9punkt - Die Debattenrundschau

In Zeiten der Schwäche

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2022. Frauen protestieren im Iran gegen die Sittenpolizei, die die 22-jährige Mahsa Amini wegen eines zu lockeren Kopftuchs totgeschlagen hat. Die taz beleuchtet auch die Lage der zum Tod verurteilten LGBT-Aktivistinnen Sareh Sedighi-Hamadani und Elham Choobdar. In der Fincancial Times fühlt sich Ivan Krastev in Putins Ängste ein. Peter Pomerantsev fordert im Guardian die westlichen Zivilgesellschaften auf, Putins Netzwerke offenzulegen. Im Spectator blickt der Republikaner Nick Cohen auf der Begräbnis einer Queen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.09.2022 finden Sie hier

Politik

Die 22-jährige Mahsa Amini ist von der iranischen Sittenpolizei so brutal zusammengeschlagen worden, dass sie im Krankenhaus an den Folgen der Schläge starb. Grund für ihre Festnahme war, dass sie das Kopftuch zu locker trug. Bei ihrer Beerdigung protestierten Frauen, indem sie sich die Tücher vom Kopf rissen, berichtet unter anderem Masi Alinejad auf Twitter (aber auch Männer beteiligen sich an den Demonstrationen):

Die taz macht Aminis Geschichte zum Aufmacher, vielleicht auch eine Art Wiedergutmachung für einen taz-Artikel der Korrespondentin Julia Neumann, die Masih Alinejad als westliche Agentin attackiert hatte und Kritik am Kopftuch als neokolonialistisch darstellte - ihr Artikel (unser Resümee) hatte in den sozialen Medien für Empörung gesorgt. "Die Geschichte des Widerstands der Frauen im Iran beginnt im März 1979", schreibt Gilda Sahebi heute. "Kurz nachdem Ajatollah Khomeini die Macht übernommen und Frauen zum Tragen des Hidschab verpflichtete, gingen sie zu Zehntausenden auf die Straßen, Hand in Hand, ohne Kopftücher. Seitdem hat der Kampf der Iranerinnen nicht aufgehört. Die sozialen Medien sind voller Zeugnisse davon. Wie die Frauen öffentlich ihre Kopftücher abnehmen, wie sie singen und tanzen, frei sein wollen. Denn all das ist ihnen verboten, zu bestrafen mit Peitschenhieben, Gefängnis, Tod."

Letzte Woche kam auch die Meldung, dass die die Iranerinnen Sareh Sedighi-Hamadani und Elham Choobdar als LGBT-Aktivistinnen zum Tod verurteilt worden sind (unser Resümee). Darüber unterhält sich in der taz Mina Khani mit der Exilieranerin und Aktivistin Shadi Amin: "Seit einiger Zeit können wir immer häufiger beobachten, wie das iranische Justizsystem den vagen Strafvorwurf der 'Korruption auf Erden' gegen LGBTQI-Personen verwendet. Somit werden LGBTQI-Personen mit einer Anklage geahndet, die unter die Kategorie des organisierten Verbrechens fällt und auch längere Haftstrafen oder die Todesstrafe mit sich bringt. Dies ermöglicht eine Strafverfolgung von LGBTQI-Personen, selbst wenn der Strafvorwurf von gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen nicht vorliegt."

Frederik Schindler kommentiert in der Welt: "Deutschland wäre als wichtigster europäischer Handelspartner des Iran durchaus in der Lage, politischen Druck aufzubauen. Die Bundesregierung schreibt sich eine feministische Außenpolitik auf die Fahnen. Ein ehrenwertes Ziel. Laut Auswärtigem Amt geht es darum, Geschlechtergerechtigkeit als 'Voraussetzung für nachhaltigen Frieden und Sicherheit in der Welt' anzuerkennen. Nun gilt es, das Konzept in die Praxis umzusetzen."
Archiv: Politik

