Efeu - Die Kulturrundschau

Die Zähigkeit all dieser Menschen

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20.02.2023.  Auf der Berlinale stört Sean Penn mit seiner Ukraine-Doku "Superpower" die Kritiker auf. Die FAZ zieht ein erstes Zwischenfazit des Wettbewerbs und erkennt auf ziellosen ästhetischen Ehrgeiz. In der FAS erinnert die ukrainische Schriftstellerin Iryna Tsilyk ihren Sohn daran, dass es nicht normal ist, keine Angst vor Bomben zu haben. Die FAZ stellt sich im Museum Frieder Burda Louisa Clements Maschinenfrauen. Die FR lauscht im Staatstheater Wiesbaden den Klängen zum Ende der Welt à la Margaret Atwood.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.02.2023 finden Sie hier

Film

Bromance im Kriegskeller: Sean Penns "Superpower"

Es war ein Coup: In der Nacht des russischen Angriffs auf die Ukraine befand sich auch Sean Penn in Kiew, der eigentlich nur gekommen war, um für Vice ein Porträt über Wolodomir Selenski zu drehen. Sein im Lauf des Jahres 2022 ergänzter Film "Superpower" hatte nun Weltpremiere auf der Berlinale. Mit diesem Film finde die "Berlinale am zweiten Tag ihren Ton", schreibt Philipp Bovermann in der SZ: Es ist ein beklemmender Ton." Hollywood-Star und Kriegspräsdient - diese "Begegnung hatte einen kulturellen Aspekt, denn hier trafen zwei Männlichkeitskulturen aufeinander, die viele Parallelen erkennen ließen", schreibt Bert Rebhandl in der FAZ. Tiefere Erkennntisse sind allerdings nicht zu holen: "Der hektische Duktus von 'Superpower' lässt ohnehin niemals zu, dass ein Thema so weit vertieft würde, dass man auch wirklich verstehen könnte, worum in der Ukraine tatsächlich gerade gekämpft wird. Nämlich um mehr als nur territoriale Integrität."

Penn "baut eine echte 'Bromance' zum Porträtierten auf", schreibt Andrey Arnold in der Presse, der sich allerdings etwas mehr Erkenntnisse gewünscht hätte. Der Film sei "nicht auf Substanz aus", schreibt Andreas Scheiner in der NZZ, "sondern auf den Effekt". Stimmt ja alles, findet auch Barbara Schweizerhof in der taz: In den Händen eines erfahrenen Dokumentarfilmers wäre hier noch mehr zu holen gewesen. Aber "es ist fast zu leicht, sich über Sean Penns Eitelkeit zu mokieren. Alles geschenkt. In Wahrheit reicht das Drumherum, das zufällig Mit-ins-Bild-Gekommene, die Seitenblicke derer, die auch mit drauf sind, um aus 'Superpower' ein super-spannendes Dokument zu machen."

FR-Kritiker Daniel Kothenschulte hingegen ist offen verärgert über diesen Film und die Berlinale, die hier in alte Muster zurückfalle: Mittelmäßige Filme einladen, um Starpower auf den Roten Teppich zu bringen. Denn an sich entspricht dieser Film "jener Sorte Dokumentarfilm, die man im Fernsehen schon nach ein paar Minuten aufgrund der unerträglichen musikalischen Untermalung und einer forcierenden Dramaturgie abschalten würde."



Vielleicht läuft ja doch im Forum der bessere Ukraine-Film? Dort zu sehen ist jedenfalls Piotr Pawlus' und Tomasz Wolskis "In Ukraine", Dokument einer Reise vom Westen in den Osten des Landes im Jahr 2022. "Am Anfang, ganz im Westen des Landes, ist der Krieg sehr weit weg", schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel. Doch die Reise geht weiter "bis das Regie-Duo mit Soldat:innen im Wald hockt, wo Schüsse und Bomben fallen." Dieser "meist stille, aber eindrückliche Dokumentarfilm verzichtet auf jegliches Interview, und auf Protagonisten. Vielleicht bringt 'In Ukraine' einem die Menschen in den Kulissen des Krieges gerade deshalb so nahe. Als Zaungast registriert man die Zähigkeit all dieser Menschen, in der Provinz und Metropolen, wenn sie dem Krieg Alltag, Weiterleben, Normalität abtrotzen."

