte Sinn und Ziel der Verfassung von 1989 sein müssen, dass auch dann niemand die Möglichkeit bekommt, unbeschränkte Macht zu gewinnen, wenn das Volk aus Gewohnheit dem nicht widerspricht", schreibt er. "Die ikonischen Figuren der Wende haben die Rechtsordnung der Republik ungewollt selbst mit dem tödlichen Virus infiziert. ... Es ist wenig beruhigend, dass für dieses ungeheure Versagen keine außenstehenden Kräfte (historische Bestimmtheit, Fluch, Schicksal, Gott etc.) sondern die von uns verursachten Fehler verantwortlich sind. Beim nächsten Mal, wenn es ein nächstes Mal geben wird, muss es besser gemacht werden."
Stichwörter: Ungarn, Wende, Kozak, Marton

Vice (USA), 07.10.2019

Die militantesten Rechtsextremisten wechseln immer häufiger zu dem Messenger Telegram, berichtet  Tess Owen in Vice in einer aufwändigeren Recherche. 150 rechtsextreme, extrem militante Channels hat Vice dafür untersucht. "Die blühende rechtsextreme Community auf Telegram zeigt auch, dass die Vertreibung von Rechtsextremisten aus Mainstream-Netzwerken in den sozialen Medien und aus ihren eigenen Medien wie 8chan, das abgeschaltet wurde, die  Bewegung zwar zeitweise behindert, aber das Problem keinesfalls behebt. Manchmal wird es dadurch nur schlimmer. 'Wo immer eine Plattform schließt, beginnen sich diese Hass-Cluster zu bewegen und werden schlauer', sagt die Extremismusforscherin Cynthia Miller-Idriss. 'Es ist darwinistisch. Es führt zur Kreativität in der Umgehung von Verboten. Insgesamt glaube ich, dass Verbote nie funktioniert haben, um irgendeinen Extremismus zu stoppen, sie senden nur Signale an andere." Owen zeigt in einem zweiten Artikel auch, wie auf Telegram das Attentat in Halle gefeiert wurde.
Archiv: Vice

critic.de (Deutschland), 14.10.2019

Die schöne Textreihe bei critic.de über die Filme von Eckhart Schmidt erfährt mit Hans Schifferles Essay über die frühen, in den 60ern entstandenen Werke des Münchner Regisseurs einen Höhepunkt: Mit "Blow Up an der Isar" ist der Text und das Programm der Münchner Gruppe, die sich seinerzeit sowohl gegen "Papas Kino", als auch gegen die Oberhausener positionierte, gut überschrieben: Pop, Leben, Alltag waren die Eckpfeiler dieses Kinos: "Thome, Schmidt, Klaus Lemke, Max Zihlmann, Marran Gosov, May Spils, Werner Enke, Veith von Fürstenberg. Die neue Münchner Gruppe der späten 1960er Jahre. Musik hören, ins Kino gehen, das Leben leben. Dass das große Glück, das große Kino gleich um die Ecke lauern konnte, das hatten sie von der Nouvelle Vague. Die Münchner Cafés, die Trottoirs vor den Kinos mit den Schaukästen wurden in ihren Filmen selbst Kino-Schauplätze. ... Filmskizzen, die andeuten, was kommen wird. Filme, wie geschrieben an einem Nachmittag im Café oder nachts am Küchentisch, während die Freundin schläft. Filme wie Tagebuchnotizen, die heute Momentaufnahmen sind der 1960er Jahre. Zwei Kurzfilme hat Schmidt in den 60ern gedreht, 'Nachmittag' und 'Die Flucht'. Unmittelbarkeit zeichnet diese Filme aus, und die Kunst, Bedeutsames im Beiläufigen zu zeigen. Auf die Ästhetik des Kurzfilms wird Schmidt vor allem in seiner dokumentarischen und journalistischen Arbeit immer wieder zurückgreifen. ... Von dem eigenartigen Wechselspiel zwischen Aufbruchsstimmung der muffigen, immer noch gegenwärtigen 50er-Jahre-Atmosphäre, zwischen Provinzialismus und Jet Set, zwischen Emanzipation und Sexismus handeln Schmidts Filme der späten 1960er Jahre. Schmidt hat ein Gespür für das Feeling einer Generation, ein Gespür für den Zeitgeist, lange bevor dieser Begriff Mode wurde."
Archiv: critic.de

