Im Kino

Gegenläufige Signale

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Nikolaus Perneczky
18.01.2017. In Kenneth Lonergans "Manchester by the Sea" koexistieren schicksalhafte Schwere und ad hoc sich einstellende Leichtigkeit auf berückende Weise. Durch und durch gespenstisch ist die Welt in "Personal Shopper", dem in mehrerer Hinsicht fantastischen neuen Film von Olivier Assayas.


Kenneth Lonergan, Jahrgang 1962, hat bis heute lediglich drei Regiewerke vorzuweisen, die sind dafür alle kleine Wundertaten: nach "You Can Count On Me" (2000) und "Margaret" (2005 gedreht, 2011 im Verleih - nach langwierigem Tauziehen mit Fox Searchlight um die endgültige Schnittfassung) nun "Manchester by the Sea". Auf dem Papier beziehungsweise im Trailer klingt die Geschichte ziemlich abgedroschen, und vielleicht ist sie das sogar. Lee, ein deprimierter Hausmeister im Bostoner Exil (toll: Casey Affleck), muss nach dem plötzlichen Tod des Bruders zurück in seine Heimatstadt Manchester (auch eine Ortschaft namens Essex liegt in der Nähe: englische Geografie, neuenglisch rekombiniert) und sieht sich dort mit der testamentarisch verfügten Aufgabe konfrontiert, die Patenschaft seines verwaisten Neffen Patrick (noch toller: Lucas Hedges) zu übernehmen. Das dunkle Herz des Films ist indes eine andere, weiter zurück liegende Tragödie, die sich nach und nach in Rückblenden erschließt - der Grund, weshalb Lee einst das Weite suchte und nun nicht mehr zurückkehren mag. Die widerwillige Annäherung des grantigen Onkels und seines pubertierenden Neffen, die gemeinsam lernen, ihr Trauma zu bewältigen - so oder so ähnlich stellt man sich den Pitch vor, den Lonergan seinen Geldgebern verkauft haben mag. Regelrecht gelogen ist es nicht, doch mit Inhaltsangaben wird man dem, was an "Manchester by the Sea" (und Lonergans Werk insgesamt) so begeistert, nicht gerecht.

Das präzise, aber eigensinnige Timing, der schwer zu fassende Tonfall der ersten Begegnungen lassen uns gleich wissen, dass wir nicht umsonst ins Kino gegangen sind. Ansonsten fängt die Sache nämlich nicht besonders vielversprechend an. Afflecks Oberfläche ist rau, wortkarg und verkniffen, darunter brodelt es. Ein müdes Kino-Klischee: so sind sie, die Männer in der winterlichen Küstenstadt. Auch so eine Stadt hat man schon gesehen, blaugrau und eiskalt, aber das macht nichts: Sie ist auch wirklich zu schön. Die leise, untergründige und langsam zunehmende Wucht der tragischen Ereignisse: ein Dramaturgentrick. Denkt man erst, stimmt alles aber gar nicht. Lonergan arbeitet durchaus mit Klischees; wie er sie szenisch einsetzt und auflöst, praktisch ohne Komplexitätseinbußen, darin liegt der Lonergan Touch. "Manchester by the Sea" ist ein Melodram, aber ein atonales (ohne tonales Zentrum): Lonergan bringt die dramatische Richtung einer Szene auf halber Strecke ins Stottern, dreht sie um, lässt sie für einen Augenblick ins Leere laufen, dreht sie neuerlich um - da capo al fino.



Die Musik dazu ist klassisch (barock bis romantisch) aufgelegt, wobei auch hier gegenläufige Signale sich einmischen, ohne dass ihre Gegenläufigkeit ins Gewicht fiele: Händel, Massenet, Ella Fitzgerald (und Originalkompositionen von Lesley Barber). In einer Szene, man vergisst sie nie wieder, wird Albinoni (und der Totengottesdienst, den er untermalt) von einem vibrierenden Handy unterbrochen. Ein idealtypischer Lonergan-Moment: Die Unterbrechung bleibt rein formal, kein Urteil, keine kritische Absicht haftet sich an sie. Sie nimmt nichts vom großen, dick aufgetragenen Gefühl, das Albinonis Adagio in g-Moll (zeitlupenunterstützt) beschwört, sondern fügt etwas hinzu. Das lässt sich verallgemeinern: Humor und Tragik konterkarieren einander nicht in "Manchester by the Sea", kommen sich nicht ins Gehege, ihre Verbindung ist vielmehr additiv. Nicht tragikomisch, sondern tragisch und komisch.

