Efeu - Die Kulturrundschau

Radikal schöne Idee

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.02.2023. Die NZZ bestaunt die "Milles Arbres", mit denen der japanische Architekt Sou Fujimoto den Périphérique in Paris überbauen möchte. Gustavo Dudamel ist der neue Chef der New Yorker Philharmoniker: Die Welt winkt ab, alles nur Diversity-Opportunismus. Dunkle Liebesmystik durchlebt die FAZ mit Dominik Grafs Film "Gesicht der Erinnerung". Standard, Zeit und SZ sind hingerissen von der Ereignislosigkeit in den Bildern Vermeers. Warum ein Comic für einen Hedgefond plötzlich Millionen wert ist, erklärt in der SZ der Comichistoriker Alexander Braun.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.02.2023 finden Sie hier

Architektur

Ein Dorf und tausend Bäume über dem Périphérique: Sou Fujimotos "Milles Arbres"


Der japanische Architekt Sou Fujimoto möchte in Paris zusammmen mit dem Büro Oxo Architectes eine bewaldete Überbauung der Ringautobahn an der Porte Maillot bauen. Ob das Projekt "Mille Arbres" jemals verwirklicht wird, steht noch in den Sternen, berichtet Laura Helena Wurth in der NZZ. Doch einen Zweck hat es schon erfüllt: Fujimoto zeigt "eine radikale und radikal schöne Idee zur Nachverdichtung des urbanen Raums der Zukunft", lobt sie. "Er überbrückt mit seinen tausend Bäumen einen Fernbusbahnhof und den Périphérique. So verbindet er zwei Stadtteile und schafft gleichzeitig Raum zum Wohnen und Arbeiten. Neben Büros, einem Hotel und Kindergärten entstehen auch Wohnungen, die wie Deckaufbauten dieser urbanen Arche Noah wirken und sich zu einer dörflichen Struktur fügen. Die Bewohner dieser kleinen Einfamilienhäuser mit pittoresken Satteldächern werden dereinst mitten in Paris in einem bewaldeten Dorf leben, während unter ihnen die Autos über die Périphérique brausen. Geschluckt wird der Lärm von den tausend Bäumen. Fotovoltaik-Paneele und Windturbinen sollen den Energiebedarf der Überbauung decken."
Archiv: Architektur

Kunst

Jan Vermeer, Die Spitzenklöpplerin, 1666-1668. Musée du Louvre


In seiner großen Vermeer-Ausstellung hat das Amsterdamer Rijksmuseum stolze 28 Werke von insgesamt 37 des Künstlers vereint. Eine "Once-in-a-Lifetime-Show" ist das, schwärmt Katharina Rustler im Standard. Hanno Rauterberg sucht in der Zeit vergeblich nach einem angemessenen Superlativ für diese Schau. Dabei sind die Bilder völlig nichtssagend, es passiert überhaupt nichts, erklärt er. "Vermeer, der Erfinder des Privaten, so wirkt es. Immer weiter zieht er sich in das Streichellicht seiner Innenwelten zurück, nie fällt bei ihm der Blick durch die Fenster ins Freie. Und doch, privatistisch eng wird es nicht. Vermeer weiß seine Kunst zu entgrenzen, trotz des Rückzugs. Denn er öffnet die unsichtbare Wand: die zu uns, dem Publikum. Mal stellt er einen Holzstuhl in seine Bilder, wie eine Aufforderung, doch bitte Platz zu nehmen. Mal legt er ein Cello quer ins Bild, als sollte hier jede und jeder mitspielen. Heute würde man es partizipative Kunst nennen. Sie ist sich selbst genug und wird doch zur Einladung an alle: das Bild zu betreten und sich etwas auszumalen. Hier zeigt sich, was es mit dem Nichtssagenden eigentlich auf sich hat. Nichts zu sagen heißt, dem Unausgesprochenen einen Raum zu geben."