Gesellschaft

Beim Sex drücken Schweigen und Passivität keine Zustimmung aus, erinnert in der NZZ Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt und Opferberatung, anlässlich der anstehenden Reform des Schweizer Sexualstrafrechts. Sie lehnt die bislang favorisierte Vetolösung ab, wonach von einer Zustimmung ausgegangen wird, die das Opfer aktiv - zum Beispiel mit einem "Nein" - hätte widerlegen müssen: "Anders gesagt: Der Mann hat das Recht auf Sex, solange die Frau nicht Nein sagt. Mit der Vetolösung würden wir genau diese überholten Rollenbilder in Bezug auf Sexualität und Intimität weiter zementieren und sexuelle Handlungen ohne Einwilligung als Sex definieren. Mit der Zustimmungslösung hingegen würde klar zum Ausdruck gebracht, dass Sexualität nicht mehr ein Gut ist, das man nutzen kann, solange niemand widerspricht, sondern dass man sich der Zustimmung der Partnerin beziehungsweise des Partners versichern muss. Es wäre klar: Passivität und Schweigen sind keine Zustimmung."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Thomas Meyer schreibt in der SZ den Nachruf auf den berühmten Logiker Saul Kripke, nach dessen Einwürfen sich Kant, die Phänomenologen, die Empiriker, die Sprachphilosophen und die Wittgenstein-Anhänger neu sortieren mussten: "Es war Kant und die Phänomenologie, denen Kripke einen Fehler unterstellte: Sie hätten ihre Überlegungen auf einer Verwechslung von Apriorität und Notwendigkeit aufgebaut. Erstere gehöre zur Erkenntnistheorie, Letztere sei ein Begriff aus der Metaphysik und damit auch ein Fall für diese. Das hatte weitreichende Folgen, denn damit gerieten auch die Erfahrungswissenschaften in Nöte. In Kripkes Worten: 'Da die empirischen Wissenschaften keine apriorischen Erkenntnisse (also Erkenntnisse, die vor aller Erfahrung gültig sind) zu gewinnen trachten, können sie, falls notwendige Wahrheiten mit Wahrheiten a priori gleichzusetzen sind, auch keine Wesenserkenntnisse liefern.'" In der FAZ fasst Helmut Mayer Kripkes Erkenntnisse so zusammen: "Es gibt dann, in altehrwürdiger Sprechweise, notwendige Wahrheiten a posteriori, so wie umgekehrt kontingente Wahrheiten a priori."
Archiv: Ideen

Europa

Der Druck, Putins Netzwerke in den westlichen Ländern aufzudecken, muss auch aus der Gesellschaft kommen, schreibt Peter Pomerantsev im Observer: "Wir brauchen eine kompromisslose Bürgerbewegung. Lassen Sie sich davon inspirieren, wie Greenpeace mit Wissenschaftlern und Journalisten zusammengearbeitet hat, um aufzudecken, wie die Ölindustrie Politik und Öffentlichkeit manipuliert hat, und wie es dann furchtlose Kampagnen startete, um den Unternehmen für fossile Brennstoffe das Leben zur Hölle zu machen, bis sie ihr Verhalten änderten. Dies kann sowohl rechtlichen Druck als auch Kosten für den guten Ruf mit sich bringen. Wir brauchen etwas Ähnliches für die Ermöglicher von Putin (und anderen diktatorischen Regimes)."

Kann man als Russe der eigenen Armee eine Niederlage in der Ukraine wünschen? Man kann, und der russische Dokumentarfilmer Andrei Loschak, derzeit im Exil in Georgien, tut es in der NZZ aus ganzem Herzen: "Es ist jedoch klar, dass der Sieg des heldenhaften ukrainischen Volkes allein nichts an den Zuständen in Russland ändern wird, falls die russische Bevölkerung weiterhin im Zustand des Schlafwandlertums verharrt. Wir können nicht immer andere die Drecksarbeit für uns machen lassen: Die Ukrainer setzen ihr Leben aufs Spiel, um sich zu wehren, aber auch, um uns die Chance zu geben, Russland von innen zu befreien. Schaffen können wir das nur selbst."

"Die Toten von Isjum sind auch Opfer der Bremser im Westen, die zu lange mahnten, man dürfe Moskau nicht provozieren", schreibt Dominic Johnson in der taz: "Und nun wird wieder vor einem Atomschlag gewarnt, falls sich Russland in die Defensive gedrängt fühlt. Es ist derselbe gedankliche Irrtum: Man denkt, Putins Verhalten ließe sich vom Westen her steuern, und man müsse hier nur das Richtige tun und sagen, damit er wieder lieb ist... Kompromissbereit wird er in Zeiten der Schwäche."

