9punkt - Die Debattenrundschau

Konsequent außerhalb

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.09.2023. Nicht die Asylbewerber sind das Problem, sondern die extreme Rechte, die mit dem Thema ihr Süppchen kocht, meinen taz und SZ. In der Jüdischen Allgemeinen beteuert Hubert Aiwanger sein Engagement für die Jüdische Gemeinde und kritisiert ein weiteres Mal die Süddeutsche Zeitung. Das Konzentrationslager auf der Haifischinsel war nicht Auschwitz, aber ein Schritt auf dem Weg dorthin, sagt die Hannoveraner Archäologin Katja Lembke in der taz. In Zeit online verteidigt Philipp Sarasin Michel Foucault gegen den Vorwurf, er sei nicht links. Der Corriere trauert um Gianni Vattimo.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.09.2023 finden Sie hier

Europa

Die Zahl der Asylanträge ist laut Bundesamt für Migration im Jahr 2022 um 53 Prozent auf 250.000 gestiegen, in diesem Jahr sind es bisher laut "Asylgeschäftsstatistik August 2023" des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge 220.000 Anträge. Das Thema wird jetzt auch in den Feuilletons wahrgenommen, auch weil die schwierig zu bewältigende Krise als einer der Faktoren für die AfD-Erfolge gilt. In der taz konzediert Daniel Bax, dass die Infrastrukturen beansprucht sind: "Das liegt aber vor allem daran, dass Deutschland zuletzt mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hat. Zum Glück fordert bisher niemand, diese wieder zurückzuschicken - auch wenn das die Zahl der Geflüchteten in Deutschland theoretisch senken würde." Machen kann man sowieso nichts, so Bax: "Ehrlicher wäre es zu sagen, dass sich Fluchtmigration nicht komplett verhindern, sondern nur besser managen lässt. Ja, es gibt Probleme, aber keinen Grund zur Panik."

Unsere Gesellschaft wird nicht von den Geflüchteten bedroht, die übers Mittelmeer kommen, ruft Nils Minkmar in der SZ, sondern von der radikalen Rechten. Eigentlich hat die Bundesregierung ja endlich "ein Zuwanderungsgesetz vorgelegt, das auf der Höhe der Zeit ist." Aber "statt auf die im Gesetz vorgesehenen Integrations- und Bildungsangebote" einzugehen, geht es immer nur um Abschottung und Ausweisung, so Minkmar: "Migration ist ein menschliches Phänomen und als solches weder gut noch schlecht. ...Es ist irrwitzig, entweder nur Genies oder nur Straftäter in Personen zu sehen, die ihre Heimat verlassen, um woanders zu leben. Die Herausforderungen sind beidseitig, und es gibt viel zu tun. Die radikale Rechte, die dieses Land gründlicher ruiniert hat als jede Migrationsbewegung, hat zur Lösung der Probleme nichts beizutragen."

Freie Wähler-Chef Hubert Aiwanger lässt sich in der Jüdischen Allgemeinen von Philipp Peyman Engel und Michael Thaidigsmann eingehend befragen. Er beteuert sein Engagement für die Jüdische Gemeinde ("auch eine Bekämpfung von Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft schließt dies ein"), beharrt aber auch darauf, dass die Süddeutsche Zeitung unlautere Methoden angewandt habe: "Dass ich nicht Urheber war, habe ich gleich gesagt, hat aber die SZ nicht interessiert. Die SZ hat dann, als klar war, dass es mein Bruder geschrieben hatte, kommentiert, es sei eigentlich egal, wer es geschrieben hat, ich müsste trotzdem zurücktreten. Anfangs hat die SZ aber behauptet, sie hätte mehrere Personen, die meine Urheberschaft bezeugen würden. Das habe ich zurückgewiesen. Es kam dann sogar raus, dass der fragliche Lehrer wohl einen Schüler anstiften wollte, schriftlich zu bestätigen, dass ich der Urheber sei, was der aber abgelehnt hat. Währenddessen wurden alle Aussagen von Mitschülern, die die Vorwürfe gegen mich zurückgewiesen haben, medial fast völlig ignoriert."
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Geschichte