Hallo wach für den Wettbewerb: "Disco Boy" von Giacomo Abbruzzese

Andreas Kilb zieht in der FAZ ein erstes Zwischenfazit des Wettbewerbs, "in dem in diesem Jahr viele Filme laufen, die mit unausgegorenen Drehbüchern und ziellosem ästhetischen Ehrgeiz ihre Sujets in den Griff zu bekommen versuchen". Das gelte auch für Giacomo Abbruzzeses Debütfilm "Disco Boys", dem es trotz starker Bilder an einer Idee fehle. Auch Perlentaucherin Thekla Dannenberg sieht den Wettbewerb bislang auch nicht so richtig in Fahrt kommen. Aber immmerhin verpasse Abbruzzeses "Disco Boys" ihm einen dringend benötigten "gehörigen Adrenalistoß": Der Film erzählt von einem belarussischen Flüchtling in der Fremdenlegion (Franz Rogowski), der in Nigeria in Scharmützel gerät, wo eine Befreiungsbewegung die Petrol-Industrie zum Teufel jagen will. "In dem hochaufgeladenen Film ist alles Energie, Lebenshunger und dunkle Poesie", lobt Dannenberg. Für die taz bespricht Arabella Wintermayr den Film.

Und noch etwas Technisches zur Berlinale: Dort muss man sich jetzt als akkreditierter Journalist für alle Vorstellungen (kostenlose) Tickets ziehen. Damit geht jede Spontanität flöten, bemerkt ein ungehaltener Peter Körte in der FAS. Zumal der Entzug der Akkreditierung droht, wenn man mehr als zwei Tickets verfallen lässt. "Abgesehen davon, dass nun lückenlos dokumentiert ist, wer welche Filme gesehen (und gemieden) hat, dass sich auch keinerlei Angaben zum Datenschutz finden, schafft das ein Problem, das es vorher gar nicht gab. Dass man auf einem Festival leicht mal eine Vorführung verpasst, weil ein Gespräch länger dauert, weil man sich in letzter Minute für einen anderen Film entscheidet, ist doch bekannt. Ohne Buchung und Stornopflicht wäre das nicht der Rede wert. Kommt einer zu spät, bestraft ihn oder sie das Leben, und kein Platz muss leer bleiben; jetzt wacht und straft die Festivalbürokratie."

Weiteres vom Festival: In der taz spricht Ayşe Polat über ihren Film "Im toten Winkel". Christiane Peitz berichtet im Tagesspiegel vom Iran-Panel des Festivals. Jan Künemund vom Tagesspiegel sieht auf dem Festival neue queere Filme aus Berlin. Gunda Bartels porträtiert für den Tagesspiegel die Schauspielerin Leonie Bensch. Weitere Texte vom Festival im Laufe des Tages in unserem Berlinale-Blog. Außerdem liefert Artechock kontinuierlich Kurzkritiken und längere Texte vom Festival. Cargo schickt SMS vom Festival. Und für den schnellen Pegelstand beim Festival unverzichtbar: Der Kritikerinnenspiegel von critic.de.

Aus dem Festival besprochen werden außerdem Matt Johnsons "BlackBerry" (Perlentaucher), Margarethe von Trottas "Ingeborg Bachmann" (Perlentaucher), John Trengoves "Manodrome" (taz, Perlentaucher), Celine Songs "Past Lives" (Perlentaucher), Zhang Lus "Der schattenlose Turm" (Perlentaucher), Claire Simons Dokumentarfilm "Notre Corps" (Perlentaucher), İlker Çataks "Das Lehrerzimmer" (taz), die Doku "I Am Noise" über Joan Baez (Perlentaucher), Maite Alberdis Dokumentarfilm "The Eternal Memory" (Tsp), Alex Gibneys Boris-Becker-Doku "Boom! Boom!" (ZeitOnline, Tsp), David Wnendts "Sonne und Beton" (Tsp) und Chhatrapal Ninawes "Ghaath" (Tsp).
Archiv: Film

