Vorgeblättert

Charles Simmons: Belles Lettres, Teil 4

14.07.2003.
Die Versuchungen von Verlegerseite, die unsere Liste beeinflussen wollten (Mr. Margin hatte sie für unwiderstehlich gehalten), blieben aus. Ein zuckersüßes Werbemädchen lud mich allerdings zum Mittagessen ein, weil sie mit mir über einen ihrer Autoren diskutieren wollte. Ich erklärte ihr, was sie selber wissen mußte, daß die Redakteure von Belles Lettres keine Essenseinladungen aus der Verlagsbranche annehmen dürften. Sie fragte, ob das auch für Essen gelte, das aus Resten bestehe und von einer Amateurköchin in ihrem privaten Reich serviert würde. Ich sagte, daß ich das eher nicht glaubte, und so verabredeten wir uns. Aus keinem anderen Grund, als Mr. Margin zu amüsieren, erwähnte ich ihm gegenüber die Einladung.
"Um welchen Autor geht’s denn?" fragte er.
Ich nannte den Namen.
"Der kommt doch sowieso auf die Liste."
"Das habe ich ihr mehr oder weniger auch schon gesagt", sagte ich, "aber sie möchte eben gern mit mir reden."
"Ich habe den Verdacht, daß sie Sie auf ihre Abschußliste setzen will", sagte er, und am Morgen des Tages, an dem das Essen stattfinden sollte, erklärte er mir, daß ich zu viel gearbeitet hätte und den Nachmittag frei nehmen sollte. Es stellte sich dann heraus, daß sie nicht nur über ihren Autor reden, sondern ihn in der nächsten Woche heiraten wollte.

Auf der Basis von Faircopys Liste erstellte ich eine eigene, fügte zehn Namen hinzu, damit Mr. Margin und ich genügend Verhandlungsmasse haben würden, und wenn man unseren Altersunterschied bedenkt, wurden wir uns schnell einig. Wir laborierten nur etwas länger an John Barth, Donald Barthelme und Thomas Pynchon herum. Ohne zu verraten, wer sich für wen stark machte, darf ich doch sagen, daß uns ein honoriges Tauschgeschäft gelang.
Ich zeigte Chuckle die Liste, um ihm zu sagen, daß sie wesentlich auf seiner Auswahl beruhte, und um ihn schonend darauf vorzubereiten, daß sein Name fehlte. Er sagte, daß er nicht beleidigt sei, da er ohnehin bezweifelt habe, daß Mr. Margin oder ich seine Bücher gelesen hätten.
Mr. Margin rief die Redakteure in sein Zimmer. Claire Tippin, seine Sekretärin, hatte Kopien der Liste gemacht und verteilte sie wie Speisekarten. 
"Zuerst einmal", sagte Margin, "möchte ich mich bei Ihnen für Ihre äußerst bedenkenswerten Vorschläge bedanken. In den letzten Wochen ist mir kaum eine interessantere Lektüre unter die Augen gekommen als Ihre Listen. Jede für sich war für mich die reinste Gehirngymnastik. Mir kommt es so vor, als hätte ich darin nicht nur Vorlieben und Hintergründe entdeckt, sondern auch das ernste Bestreben, den häufig genug verwirrenden Zusammenhang der amerikanischen Szene zu ergründen. Die Liste, die Sie nun in Händen halten, ist ein ausgewogener Kompromiß. Die ‚Ausgewogenheit‘ verdankt sich Frank und mir und hat vielleicht zwei oder drei Namen auf die Liste verholfen, die bei Ihnen nicht erwähnt worden sind. Es tut mir leid, daß die Liste nicht länger sein kann und nicht jeden einzelnen Schriftsteller enthält, der von dem einen oder anderen von Ihnen vorgeschlagen wurde. Eine derart komplette Liste wäre ein unschätzbares Dokument, weitaus interessanter als dies ‚Substrat‘, das wir der Öffentlichkeit präsentieren werden. Eine solche Liste hätte nämlich den wahren Geschmack der Redakteure des einflußreichsten, literarischen Publikationsorgans unserer Muttersprache offen gelegt. Und bedenken Sie bitte auch: Angenommen, nur mal angenommen, uns läge solch eine Auswahl einer ähnlichen Gruppierung Londoner Intellektueller aus dem Jahr 1616 vor, Shakespeares Todesjahr. Es wäre ein ideengeschichtliches Dokument ersten Ranges!"
So redete Mr. Margin noch eine ganze Weile und bat schließlich um Diskussionsbeiträge.

"Warum steht Mary McCarthy, die ihr halbes Leben in Frankreich verbracht hat, auf einer Liste der besten Schriftsteller in Amerika?"
"Mit ‚in Amerika‘", sagte Mr. Margin, "meinen wir im wesentlichen ‚amerikanische Staatsbürger‘. So wie auch I. S. Singer auf der Liste erscheint, obwohl er erst als junger Erwachsener einwanderte und nicht auf Englisch schreibt."

"In dem Fall wäre George Steiner ein amerikanischer Staatsbürger, der in England lebt. Warum steht er nicht auf der Liste?"
Mr. Margin nickte mir zu, die Antwort zu geben.
"Aus vielen Gründen."

"Wenn wir mit ‚die besten‘ ‚die wichtigsten‘ meinen, dann sollte auf jeden Fall auch Michael Harington auf der Liste stehen."
"Es tut mir wirklich leid, sagen zu müssen, daß ‚die besten‘ schlicht ‚die besten‘ meint", sagte Mr. Margin.