Buch in der Debatte

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Die Hannoveraner Archäologin Katja Lembke hat zum Genozid an den Herero und Nama das Buch "Die Haifischinsel" publiziert und ganz besonders zu einem Konzentrationslager auf der Haifischinsel, wo Menschen nach den mörderischen Vertreibungen in die Wüste durch den General Lothar von Trotha zusammengetrieben wurden. Eigentlich sollte das Sterben hier beendet werden, aber viele Tote gab es weiterhin, und auch den Verdacht, dass das so sein sollte. Lembke will anders als andere Forscher - wie Caspar W. Erichsen und David Olusoga - nicht von "The Kaiser's Holocaust", sprechen, wie sie im Interview mit Nadine Conti in der taz sagt: "Das finde ich sehr problematisch, denn man muss einfach sehen: Es gab hier einen Genozid-Befehl, der wurde aber nach wenigen Wochen aufgehoben. Das ist etwas völlig anderes als die systematische Ausgrenzung und Vernichtung der Juden über Jahre hinweg. Auch die Tatsache, dass man die Lager nach zwei Jahren aufgegeben hat, spricht ja dafür, dass hier noch eine andere Haltung am Werk war als in der Nazizeit." Dennoch findet sich in dem Buch die Formel: "Die Haifischinsel war nicht Auschwitz, aber sie war ein Schritt auf dem Weg dorthin", die sie so verteidigt: "Wenn Sie sich die Bilder im Buch ansehen, sehen Sie sehr genau diese rassistische 'Herrenmenschen'-Haltung, die die Nationalsozialisten letztlich auf die Spitze getrieben haben. "
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Ideen

Der italienische Philosoph Gianni Vattimo ist im Alter von 87 Jahren gestorben, der Erfinder der berühmten Forderung nach einem "pensiero debole", einem "schwachen Denken. Antonio Carioti schildert das damit Gemeinte im Corriere della Sera als "Vorboten der Postmoderne, eine ikonoklastische Vision, die Letztbegründungen des Wissens in der westlichen Philosophie durch die Absicht ersetzte, es seiner Macht zu berauben, in der Überzeugung, dass das Sein nur in einer pluralen und kontingenten Form gedacht werden kann. Vattimo leugnete nicht die Wirklichkeit, wie ihm manche vorwarfen, sondern glaubte, dass sie nur innerhalb bestimmter Paradigmen erfasst werden könne, ohne dass er eine vollständige und absolute Rationalität anstrebe."

Philipp Sarasin, emeritierter Philosoph aus Zürich und Betreiber der postkolonial gesinnten Website Geschichte der Gegenwart, aus der der Perlentaucher oft zitiert, widerspricht in einem Essay auf Zeit Online der Philosophin Susan Neiman in ihrer Sicht auf Michel Foucault. In ihrem Buch erklärte sie diesen zum "Paten der woken Linken", zitiert Sarasin, was für sie heißt: Foucault sei eigentlich gar kein Linker, sondern ein "Nihilist" und "Reaktionär". Die Kritik ist nicht neu, seufzt Sarasin, aber kurzsichtig. Tatsächlich wandte sich der Philosoph spätestens seit der zweiten Hälfte sechziger Jahre von den "marxistischen Großerzählungen, Freiheitsversprechen und Revolutionshoffnungen" ab. Er "bewegte sich seit dem 1961 erschienenen Buch 'Wahnsinn und Gesellschaft' mit den Irren, den Kriminellen, den sexuell Devianten und anderen Randgruppen konsequent außerhalb der bürgerlichen wie auch der marxistischen Gesellschaftsentwürfe. Deren große historische Subjekte - 'die' Bauern, 'die' Bürger oder 'die' Arbeiter - waren für diese neuartige Linke tot. Die 'universalistische' Linke provoziert das bis heute, was auch Foucaults Beförderung zum Paten der 'Woken' erklärt. Sie bastelt sich aus seinem reichen Zitatenschatz einen Strohmann, der als Sündenbock dafür herhalten muss, dass ihr seit dem Untergang der Sowjetunion die Felle davongeschwommen sind."
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Medien

Der Business Insider konnte Sender-interne Papiere lesen und hat herausgefunden, was die Talkshows der ARD kosten. Diese Zahlen werden von den Sendern mit großer Diskretion behandelt. Allzu überraschend sind sie bei näherem Hinsehen allerdings nicht. In der Welt zitiert Tobias Fuchs aus den Befunden: "Laut der geheimen Übersicht handelte es sich bei 'Anne Will' in den vergangenen Jahren um das teuerste der drei Talkformate im Ersten. Kalkuliert wurde demnach mit jährlichen Gesamtkosten von rund 7,5 Millionen Euro. Das macht für jede der dreißig Sendungen etwa 250.000 Euro.... Gedreht wird die Sendung in Berlin-Adlershof im Studio Berlin, einem Ableger der NDR-Tochter Studio Hamburg. Doch als Produzent fungiert die Will Media GmbH, deren alleinige Gesellschafterin die frühere 'Tagesthemen'-Moderatorin ist. 2021 wies das Unternehmen einen Bilanzgewinn von rund 1,2 Millionen Euro aus."
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