"Es ist faszinierend zu sehen, wie Vermeer die Zentralperspektive ausreizt", schreibt eine hingerissene Kia Vahland in der SZ, "wie er manche Figuren klar konturiert, andere beinahe mit ihrer Umgebung verschwimmen lässt und wie er mit Lichteffekten Stimmungen kreiert, etwa in seiner so entspannten Stadtansicht von Delft. Die Muße, die viele Vermeer-Gemälde ausstrahlen, hat auch damit zu tun: Mit seiner hellen, klug durchkomponierten Farbmalerei, welche die mitunter theatralische Dramatik des Flamen Peter Paul Rubens oder des Italieners Caravaggio für überflüssig erklärt. Die Spannungen, die diese Kollegen ihre Figuren lauthals ausagieren ließen, verlagern sich bei Vermeer gänzlich ins menschliche Innenleben. Und sind nicht minder aufregend."

Weiteres: In der taz erinnert Dominik Baur an Karl Valentin, der vor 75 Jahren starb. Caroline Fetscher resümiert im Tagesspiegel den Abschlussbericht zur Documenta 15. Die Jüdische Allgemeine hat ein kleines Dossier zur Documenta zusammengestellt, darunter auch ein Interview mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die jetzt genug Rückschau hatte. Viel wichtiger sei es doch, "die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Eine muss jedenfalls sein, dass es keine koordinierte Verantwortungslosigkeit geben kann, wie das bei dieser documenta der Fall war. Denn das habe ich im ganzen Verlauf erlebt: Niemand war verantwortlich. Ich fand die Grundidee zunächst spannend, aber man kann keine documenta machen mit einem kuratorischen Konzept, das auf Kuratieren verzichtet, sich der Verantwortung des Kurators nicht stellt."
Archiv: Kunst

Film

In Szene gesetzte Schönheit: Dominik Grafs "Gesicht der Erinnerung" (SWR)

Dominik Grafs neuer Fernsehfilm "Gesicht der Erinnerung" handelt von einer Frau, die in einem jüngeren Geliebten einen Wiedergänger jenes damals deutlich älteren Mannes erkennt, mit dem sie als junge Frau eine Affäre hatte. FAZ-Kritikerin Heike Huppertz erlebte einen von dunkler Liebesmystik geprägten Film. "Die Nacht- und Tagseiten der Bewegungen der Geschichte geben Einsichten, verhüllen wieder, geben scharfkantige, schmerzhafte Erkenntnisblitze, gebärden sich mystisch oder spirituell und schwelgen vor allem in rasch wechselnder Szenenfülle. ... Man könnte den Liebeswahn dieses Films für überkandidelten Schmus halten, aber seltsamer- und geheimnisvollerweise glaubt man Verena Altenberger alles aufs Wort und jede Gebärde, die Offenheit, die quasimediale Präsenz, Verwirrung, Schmerz und Abwehr, und ihr Leiden. Graf beglaubigt sie durch in Szene gesetzte Schönheit."

Sylvia Staude meldet in der FR Zweifel an: "Allerdings können die Hast zwischendurch, das Raunen und Mystifizieren, die unnötig aufdringliche Symbolik auch stören, können die Spinnen und Halluzinationen Christinas übertrieben ominös erscheinen, ebenso die dunkle Geschichte vom Schweigeengel (der den frisch Geborenen den Finger auf die Lippen legt, so dass sich die Vertiefung unter der Nase bildet) und vom 'Schatten' auf einer Kinderzeichnung." Welt-Kritiker Elmar Krekeler hingegen greift zu Superlativen: Vielleicht läuft hier im Februar schon der "schönste Liebesfilm des Jahres. Einer der schönsten Dominik-Graf-Filme ist er auf jeden Fall."