Trocken fasst Ivan Krastev in der Financial Times Putins Lage nach den jüngsten ukrainischen Rückeroberungen zusammen: "Es ist nicht leicht vorherzusagen, was in Moskau geschieht, nachdem die russischen Truppen in der Ukraine gedemütigt wurden. Aber man kann mit Sicherheit feststellen, dass Putin zwar nicht in Gefahr ist, die Macht zu verlieren, wohl aber seinen Handlungsspielraum eingebüßt hat. Der Kreml befürchtet, dass eine Massenmobilisierung die innere Schwäche des Regimes offenbaren könnte." Die Financial Times notiert auch, dass sich Xi Jinping und Narendra Modi beim jüngsten Autokratengipfel in Usbekistan doch eher distanziert zu Putin verhielten.

Nicht nur in Deutschland, auch in Österreich führte die Sozialdemokratie das Land in ein immer innigeres Einvernehmen mit den Moskauer Autokraten, erzählt der Zeithistoriker Oliver Rathkolb in einem interessanten Hintergrundartikel für die Seite "Ereignisse und Gestalten" in der FAZ. Die Abhängigkeit von Moskau wurde schon nach der Ölkrise in den Siebzigern immer weiter vertieft. Der Sündenfall liegt also schon vor dem Mauerfall: "Der Wendepunkt der sozialdemokratischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich, die ideologische Konfrontationsbereitschaft zurückzustellen, fiel in die Zeit der Massenproteste der polnischen katholischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Kreisky forderte die streikenden Arbeiter unverblümt auf, in die Bergwerke zurückzukehren und Kohle für die verstaatlichten Stahlbetriebe in Österreich zu schürfen." Rathkolb widerlegt auch die Lüge, Russland sei immer ein zuverlässiger Lieferant gewesen. 2009 ließ Putin die Gaslieferungen nach Österreich für 14 Tage stoppen. Zur Belohnung steigerten die Österreicher ihre Abhängigkeit von 50 auf 87 Prozent.

Putins eigentliches Motiv für seinen Krieg ist ja im Grunde ein kulturelles. Kulturdenkmäler sind darum auch Ziele der russischen Kriegsführung, sagt der ukrainische Kulturminister Olexandr Tkatschenko im FAZ-Gespräch mit Kerstin Holm: "Beschädigt wurden 160 Kirchen, 36 Museen, etliche Theater. Das Museum für unseren Philosophen Grigori Skoworoda, dessen dreihundertsten Geburtstag wir in diesem Jahr begehen, im Dorf Skoworodiniwka bei Charkiw wurde, wie wir wissen, gezielt von Flugzeugen aus mit Raketen beschossen, ebenso wie das historische Heimatmuseum von Marija Prymatschenko in Iwankiw. Zum Glück konnten Prymatschenkos Bilder gerettet werden, aber das Museum ist zerstört."

Heute wird die Queen beerdigt. Sogar der japanische Kaiser ist angereist. Fernsehsender in der ganzen Welt werden ihre größte Pracht entfalten. Republikaner verkennen oft die Anziehungskraft von Monarchien, gar der britischen, die so virtuos mit symbolischen Formen spielen. Nick Cohen gibt das im Spectator zu und fragt dennoch, ob Karl III. die einigende Kraft Großbritanniens bleiben kann: "Heute ist es alles andere als sicher, dass ein unabhängiges Schottland lange eine Monarchie bleiben würde. Weniger als die Hälfte der Schotten befürwortet die Beibehaltung eines englischen Herrschers." Dabei spielen für Cohen auch die politischen Ansichten des neuen Königs eine Rolle: "Meiner Meinung nach hat die Geschichte Karl III. in seinem politischen Glauben an die Bedeutung des Umweltschutzes Recht gegeben, während sein Glaube an Homöopathie und mystische Religionen verschroben ist. Aber was auch immer man von ihnen halten mag, sie sind keine verbindenden Überzeugungen, die über die Klassen und die einzelnen Nationen des Vereinigten Königreichs hinweg Anklang finden."

taz-Korrespondent Daniel Zylbersztajn-Lewandowski, der erst im Brexit die britische Staatsbürgerschaft zusätzlich zur deutschen erwarb, bekennt sich in der taz als Monarchist: "Die Republiken Deutschland, Italien, Österreich, Polen, Frankreich oder die USA sind weder besser noch schlechter als das Vereinigte Königreich. Deutschland schaffte Kaiser und Könige ab und holte sich stattdessen den Führer. In den USA gibt es Ersatzkönige und -königinnen. Im Vereinigten Königreich wählte man einen anderen Weg, man hielt die Monarchie am Leben, band sie aber an das gewählte Parlament."
Archiv: Europa