Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2002. In der FR vergleicht John Berger den 11. September mit Hiroschima. Die taz geht auf dem Alexanderplatz spazieren. Die FAZ meldet, dass die italienische Regierung ihre Kulturgüter verkaufen will - eine Aktiengesellschaft ist schon gegründet. Die NZZ schildert, wie sich das südafrikanische Theater mit der Männergewalt auseinandersetzt. Die SZ erzählt vom beruflichen Selbstmord eines Hollywoodproduzenten.

FR, 09.07.2002

Der Schriftsteller und Essayist John Berger (mehr hier) sieht eine Parallele, aber auch eine Kontinuität zwischen Hiroshima und dem 11. September. Die Parallele: "Beide Male waren die Angriffe als Bekanntmachung geplant. Und egal, ob man als Augenzeuge den einen oder aber den anderen Paukenschlag mitbekam - man wusste, dass die Welt nie wieder dieselbe sein würde." Und die These von der Kontinuität hat eine sehr amerikakritische Pointe: "Und ich erzähle all dies auch, um daran zu erinnern, dass die Periode der waffentechnischen US-Suprematie, die 1945 begann, für alle Menschen, die außerhalb des US-Orbits heimisch sind, mit einer gleißend hellen Zurschaustellung einer ignoranten, weitab vom Schuss konzipierten Rücksichtslosigkeit begann. Stellt sich Präsident Bush also die Frage, 'warum sie uns hassen', dann könnte er sich gut diesen Umstand durch den Kopf gehen lassen - nur sitzt er in der Chefetage des Sechs-Sterne-Hotels und setzt niemals einen Fuß vor die Tür."

Die slowenische Schriftstellerin Ursula Cerne-Potocnik hat entdeckt, dass Berlin ein einziger Zoo ist: "Da hüpften sie: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben." Das waren die Kaninchen, aber auch Füchse, Mäuse, Ratten sind in der Stadt in großer Zahl anzutreffen, nur wilde Katzen gibt es zu wenige: "Aber ich vermisse die Katzen. Sehr. In Ljubljana erinnere ich mich an ein verspieltes Kätzchen im Gebüsch hinter der Staatsoper. In Berlin musste ich acht Monate darauf warten, bis ich eine wilde Katze sah."

Weitere Artikel: Die Stuttgarter Weißenhofsiedlung (mehr hier), ein bedeutendes Zeugnis der Architekturmoderne, wird 75 - Christian Thomas hat sich umgesehen. Roman Luckscheiter war auf einer Berliner Tagung zum Verhältnis von Demokratie und Kunst. Und Times Mager berichtet vom neuesten Trend in den USA, Desaster-Merchandising.

Rezensionen: Daniel Kothenschulte vermisst im jüngsten Disney-Film "Lilo & Stitch" ausgerechnet den Kitsch. Unter den besprochenen Büchern ist eines über Hans-Henny Jahnn und eine CD-Rom randvoll mit Parteiprogrammen und Wahlstatistiken. (Siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

SZ, 09.07.2002

Der Historiker Peter Romijn vom Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation  rekapituliert noch einmal das Kapitel Pim Fortuyn, fragt nach den Folgen seines Erfolges wie seines Todes und bringt uns auf den neuesten Stand der niederländischen Politik. Hier seine Einschätzung der Lage angesichts der neuen Koalition aus Christdemokraten, Fortuyn-Partei und Liberalen: "So könnte man annehmen, das politische Pendel schwinge wieder einmal - und ohne viel Drama - nach rechts. Die Politik, die damit einhergeht, könnte jedoch zu radikalen Brüchen führen. Das bezieht sich vor allem auf die Einwanderungspolitik. Unter dem netten Wort 'Integration' werden Ausländer zu mehr Assimilation genötigt werden."

Michael Ovitz, als Agent einst einer der mächtigsten Männer Hollywoods, arbeitet zielstrebig am eigenen Ruin. In einem noch gar nicht veröffentlichten - aber dafür bereits widerrufenen - Interview für Vanity Fair hat er, wie Susan Vahabzadeh mitteilt, die "Schwulenmafia" der Filmindustrie als Gegner ausgemacht. Keine gute Idee, wie man sich denken kann. "Ovitz hat mutmaßlich beruflichen Selbstmord begangen. Die L.A. Times zitiert den Manager Bernie Brillstein: 'Es ist vorbei. Er sollte in dieser Stadt nie wieder arbeiten.'" Mitleid übrigens ist keinesfalls angebracht.