"On the Field of God in 1972-73" von Judit Elek

Das Filmfestival Rotterdam lud dazu ein, die ungarische Regisseurin Judit Elek wiederzuentdecken. In den Siebzigern dokumentierte sie das Leben in einer Bergarbeitergegend, schreibt Friederike Horstmann im Perlentaucher: So "entstand eine Milieustudie über eine Dorfgemeinschaft, in der überkommene Strukturen eine hartnäckige Diesseitigkeit aufweisen. Die soziografische Studie zeigt Eleks Faszination für Menschen, Behausungen, Orte. Sie handelt von Lebensbedingungen junger Frauen in einem kleinen Dorf, von ihren Widerständen, ihren Sehnsüchten. ... Die 14-jährigen Mädchen - die gerade die achtjährige Volksschule beenden - denken nach, über eine mögliche Zukunft. Ein Leben, noch ohne Feminismus, aber mit allen Gründen dafür. In der Klasse tragen die Mädchen aufrecht stehend ihre Wünsche vor: Wünsche nach Selbstverwirklichung. Wünsche, die Nachdenklichkeit verlangen, denn die Lebenswege scheinen in Istenmezején nur allzu vorbestimmt. Die Mädchen wollen vor allem eins: Nicht so leben wie es ihnen von den Eltern festgelegt wurde."

Der ungarischen Obrigkeit waren ihre Filme übrigens immer suspekt, schreibt Bert Rebhandl in der FAZ: "So sensibel und genau, wie sie die Realitäten in der ungarischen Provinz in den Blick bekam, wollte das dann auch niemand von den Autoritäten sehen, und Elek hatte sich einmal mehr als Filmkünstlerin unmöglich gemacht. ...  In Rotterdam konnte man sie bei einigen Vorführungen erleben, gebeugt, aber auch im hohen Alter noch stark, die Überlebende mehrerer Systeme, dadurch nun im Grunde sogar für die orbanistische Kulturbürokratie anschlussfähig. Aber mit der Widerspenstigkeit und Zärtlichkeit ihrer Filme lässt sich kein Staat machen."

"Dass das Kino am Ende sein soll, ist eine glatte Lüge", ruft M. Night Shyamalan, dessen neuer (im Standard besprochener) Film "Knock at the Cabin" diese Woche anläuft, im SZ-Gespräch. "Das behaupten viele wichtige Player, allein um ihre Streamingdienste zu pushen und weil die Aktionäre so was hören wollen. ... Durch die Pandemie haben die Studios ihre Pläne für weniger Kino und mehr Streaming plötzlich blitzschnell durchgezogen, anstatt nach und nach - und alle, wirklich alle haben brutal viel Geld verloren. Wir reden hier von Milliarden, die verheizt wurden, weil große Filme nicht im Kino liefen. ... Die Studios haben Selbstmord begangen, wollten es der Öffentlichkeit aber als Mord verkaufen."

Außerdem: Der Tagesspiegel macht Lust auf die Berlinale: Christiane Peitz stellt hier Filme aus dem Forum vor und dort welche aus dem zweiten Wettbewerb Encounters und aus dem Special. Nadine Lange hat in den Vorab-Pressevorführungen Filme aus dem Panorama gesehen. In der FAZ gratuliert Jürgen Kaube dem Schauspieler Joe Pesci zum Achtzigsten. Der Historiker Michael Brenner erinnert in der SZ daran, wie die Rechten vor hundert Jahren Kinoaufführungen einer "Nathan der Weise"-Verfilmung zu sabotieren.

Besprochen werden Kateryna Gornostais "Stop-Zemlia" (Perlentaucher, FAZ), Sarah Polleys "Die Aussprache" (FR, mehr dazu hier), Steven Soderberghs "Magic Mike's Last Dance" (FR, taz), Bujar Alimanis "Luanas Schwur" (SZ) und Alejandro Loayza Grisis "Utama - Ein Leben in Würde" (taz). Außerdem erklärt uns die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Bühne