Literatur

In der FAS schreibt die ukrainische Schriftstellerin und Regisseurin Iryna Tsilyk über das Muttersein angesichts der Maidan-Proteste, der Annexion der Krim und des Angriffs Russlands aufs Land. Im Oktober ist sie in Berlin, während Bomben auf Kiew fallen, wo ihr Sohn geblieben ist: "Schon längst zittert mein Sohn nicht mehr vor Angst, überhaupt hat er jede Angst verloren, und das bereitet mir große Sorgen. 'Alles ganz normal, Mama, ich mache mir gerade Frühstück, die Einschläge habe ich gehört.' O nein, das ist nicht normal, mein Lieber, normal ist das nicht! Wer ist diese Frau, die da durchs Hotelzimmer tigert und vehement auf ihren Sohn einredet, er solle bitte in den Luftschutzkeller gehen, dann das Telefon ausschaltet und losheult? Ich weiß es, es ist die Mutter, die ihr Kind nicht vor dem Krieg beschützen kann."

Auch der ukrainische Schriftsteller Artem Tschech blickt in der FAS auf ein Jahr Krieg zurück. Er kämpft als Soldat. "Der Krieg hat etwas, das mir sehr wichtig war, weggefressen, das Gefühl für Zeit. Früher, als ich in einem friedlichen Land gelebt habe und mit meinem unaufgeregten Alltag beschäftigt war, wusste ich - und darin liegt die bittere Ironie -, dass mein Leben endlich ist, ich wusste, dass früher oder später der Tod kommen und alles um mich herum ein für alle Mal verschwinden wird. Der Krieg mit seiner ganzen unersättlichen Gier hat mir dieses Gefühl genommen. Obwohl der Tod im Krieg konzentrierte Alltäglichkeit ist, fühle ich mich nicht mehr sterblich. Die Zeit ist stehen geblieben. In meinem Leben gibt es sie im eigentlichen Sinne nicht mehr. Die unfreiwillige Soldatenrolle dehnt die Zeit ins Unendliche, eine langfristige Perspektive gibt es nicht mehr. Der Krieg geht nicht zu Ende, der Tod kommt nicht. Alles steht still."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt hier und dort weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem Raphaela Edelbauers "Die Inkommensurablen" (NZZ), Volker Reinhardts Montaigne-Biografie (Tsp, Standard), Brigitte Reimanns "Die Geschwister" (FR), Gabriele Tergits "So war's eben" (Standard), Megan Abbotts Krimi "Aus der Balance" (online nachgereicht von der FAZ), Marcus Steinwegs "Sprachlöcher" (FR), eine textkritische Edition von Ernst Jüngers "Strahlungen" (Standard) und neue Hörbücher, darunter Nina Hoss' Lesung von Dörte Hansens Roman "Zur See" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Sebastian Kleinschmidt über Hanns Cibulkas "Ukrainisches Largo":

"Aasiger Hauch
zerschossener Pferde,
ausgetrocknet die Flüsse ..."
Archiv: Literatur

Kunst

Louisa Clement, Repräsentantin, 2021
FAZ-Kritikerin Ursula Scheer begibt sich in der "Reansformers"-Ausstellung im Museum Frieder Burda unter die Roboter und stellt beruhigt fest, dass ein Gespräch über Kunst mit Louisa Clements Maschinenfrauen schlecht läuft. Spannend findet sie es trotzdem: "Welche Wirkung entfalten künstliche Wesen im Freiraum der Kunst, in dem das Humane verhandelt wird? Die der Kontrolle der Künstlerin entzogenen 'Repräsentantinnen' werfen solche Fragen am ehesten durch ihre schiere Präsenz auf. Im Ausstellungsraum verkörpern sie das Unheimliche romantischer Tradition, als scheinbar lebendige leblose Wesen. Die Androiden sind Nachfahren von E.T.A. Hoffmanns Puppe Olimpia aus seiner Erzählung 'Der Sandmann' und zeitgenössische Schwestern der Roboterfrau Sofia, die als 'Künstlerin' auftritt. Dass Entwickler offenbar bevorzugt humanoide Roboter in weiblicher Gestalt zusammenbauen - andere Modelle am Markt heißen Ameca, Amelia, Geminoid F, Junko Chihira, Vyommitra oder Erica -, sollte zu denken geben."