Weitere Artikel: Michael Ott hat sich in Reinhold Messners (hier seine Website) neuem Museum umgesehen, inmitten beeindruckender Dolomitengipfel. Thomas Meyer schreibt zu einer Hamburger Tagung zum Thema "Moral im Nationalsozialismus". Alex Rühle ist die zweite Etappe der Tour de France (Website) im voraus abgefahren - kein Vergnügen. Herbert Riehl-Heyse bemüht sich, die guten Seiten des allgegenwärtigen Geldmangels zu entdecken. Gisa Funk berichtet vom Lyrikfestival in Köln, bei dem sich asiatische und deutsche Dichter trafen. Zum Tode des Kunstkritikers Heiner Stachelhaus schreibt Anne Linsel, außerdem gibt es noch einen Nachruf auf den Komponisten Earle Browne. Hoffmann & Campe hat einen "Preis der Kritik" gestiftet, dotiert mit "99 Flaschen edlen Weines" - darauf eine Glosse.

Besprechungen: Hans-Harald Löhlein war bei den 41. Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Werner Burkhardt berichtet vom Festival Jazz Baltica (hier die Website) im holsteinischen Salzau. Durchwachsen war, was Jens Malte Fischer bei einem Liederabend von Magdalena Kozenas zu hören bekam. Alex Rühle hat "süßlichem Nichts" gelauscht, war also auf einem Konzert von Jan Garbarek (mehr hier). Bamberg widmet dem Bistumsgründer Heinrich II. eine große Schau, Harald Eggebrecht zeigt sich beeindruckt. Besprochen werden, gar nicht unfreundlich, Irwin Winklers Film "Das Haus am Meer" und Bücher, darunter ein Band über italienische Technikphilosophie für das 21. Jahrhundert und eine Neuausgabe von "Daphnis und Chloe" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 09.07.2002

Erika von Wietersheim schickt einen längeren Hintergrundbericht über das südafrikanische Theater, das nach "neuen Rollenbildern sucht". Zur Sprache gebracht wird hier ein gewalttätiges Geschlechterverhältnis, denn "Südafrika hat laut Interpol-Statistik die höchste Vergewaltigungsrate der Welt; sexueller Missbrauch von jungen Mädchen ist in manchen Communities an der Tagesordnung". Wietersheim stellt Theatergruppen vor, die sich mit der Thematik beschäftigen und erklärt den Hintergrund: "Während der Apartheid verloren schwarze Männer in Südafrika zunehmend Status und Rechte, die sie jahrhundertelang aus der traditionellen afrikanischen Männerrolle abgeleitet hatten. Sie mussten die Erniedrigung der politischen Machtlosigkeit sowie der ökonomischen Ausbeutung durch die Kontraktarbeit in den Minen ertragen und dabei monatelang ohne ihre Familien leben. Das harte Leben am Rande der Armut traf die afrikanische Männlichkeit in ihrem innersten Kern: Stark zu sein, die Familie zu ernähren und zu beschützen und als Brotverdiener und Herr des Hauses seine Autorität zu definieren..."

Weiteres: Ralf Müller resümiert die Tagung "Moral Sense and Literary Sensibility" im Potsdamer Einstein-Forum, an der unter anderem J.M. Coetzee teilnahm. Besprochen werden eine Ausstellung über den Architekten Gio Ponti im Londoner Design Museum, das Avantgardekunst-Festival Belluard Bollwerk International im schweizerischen Freiburg, Puccinis "La Boheme" beim Classic Openair Solothurn und einige Bücher, darunter Jean Echenoz' Roman "Die großen Blondinen", ein Buch von Alan M. Dershowitz über die Bibel als Quelle des Rechts und Michal Vieweghs "Roman für Frauen" und ein Fotoband über die Zeche Hannibal von Bernd und Hilla Becher (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 09.07.2002

Der Berliner Alexanderplatz wird, neuester Planung zufolge, zur Shopping-Mall. Höchste Zeit, noch mal die Gegenwart festzuhalten und an die Vergangenheit zu erinnern. Drei Autoren schreiben zu diesem Thema. Annett Gröschner konstatiert: "Der Platz ist nicht schön, aber hat einen Vorzug, den keiner der neuen Orte hat, die in den letzten Jahren um-, aus- oder zugebaut wurden: Er ist kein bisschen künstlich; er ist zum Kotzen authentisch." Andre Meier erinnert sich: "Und auch am Boden konnte man der Demütigung kaum mehr entrinnen, seit die Weltzeituhr gnadenlos kundtat, was die Stunde dort zu schlagen pflegte, wo man sie wohl nie ticken hören würde können. Eine zynische Zumutung, das Ding, aber endlich ein Ort, an dem der Alex als Platz zu fassen war." Und Wolfgang Kil hat hier schon vor Jahrzehnten die Urbanität kennengelernt: "Autos in Sechserreihen: der Weltstadtplatz!"