In der nachtkritik beschreibt Martin Thomas Pesl das neue Besetzungskarusell in Wien. In der taz kritisiert Caspar Shaller die Nichtverlängerung des Vertrags von Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann am Schauspielhaus Zürich als "groben Schnitzer". Im Van Magazin beschreibt Merle Krafeld in einem sehr ausführlichen Artikel Audiodeskription als neue Kunstform für die Bühne. Und in der Zeit erinnern sich Sven-Eric Bechtolf, Daniel Barenboim und Claus Peymann an den verstorbenen Theatermann Jürgen Flimm.
Archiv: Bühne

Literatur

Wird versteigert: Zeichnung von Hergé. Bild: Artcurial


In der SZ erklärt der Comichistoriker Alexander Braun anlässlich der zu erwartenden millionenschweren Versteigerung einer Hergé-Titelbildzeichnung am morgigen Freitag, wie die Preise auf dem Comicmarkt derart explodieren konnten. Üblicherweise kamen solche Zeichnungen früher über einen niedrigen sechsstelligen Preis nicht hinaus. Ist ein Original-Hergé tatsächlich "Millionen wert? Diese Frage stellt sich schon lange nicht mehr in einer Welt, in der den Superreichen selbst in Krisenzeiten uneingeschränkt Mittel zur Verfügung stehen: um die eigene Sammlung einzigartiger zu machen oder auch nur, um am globalen Spekulationsrad zu drehen. Nicht erst seit gestern verschwindenbedeutendeArtefaktederPop-Kultur in den Tresorkammern von Hedgefonds. ... Auch lohnt es sich, einen Blick auf die Bezahlmodalitäten der jeweiligen Auktionshäuser zu werfen: Werden Bitcoins akzeptiert, wird die Schar jener, die Geld zu waschen haben, gleich um ein Vielfaches dichter. Immobilien sind gut. Kunstwerke sind besser."

Außerdem: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Birgit Schmid findet in der NZZ Michel Houellebecqs mutmaßlichen Porno-Ausflug (mehr) nur konsequent. Cornelia Geißler schreibt in FR einen Nachruf auf den Schriftsteller Gerhard Wolf. Moritz Reininghaus schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Literaturwissenschaftlers Willi Jasper.

Besprochen werden unter anderem Andreas Doraus und Sven Regeners "Die Frau mit dem Arm" (NZZ), Elisabeth Klars "Es gibt uns" (FR), der neueste Teil aus Michel Rabagliati autobiografischem Comic "Paul" (Tsp), Clemens Setz' "Monde vor der Landung" (SZ) und Jochen Schmidts "Phlox" (FAZ).
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Musik

Gustavo Dudamel ist der neue Chef der New Yorker Philharmoniker. Manuel Brug kann in der Welt über diese Personalie nur mit den Augen rollen: Dudamel sei als Dirigent doch längst ein Has-Been. Brug sieht Diversity-Opportunismus am Werk: "Konzept ist wichtig, Können zweitrangig. Mit Dudamel schmücken sich regelmäßig die Wiener wie die Berliner Philharmoniker, ohne dass in seinen Konzerten mehr als energetischer Mahler, feuriger Beethoven und natürlich viel rhythmusbetont Südamerikanisches zu hören ist. Dudamel wird benutzt. Er sitzt als Stellvertreter des so schick gewordenen globalen Südens in einem goldenen Käfig. Was fast schon wieder etwas Rassistisches an sich hat."

Außerdem: Im VAN-Magazin erzählt die Cellistin Josephine Bastian wie sie nach einem verheerenden Unfall zurück in ihr Berufsleben findet. Für die FAZ porträtiert Marc Zitzmann den Dirigenten Esa-Pekka Salonen, der im März mit dem San Francisco Symphony Orchestra nach Deutschland kommt. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche hier Francesca Campana und dort Helen Eugnia Hagan. Das VAN-Magazin bietet zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht eine Playlist.

Besprochen werden ein Auftritt von Michael Bublé (Standard), Dhafer Youssefs Album "Streets of Minarets" (Standard) und das neue Album von Yo La Tengo (ZeitOnline).

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