Vom Nachttisch geräumt

Falsch gestellte Fragen

Von Arno Widmann
28.10.2019. Für Ernst Haeckel stand fest, dass nur die Materie sich Gedanken machen kann, auch über den nicht existierenden Gott.
Ernst Haeckel (1834-1919), seit 1861 Professor der Zoologie in Jena, war der einflussreichste deutsche Propagandist der Darwinschen Evolutionstheorie. Er verbreitete seine Weltanschauung nicht nur in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern auch in einer Unzahl populärwissenschaftlicher Aufsätze und Bücher, sowie in einer eigenen Organisation, dem Monistenbund. Die Grundidee war, dass Natur und Geist einander nicht gegenüberstehen, sondern dass alles, was ist, Natur ist. Die Natur ist keine Maschine, und der Geist kommt nicht vom Himmel. Alles entwickelt sich aus Einem, darum Monismus, und nach den immer gleichen Gesetzen.

Anders als Darwin zog Haeckel weitgehende gesellschaftliche, politische Konsequenzen aus der Evolutionstheorie. Er propagierte eugenische Maßnahmen zur Verbesserung der menschlichen Rasse. Er war Pazifist und ein energischer Kämpfer gegen die herrschenden Religionen.

1899 erschien sein erfolgreichstes Buch "Die Welträtsel". 1872 hatte der Physiologe Emil du Bois-Reymond (1818-1896) einen Vortrag gehalten "Über die Grenzen des Naturerkennens". In ihm fielen die berühmten Worte "ignoramus et ignorabimus", wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen. Das letztere war der Stein des Anstoßes. Du Bois-Reymond legte 1880 nach in einem weiteren Vortrag "Die sieben Welträtsel". Hier versuchte er nachzuweisen, dass wir niemals wissen können, was Materie und Kraft seien, woher die Bewegung kommt, woher das Leben. "Woher stammt der Zweck in der Natur? Woher stammt die bewusste Empfindung in den unbewussten Nerven? Woher kommen das vernünftige Denken und die Sprache? Woher stammt der "freie", sich zum Guten verpflichtet fühlende Wille? Auf diese Fragen versucht Haeckel in seinem Buch "Die Welträtsel" zu antworten.

Wie gut oder schlecht uns heute Haeckels Antworten auch vorkommen mögen, jedenfalls ist sein Grundansatz, der viel belächelte Monismus, der Gedanke, an dem man nicht vorbeikommt. Wer versucht, das Gehirn mit dem Bewusstsein zu identifizieren, bekommt heute Schläge von den Philosophen. Aber noch keinem ist es gelungen, einen außerirdischen Ursprung des Denkens plausibel zu machen. Die Vorstellung, dass der menschliche Geist sich nicht im Zuge der Evolution entwickelt haben, sondern irgendwann von niemand weiß woher hinzugekommen sein soll, ist noch aberwitziger als der Gedanke, es gebe - anders als Marx es dachte - nur einen graduellen Unterschied zwischen Biene und Baumeister.

Dass man sich heute an ganz ähnlichen Orten wie zu Haeckels Zeiten heftige Schlachten liefert, kann man als Beleg dafür nehmen, dass tatsächlich noch immer nicht klar ist, wie menschliches Denken zustande kommt. Aber man ist doch schon viele Schritte weitergekommen. An der Konstruktion eines unüberbrückbaren Abstandes der menschlichen Verstandesleistung zu der anderer Tierarten, lässt sich nicht ernsthaft festhalten, wenn man die Forschungen zum Beispiel von Frans de Waal oder Sy Montgomerys zur Kenntnis nimmt. Am "Ignoramus" von Emil du Bois-Reymond werden wir womöglich festhalten, aber dass wir niemals dahinter kommen werden, wie aus Schaltkreisen Intelligenz entsteht, das werden heute deutlich weniger unterschreiben als noch vor ein paar Jahren. Schon Ernst Haeckels Lösung der Welträtsel bestand zu einem Gutteil darin, sie als gewissermaßen falsch gestellte Fragen darzustellen. Das mag als rhetorischer Trick erscheinen, aber Wissenschaft ist nicht die Kunst, die richtigen Antworten zu liefern, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Wie wird aus Physik Chemie und aus ihr Biologie? Das sind noch keine richtigen Fragen, aber sie machen einen Zusammenhang kenntlich, in den die Phänomene, um die es du Bois-Reymond ging, gestellt werden müssen, um einer Antwort näher gebracht werden zu können.

Haeckel beschreibt in seinem Buch immer wieder, wie Wissenschaftler wie Virchow und Wundt am Anfang ihrer Karrieren den Dualismus, die Vorstellung, Leib und Seele stammten aus unterschiedlichen Sphären, ablehnten und wie sie später umschwenkten und wieder vom "Geist in der Maschine" sprachen. Man sollte sich einmal die Mühe machen und schauen, wie weit die Reichsgründung, diese spezifische Verbindung von Thron und Altar, von technologischem Fortschritt und politischem Mystizismus nicht nur die gesellschaftliche Atmosphäre, sondern womöglich auch die universitären Forschungsprogramme beeinflusste.

Jeder Leser der Haeckelschen "Welträtsel" wird seine eigenen Überlegungen anstellen. Dem einen oder anderen wird auch Blochs Rede von den Wärme- und Kälteströmen in Marxismus und Materialismus einfallen. Haeckel gehört, so unangenehm das uns angesichts seiner eugenischen Vorstellungen erscheint, doch eindeutig in den Wärmestrom. Haeckels Materie ist keine Maschine, sie lebt und atmet. Ja sie denkt. Damit ist nicht gemeint, dass ein Stück Granit sich Gedanken macht über Gott oder die Liebe. Aber für Haeckel steht fest, dass nur die Materie sich Gedanken machen kann. Denn es gibt sonst nichts. Aber es gibt die Geschichte der Materie und ihrer Organisation, die "Entwickelungsgeschichte der Welt". Nicht über jeden Abschnitt wissen wir Bescheid, aber ein "wir werden es niemals wissen" gibt es nicht. Wir selbst sind Teil der sich entwickelnden, sich immer wieder neu organisierenden Materie.

Ernst Haeckel: Die Welträtsel, Kröner, mit einem knappen Geleitwort des Herausgebers Michael Quante, 475 Seiten, 24,90 Euro. Wer keinen Wert auf das kurze Geleitwort legt, der kann das Buch im Internet kostenlos lesen.