Die Dialoge, aufmerksam für Versprecher und Verhaspler, sind ungemein hellhörig, während das Sounddesign auch dialogfremde Geräuschquellen ins Gespräch eingehen lässt: das Murmeln des Meers und der Frühstückszerealien. Lonergans Schauspielerführung ist unfehlbar. Und das, obwohl in vielen Fällen nicht unmittelbar einsichtig ist, worauf eigentlich abgezielt wird. Affleck tendiert zu psychologischem Realismus mit Körpereinsatz der oscarverdächtigen Sorte, zugleich ist das alles zu unrund und unterbrochen, um als virtuous zu erscheinen. Die Figuren tun Dinge, die man von ihnen nicht erwartet hätte, ohne darüber aus dem Zustand des psychologischen Klischees in das der fein nuancierten Charakterisierung überzugehen - und sie tun diese Dinge ohne Bewusstsein oder Beanspruchung eines Regelbruchs. Schicksalhafte Schwere und ad hoc sich einstellende Leichtigkeit koexistieren in derselben Welt, derselben Einstellung. "Manchester by the Sea" erreicht seinen Höhepunkt in der Mitte und nimmt dann kein rechtes Ende: was für ein Glück.

Nikolaus Perneczky

Manchester by the Sea - USA 2016 - Regie: Kenneth Lonergan - Darsteller: Casey Affleck, Lucas Hedges, Michelle Williams, Ben O'Brien, Kyle Chandler - Laufzeit: 137 Minuten.

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Etwa in der Mitte des Films ist Kristen Stewart da, wo sie schon zu Beginn von Olivier Assayas Vorgänger "Clouds of Sils Maria" war: in einem Zug. Da allerdings jonglierte sie mit gleich mehreren Telefonen, um die privaten und beruflichen Termine ihrer Chefin zu koordinieren; jetzt ist sie dagegen mit nur einem iPhone beschäftigt. Kurz nachdem sie in einem leerstehenden Landhaus nahe Paris einen - in gleichen Teilen beeindruckend und altmodisch animierten - Geist gesehen hat, tauscht sie mit einem Unbekannten Kurznachrichten aus. Die SMS-Unterhaltung, die sich über mehr als eine halbe Stunde Erzählzeit erstreckt - während Maureen mit dem Zug von Paris nach London fährt, in einer Boutique Kleidung für ihre Chefin Kyra (Nora von Waldstätten) kauft und den nächsten Zug zurück nach Paris nimmt - ist einer der schönsten Filmdialoge in einem Film der letzten paar Jahren. Und zwar, weil der Film das Medium des Mobiltelefons und die Sprache, die es hervorbringt, in ihrer seiner Alltagsbanalität bedingungslos ernst nimmt.

Wenn man schließlich erfährt, wer sich hinter dem anonymen Gegenpart dieser Unterhaltung verbirgt, ist das eine bewusst gesetzte Enttäuschung. Die Auflösung kann schließlich gar nicht so spektakulär sein, wie die lange aufrecht erhaltene Annahme, dass es sich um einen Kontakt mit dem Jenseits handelt, der die geistige (Omni-)Präsenz von Menschen bei gleichzeitiger physischer Abwesenheit, die mit den Technologien der Gegenwart einhergeht, konsequent und naheliegend ins Unheimliche überführt.

