Yuri Slezkine

Das jüdische Jahrhundert

Cover: Das jüdische Jahrhundert
Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 2006
ISBN 9783525362907
Gebunden, 422 Seiten, 29,90 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Michael Adrian und Bettina Engels. Yuri Slezkine verbindet historische und anthropologische Ansätze, indem er die Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Moderne universalisiert. Dabei bezeichnet er den Habitus jüdischer Lebenswelten als "merkurianisch", den der agrarischen Bevölkerung als "apollonisch". Im Zuge der Moderne, so Slezkine, verwandelten sich immer mehr Menschen in Merkurianer, sie werden gleichsam zu "Juden". Von diesen Fragestellungen und Metaphorisierungen der Soziologie um 1900 ausgehend zeigt das Buch die Alternativen auf, die den Juden um diese Zeit offen standen. Dabei rückt das revolutionäre Russland in den Mittelpunkt der Analyse. Die Leistung Slezkines ist es, in einer sowohl nüchternen als auch ironischen Weise die Präsenz von Juden in den zentralen Bereichen des Sowjetregimes zu erklären. Er verweist auf die Attribute ihrer Modernität, ohne dem antisemitischen Diskurs über Juden und Bolschewismus zu folgen. Sozial-, Mentalitäts- und Literaturgeschichte verbindend gelingt es Slezkine, die paradigmatische jüdische Erfahrung im 20. Jahrhundert provokant und spannend nachzuzeichnen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 10.01.2007

Yuri Slezkines "Jüdisches Jahrhundert" hat bei seinem Erscheinen im Original sowohl begeisterte Zustimmung als auch Skepsis geerntet, weiß Y. Michal Bodemann, dessen Urteil zwar kritisch, aber insgesamt durchaus positiv ausfällt. Der russisch-amerikanische Autor untersucht darin die jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert, und das mit glänzender Polemik und aus einem "ungewöhnlichen" Blickwinkel heraus, erklärt der Rezensent angetan. Slezkines Hauptinteresse gilt nämlich der geschichtlichen Entwicklung der in der Geschichtsschreibung wenig beachteten Juden in der Sowjetunion, die nach strenger Unterdrückung im Zarenreich sehr erfolgreich in die sowjetische Führungselite aufstiegen, bis sie Ende der 30er Jahre dann wieder grausam verfolgt wurden. Die Einteilung der Menschen in "apollinische" Nichtjuden, die sich vor allem durch Landwirtschaft, Viehzucht und Kriegsführung auszeichnen, und merkurianische Juden, die Dienstleistungen und Warenvermittlung betrieben, überzeugt Bodemann zwar nicht vollends. Doch kann er diesem "universalistischen" Standpunkt durchaus einiges abgewinnen, und er glaubt, dass dieses Buch ein unverzichtbarer Leitfaden für das Verständnis der jüdischen Geschichte des letzten Jahrhunderts ist.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.2006

Dies Buch hat Verdienste ließe sich Gottfried Schramms Rezension zusammenfassen, die überzeugende Untermauerung der im Titel vertretenen These gehört aber nicht dazu. Diese These lautet, kurz gesagt, dass die jüdischen Teile der sowjetischen Bevölkerung von zentraler Bedeutung für die Entwicklung von Wirtschaft und Staat waren. Nicht leugnen will Schramm, dass viele - freilich längst nicht mehr gläubigen, ihrer Herkunft entfremdeten - Juden den Bolschewiki "ergeben" waren. Nicht übersehen dürfe man jedoch, so der Rezensent, den "Abschwung", der sich in dieser Erfolgsgeschichte nach wenigen Jahrzehnten ereignet. Seit 1945 schließlich ist die "jüdische Herkunft" sogar entschieden zum "Makel" geworden. Allem Widerspruch zum Trotz hat Schramm das Buch offenbar mit Gewinn gelesen; gerade die Verbindung von "Herzblut und Esprit" mit einem eher professoralen Gestus komme diesem umfangreichen Essay zugute.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 11.10.2006

Staunenswert plump sei Yuri Slezkines kulturgeschichtliche Gleichsetzung von Modernismus mit Judentum, kritisiert Rezensent Daniel Jütte. Der Autor schramme nur knapp vorbei an antisemitischen Charakterisierungen, wie der besonderen Intelligenz von Juden oder deren generellem Hang zum Kommunismus. Nur der Nationalismus habe Slezkine zufolge verhindert, dass das zwanzigste Jahrhundert zum Jahrhundert der Juden werden konnte, weshalb diese prompt Marxismus und Kommunismus erfunden hätten, als supranationale Ersatzreligionen. Eine weitere Variante sei der Zionismus als im Grunde antiintellektuelles Konzept gewesen, das aus "Dienstleistern" wieder Ackerbauern machen wollte. Differenzierter kommt aus Sicht des Rezensenten nur die jüdische Geschichte in der Sowjetunion weg, wobei Yuri Slezkine für die heutige Situation wieder zu seinem Banalrezept greife, dass die Russen lernen müssten, statt Bauern Juden zu sein, um den Anforderungen der Moderne gerecht zu werden. Weiteren "holzschnittartigen" Theorien des Autors begegnet der Rezensent mit dem Hinweis auf neuere Forschungen über keineswegs immer separiert existierende jüdischen Lebenswelten seit der Renaissance.