Guardian (UK), 15.10.2019

Jacob Kushner zieht eine recht desaströse Bilanz aus dem amerikanischen Hilfsplan für Haiti, der unter der Ägide von Bill und Hillary Clinton nach dem schweren Erdbeben Diplomatie, Aufbauhilfe und ausländische Investionen kombinieren sollte. Dabei sollten vor allem große Infrastrukturprojekte wie Industrieparks oder der Hafen von Port-au-Prince vorangebracht werden. Was die Clintons als "ökonomische Staatskunst" feierten, nennt Kushner Katastrophenkapitalismus: "Nachdem die USA zweistellige Millionenbeträge in den Aufbau des Hafens versenkt hatten, ließen sie das Projekt im vorigen Jahr stillschweigend fallen. Der Hafen ist der Schlusspunkt in Amerikas Aufbauplan, der von Anfang an von Enttäuschungen geprägt war ... Nach dem Erdbeben gab es so viele Dinge, für die die USA hätten Geld geben können. Sie hätten das Geld nutzen können, um Haitis Landwirtschaft zu stärken. In einem Land, in dem nur ein Viertel der Menschen über Anschluss an grundlegende sanitäre Anlagen verfügen, hätten die USA in den Bau von Kanalisation, Abwasseranlagen und  Toiletten investieren können. In einem Land, in dem 59 Prozent der Bevölkerung von weniger als 2,41 Dollar am Tag lebt, hätten die USA den Menschen auch einfach Geld geben können. Studien haben gezeigt, dass bedingungsloser Bargeld-Transfer effektiver sein kann, um Einkommen, Bildung und Wohnen zu erhöhen als viele Arten von 'projekt-bezogener' Hilfe. Cash-Transfers würden den Ansatz unterminieren, den reiche Länder einfach die 'Lösung' für arme Länder nennen, anstatt einfach den Menschen zu erlauben, ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen."
Archiv: Guardian

Pitchfork (USA), 10.10.2019

Der Pophistoriker Simon Reynolds führt uns auf Pitchfork durch die Geschichte der Conceptronica, einem jüngeren Phänomen elektronischer Musik an der Schnittschnelle zwischen Pop, Diskurs und audiovisueller Kunst - oder kurz: ein Audioerlebnis mit einer ziemlich komplexen ästhetischen Textur. Die Pressemitteilungen dazu "lasen sich wie der Begleittext am Eingang eines Museums. Auch ist mir aufgefallen, dass ich mich mit diesen Veröffentlichungen tatsächlich so befasste, als würde ich ein Museum oder eine Galerie besuchen: Meist hörte ich sie nur einmal, während ich dazu begleitend Besprechungen las oder Interviews mit dem Künstler, die so bedrohlich theoretisch ausfallen konnten wie ein alter Essay in Artforum. Diese konzeptuellen Arbeiten muteten selten an wie Platten, die sich auf bequeme, wiederholt abrufbare Weise dem eigenen Leben anschmiegen. Sie waren Statements, denen man sich stellen, die man assimilieren konnte, Entwicklungen, mit denen man Schritt halten musste. Ihr Framing funktioniert wie ein Pitch an den herumbrowsenden Kunden - weniger als Aufforderung, den Release zu kaufen, sondern eher ihn als solchen abzukaufen. Conceptronica ist weniger ein Genre, sondern eher ein Modus künstlerischer Operation und Publikumsreaktion, der sich durch die Landschaft hipper Musik pflügt, von hochaufgelöster digitaler Abstraktion bis zu Stilen wie Vaporwave und Hauntology. Konzept-basierte Projekte ermöglichen den Künstlern einen Weg, in einer übersättigten Aufmerksamkeitsökonomie zu bestehen, während sie zugleich ihren Enthusiasmus für einen kaum überschaubaren Raum an Ideen reflektieren können. Die meisten Conceptronica-Künstler waren auf der Kunsthochschule oder haben ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert und sie haben keine Berührungsängste, ihre Arbeiten und ihre Diskurse mit Referenzen an die Kritische Theorie und Philosophie zu durchsetzen." Ein paar Beispiele:





Archiv: Pitchfork