"I want you and I will have you/ Not physically/ To make contact/ First." schreibt ihr der Unbekannte. Über den Dialog legt sich eine erotische Spannung, die Möglichkeit eines sexuellen Kontakts mit einem mysteriösen Unbekannten. Maureen fährt in Kyras Wohnung, probiert die noblen Kleider an, die sie für ihre Chefin erstanden hat, und verschickt ein Foto von sich. Beim Umziehen sind ihre nackten Brüste zu sehen, doch um die Sexualisierung seiner Hauptdarstellerin für begehrende (männliche) Blicke geht es Assayas und seinem Kameramann Yorick Le Saux, mit dem er seit "Boarding Gate" (2007) immer wieder zusammengearbeitet hat, nicht. Vielmehr baut der Film zu Maureen, der einsamsten aller Assayas-Heldinnen, eine große Intimität auf, die keine Close-Ups braucht. Schließlich masturbiert sie im Bett und Kleid ihrer Chefin, während die Kamera durch die Tür verschwindet, in einen benachbarten Raum gleitet und nur noch ihr Stöhnen zu hören ist. Sie ist nicht Objekt, sondern Subjekt eines Begehrens, das längst keinen klar definierten Gegenstand mehr besitzt (einen Freund hat Maureen zwar auch, aber dass der nur zwei Mal als Chatpartner auf dem Bildschirm ihres Computers zu sehen ist, spricht Bände).



Seinen Plot entwickelt der Film betont langsam, in kleinen Informationshäppchen. Maureen sitzt in Paris fest und wartet. Ihr Zwillingsbruder ist vor drei Monaten in Folge einer Herzerkrankung verstorben. Einst hatten die beiden die Verabredung getroffen, dass, wer auch immer von den Beiden zuerst stirbt, der oder dem Verbleibenden ein Zeichen aus dem Jenseits geben würde. Was das Warten nicht eben versüßt, ist ihr Job als personal shopper für das reiche und arrogante Mode-Starlett Kyra.

Thematisch schließt der Film an das vorherige Schaffen Assayas' an. Wieder geht es um Mobilität, Entwurzelung, Sprache, den alltäglichen Umgang mit neuen Medien. Maureen, die an einer Stelle sagt, dass sie nicht den leisesten Schimmer hat, wo sie in sechs Monaten sein wird, bewegt sich mit dem Roller, dem Auto, dem Flugzeug oder dem Zug in und zwischen Paris, London und schließlich Oman, hantiert mit Handys und Laptops, interagiert mit sozialen Netzwerken, Suchmaschinen und Chatprogrammen.

Allerdings ist die Figur einerseits deutlich introvertierter angelegt als zum Beispiel die der Protagonistin in "Clouds of Sils Maria". Da spielte Stewart zwar ebenfalls eine Frau, die in ihrem Assistentinnen-Job am Rande der Welt von Geld und Glamour stand, ohne dieser wirklich anzugehören; dennoch ging es gleichzeitig noch um die undurchsichtige, zunehmend diffizile Beziehung zweier Frauen. Im Nachfolger ist Stewarts Figur vollkommen auf sich selbst gestellt.

Andererseits überführt der Filmemacher seine bekannten Themen konsequent ins Übernatürliche und führt damit in die globalisierte Welt mit ihren immensen Menschen-, Geld- und Datenströmen eine letzte frontier ein, die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Die direkten Reminiszenzen ans Genre-Kino, vor allem durch das Motiv des haunted house, bilden in "Personal Shopper" nur die Spitze des Eisberges einer Welt, die, in klaustrophobischen Scope-Einstellungen eingefangen, durch und durch gespenstisch ist. Die Kamera entwickelt eine Art Hypersensibilität für das Unheimliche im Alltäglichen. Das unmotivierte Öffnen und Schließen einer automatischen Tür. Die kleinsten Veränderungen auf dem stets angespannten Gesicht der Hauptdarstellerin. Gegenstände, die sich, winzig im Bildhintergrund zu sehen, (wohl nicht nur wie) von Geisterhand bewegen.

Es passt zu diesem im vielfachen Sinne phantastischen Film, dass er mit einer Frage endet, die auf den Ursprungs alles Unheimlichen zielt, und die er gar nicht erst vorgibt, beantworten zu können. Der Frage nach der Beschaffenheit eines flüchtigen, in unentwegter Veränderung begriffenen, fragilen Etwas, das wir als Ich bezeichnen.

Nicolai Bühnemann

Personal Shopper - Darsteller: Kristen Stewart, Lars Eidinger, Sigrid Bouaziz, Nora von Waldstätten, Benjamin Biolay - Laufzeit: 105 Minuten.