"Ich habe das Gefühl, daß wir vorsätzlich engagierte Schriftsteller ausgeklammert haben. Norman Podhoretz ist doch mit Sicherheit so einflußreich wie jeder andere Schriftsteller in Amerika."
"Dann hätten wir auch Irving Kristol und Hilton Kramer aufnehmen müssen", sagte ich. "Das könnte Ihnen doch auch nicht recht sein."

"Es sind keine Kritiker auf der Liste. Ich möchte Alfred Kazin noch einmal nominieren."
"Noch einmal?" fragte Mr. Margin.

"Schließen wir eigentlich experimentelle Autoren aus?"
"Nach meinem Verständnis", sagte Mr. Margin, "ist ein experimenteller Autor ein Autor, dessen Experiment gescheitert ist."
"Und wo bleibt Renata Adler?" fragte jemand.
Das schien niemand zu wissen.

Mr. Margin und ich überreichten Mary Tooling die Liste. Sie bestellte uns am nächsten Tag in ihr Büro. "Wollen Sie wissen, was mein Mann dazu gesagt hat?"
Wir nickten.
"Mein Mann hat gesagt - entschuldigen Sie bitte meine Ausdrucksweise - aber mein Mann sagt: ‚Harold Brodkey kennt doch keine Sau. Und wo zum Teufel bleibt Herman Wouk?‘"
"Was Brodkey betrifft", sagte Mr. Margin, "dachten wir, daß ein paar abgelegenere Namen der Liste ein gewisses ... Flair verschaffen."
"Und wo bleibt Herman Wouk?" fragte Mrs. Tooling.
"Es gibt viele Schriftsteller in Amerika", sagte Mr. Margin.
"Okay, aber was mich betrifft", sagte Mrs. Tooling, "wo zum Teufel bleibt ..." und sie erwähnte fünf Schriftsteller, die ihrer Meinung nach auf die Liste gehörten.
"Wenn Sie es wünschen", sagte Mr. Margin.
"Ich wünsche es", sagte Mrs. Tooling. "Aber stellen Sie sie nicht ganz nach oben. Mogeln Sie sie irgendwie dazwischen. Und noch etwas: Dies ist eine alphabetische Reihenfolge. Die Rede war aber von eins, zwei, drei, vier."
      "Tool", sagte Mr. Margin, "das ist unmöglich. Wer ist besser, Bellow oder Updike? Mailer oder Roth? Das läßt sich unmöglich entscheiden."
"Entscheiden Sie sich!" sagte sie und erhob sich zum Zeichen, daß wir entlassen seien.

Wir behalfen uns damit, daß wir die letzten zwölf Namen auf der alphabetischen Liste zwischen die ersten dreizehn mischten. Dann plazierten wir die letzten elf dieser durchgemischten Liste über die ersten vierzehn. Ein Experte für Geheimcodes hätte vielleicht entschlüsselt, was wir getan hatten, aber niemand sonst.
Der Rest ist natürlich Geschichte. Wie Mrs. Tooling prophezeit hatte, wurde die Liste weltweit kommentiert. Ich bringe sie hier zu Meditationszwecken noch einmal zum Abdruck:
"Allen Ginsberg, John Updike, John Hawkes, Kurt Vonnegut, Edward Hoagland, Eudora Welty, John Irving, Richard Wilbur, Mary McCarthy, Herman Wouk, Norman Mailer, Woody Allen, Bernard Malamud, Donald Bartelme, James A. Michener, Jacques Barzun, Arthur Miller, Saul Bellow, Lewis Mumford, Thomas Berger, Philip Roth, Peter De Vries, I. B. Singer, E. L. Doctorow und Anne Tyler."
The Times of London schrieb: "Eine erstaunliche Bestätigung des amerikanischen Reichtums! Diese Erhebung schreit geradezu: ‚Fülle!‘ England, Dein Sprößling ist Dir über den Kopf gewachsen."
L’Express: "Für Kenner der amerikanischen Literatur bergen diese fünfundzwanzig Namen keine Überraschung. Die Rangfolge freilich schon! Sie ist das reinste Spiel von These und Antithese, voller Witz und Häme und dennoch überaus treffend! Daß ausgerechnet Ginsberg, der Säulenheilige der 60er Jahre, als führender amerikanischer Schriftsteller dasteht! Und daß er vor dem großartigen Updike rangiert! Was für ein Skandal! Was für eine Weisheit!"
Literaturnaya Gazeta: "Fünfundzwanzig angepaßte Schriftsteller. Wo bleiben diejenigen, die die entscheidenden Fragen stellen? Wo bleiben Robert Coover, Gore Vidal, Seymour Krim?"

Nachdem alles vorbei und ein großer Erfolg war, gratulierte ich Chuckle Faircopy noch einmal zu seiner ursprünglichen Liste.
"Soll ich Ihnen mal was sagen?" sagte er. "Ich habe sie einfach aus den biographischen Stichworten abgeschrieben", und dabei zog er ein Exemplar des American Heritage Lexikons aus dem Regal. "Hier werden etwa fünfundzwanzig lebende, amerikanische Schriftsteller erwähnt, und die fünfundzwanzig habe ich ausgewählt."
"Vierundzwanzig", sagte ich.
Er lächelte versonnen und sagte: "Es wird ja noch weitere Auflagen geben."

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages C.H. Beck 

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