Ansonsten werden Bücher besprochen, darunter Bruno Richards Thriller "Desaster" und in der schwarzen taz der neueste Krimi von Carlo Lucarelli. (Siehe unser Bücherschau ab 14 Uhr)

FAZ, 09.07.2002

Ute Diehl berichtet über die barbarischen Pläne der italienischen Regierung durch Verkauf von Kulturgütern, die dem Staat gehören, an Geld zu kommen. Schon wird das Kulturerbe "zwei ineinander verschachtelten Aktiengesellschaften anvertraut". Und Diehl kommentiert: "Der Staat gibt seine Rolle als Behüter des Kulturerbes auf. Niemand ist um den Mailänder Dom oder die Uffizien besorgt. In Gefahr jedoch sind die unspektakulären, über das ganze Land verteilten geschichtlichen Zeugnisse, etwa die spanische Befestigungsanlage in Orbetello, eine byzantinische Burg in Kalabrien oder Archive, Nationalparks und Bibliotheken."

Der Autor und ehemalige Lehrer Ludwig Harig (mehr hier) antwortet auf einen Freund, der ihn fragte, "was ich von den abenteuerlichen Erwartungen und Forderungen an den Lehrer halte". Er schlägt nach bei Pestalozzi: "'Was hilft alles Gerede über das Verderben unserer Zeit, wenn unser Innerstes darüber nicht erschüttert wird?' Mehr könne ich ihm nicht mitteilen, ließ ich meinen Freund wissen, es widerstrebe mir, in einem analytischen Artikel oder einer gutmeinenden Bekundung so zu tun, als hätte ich eine Lösung parat."

Weiteres: Waltraud Schelkle diagnostiziert bei den Briten in Bezug auf den Euro "jene Handlungslähmung, die den Melancholiker kennzeichnet". Edo Reents kommentiert den Umstand, dass der Popsänger Sasha für Kanzler Gerhard Schröder Wahlkampfreklame machen will. In einer Meldung erfahren wir, dass der Hoffmann & Campe-Verlag "99 Flaschen edlen Weins" für einen neuen Preis der Literaturkritik stiften will (um ein klareres Urteil zu ermutigen?) Gina Thomas stellt Daniel Libeskinds Bau für das neue Kriegsmuseum in Manchester vor (Foto) - und wie immer verlinken wir gern auf Libeskinds Homepage. Zhou Derong erzählt, dass den Harry-Potter-Geschichten als ersten ausländischen Bestsellern die Ehre wiederfährt, von chinesischen Raubkopisten eigenständig weitererzählt und variiert zu werden. Jordan Mejias berichtet von einem Protest Ralph Naders und Noam Chomsky gegen neue Werbepraktiken der Buchhandelskette Borders - für die die Verlage bezahlen sollen. Jochen Hieber gratuliert dem Germanisten Wolfgang Leppmann zum Achtzigsten.

Auf der letzten Seite zeichnet Michael Jeismann ein kleines Profil des Geigers Min Kim, der sich um den deutsch-koreanischen Kulturaustausch verdient machte. Und Jürgen Kaube berichtet über die Idee des niedersächsischen Wissenschaftsministers Thomas Oppermann, auch die Universitäten einem Pisa-Test zu unterziehen. Auf der Medienseite erfahren wir, dass die FDP durch eine Klage eine Zulassung Guido Westerwelles zum Duell Schröder-Stoiber erreichen will. Paul Ingendaay erklärt, "warum sich spanische Schriftsteller so gern als Zeitungskolumnisten betätigen". Und Jordan Mejias berichtet, dass nun das amerikanische Frühstücksfernsehen die Lücke füllt, nachdem Oprah Winfrey keine Bücher mehr empfiehlt.

Besprochen werden zwei neue Arbeiten von Trisha Brown beim Festival für zeitgenössische Choreographie in Montpellier und der Disney-Zeichentrickfilm "Lilo und Stitch".