Weiteres: Kroatien tut sich schwer, seine faschistische Vergangenheit aufzuarbeiten, berichtet Martin Sander in der NZZ, um eine Restituierung geraubter Kunst etwa kümmern sich die Behörden höchst schleppend: "75 bis 80 Prozent aller kroatischen Juden fanden im Holocaust den Tod. Die Museen des Landes sind bis heute voll von Kunstwerken, die der Ustascha-Staat einst jüdischen Sammlern geraubt hat." In der NZZ resümiert Philipp Meier ausführlich Rose-Maria Gropps Buch über Picassos Lebensgefährtinnen "Göttinnen und Fußabstreifer".
Archiv: Kunst

Bühne

Caption

Der deutsch-dänische Komponist Søren Nils Eichberg hat für das Staatstheater Wiesbaden Margaret Atwoods postapokalyptischem Roman "Oryx und Crake" zu einer Oper vertont, in der FR hört sich Judith von Sternburg das mit Interesse, wennn auch nicht ganz überzeugt an: "Atmosphärisch ist die postapokalyptische Welt hingegen stets und auch hier wieder eine perfekte Grundlage für das Musiktheater, das mit und ohne Menschen schon immer zuständig gewesen ist für Tristesse und Graus jeglicher Couleur... Das Ende der Zeiten gehört zu den Kernkompetenzen von Musik. 'Oryx and Crake', eine Auftragsarbeit für das Staatstheater, bietet finstere, aber nicht unzugängliche Klänge vom ersten dräuenden Ton an. Klassische Orchesterinstrumente werden mit Elektronik kombiniert, das wirkt über weite Strecken tonal, teils vertrackt, teil sphärisch, es gibt süße Streichermelodien, leitmotivische Elemente, tanzbare Momente, veritablen Operngesang (in englischer Sprache). Es gibt keine Berührungsängste zur Verve von Filmmusik."

Besprochen werden außerdem Ihsan Othmanns Bühnenfassung von Bachtyar Alis Roman "Die Besetzung der Dunkelheit" über kurdisches Leben in der Türkei am Staatstheater Wiesbaden (die mit stehenden Ovationen bedacht wurde, wie Björn Hayer in der taz festhält), Armin Petras' Bühnenfassung von David Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" (Nachtkritik), Sophokles' "Antigone" in leichter Sprache an den Münchner Kammerspielen (SZ, Nachtkritik), ein Ballettabend mit "Force Majeure" und "Boléro" am Hessischen Staatsballett (FR) und eine szenische Collage über den Maler Franz Radziwill am Staatstheater Oldenburg (Nachtkritik, FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Sehr beglückt rezensiert FAZ-Kritiker Jan Brachmann Nikolaus Brass' neues, bei der Musica Viva in München uraufgeführtes Stück "In der Farbe von Erde": Die Bratischistin Tabea Zimmermann eröffnet das Stück "ebenso verlockend wie rätselhaft" und zwar "mit einem Monolog, in dem die Lage und Farbe der Töne nicht dingfest zu machen sind. ... Er wirkt körperlich und ist es doch nicht, ein Hologramm aus Vierteltönen, aus Flageoletts und regulärem Klang, in dem oben und unten jedes Mal ineinander umkippen. Wenn man zufassen will, greift man ins Leere." Auch wenn die Streicher des BR-Orchesters hinzukommen, verschwindet diese Qualität nicht: "Das Zarte, nicht dingfest zu Machende des Anfangs wird keiner Nötigung zur 'klaren Kante' ausgesetzt, sondern aufgefangen in einem fein gewirkten Netz, das der Dirigent dieser Uraufführung, Vimbayi Kaziboni, mit größter Konzentration und mit Sinn für gleichsam organische Wachstumsprozesse hier im Herkulessaal zu spinnen weiß." In der SZ bespricht Harald Eggebrecht die Aufführung. Ein Mitschnitt läuft nächste Woche auf BR-Klassik.

Außerdem: Wolfgang Schreiber blickt in der NMZ auf 20 Jahre Ensemble Oktopus für Gegenwartsmusik. Marc Reichwein staunt in der WamS, wie gut Nenas "99 Luftballons" zur Gegenwart passt. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Dirigenten Ricardo Chailly zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden ein Schönberg- und Strauss-Abend der Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann (Standard), der Auftakt der "Cresc..."-Biennale im Sendesaal des Hessischen Rundfunks (FR), ein von Markus Poschner dirigiertes Konzert des RSO Wien (Standard) und das Album "Symba Supermann" des Berliner Rappers Symba (taz).
Archiv: Musik