Efeu - Die Kulturrundschau

Ist das schon Musik?

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22.04.2021. Zeit und Welt bewundern die in Punkte gegossene Lebensenergie der in einer Nervenheilanstalt lebenden japanischen Künstlerin Yayoi Kusama. In der FAZ plädiert der angenehm optimistische Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber dafür, künftig mit Holz statt Beton zu bauen. Die Berliner Zeitung lässt sich von dem Musikproduzenten Walter Werzowa erklären, wie er und sein Team mit Hilfe künstlicher Intelligenz Beethovens Zehnte fertig komponiert haben. Die taz bewundert die bunten Vögel bei den Modeschauen von Claudia Skoda. Die Filmkritiker trauern um Monte Hellman.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2021 finden Sie hier

Kunst

Yayoi Kusama mit Skulpturen in ihrem Studio, New York, 1963, Fotocollage © YAYOI KUSAMA


"'Ich konvertiere Lebensenergie in Punkte des Universums. Und diese Energie fliegt gemeinsam mit der Liebe in den Himmel', hat Yayoi Kusama  einmal  gesagt. Es sind diese Worte, die man beim Besuch im Berliner Gropiusbau im Hinterkopf haben sollte", erklärt Gesine Borchert, die in der Welt die große Retrospektive der japanischen Künstlerin annonciert, die morgen beginnt. Seit 1977 lebt Kusama in einer Nervenheilanstalt in Tokio, in die sie sich selbst einweisen ließ. "Ihr Atelier für die großen Projekte eröffnete sie gleich nebenan und entwickelt dort mit einem Team immer neue Infinity Mirror Rooms - von denen in Berlin insgesamt vier zu sehen sind", erklärt in der Zeit Uwe Timm, voll des Lobes für die Ausstellung. "Spätestens seit Instagram gehören diese Räume der Unendlichkeit zu den berühmtesten Bühnen für das Museums-Selfie - obwohl sich die rauschhafte Seherfahrung kaum fotografisch reproduzieren lässt. Kusama hat mit diesen Installationen eine neue Form der ästhetischen Erfahrung geschaffen: die Immersion, in der räumliche Grenzen - und übrigens auch alle Kritik - aufgehoben scheinen, in der sich nicht nur bunte Lichter, sondern auch schwarz-gelbe Kürbisse und rot-weiße Phalli auf geradezu psychedelische Weise ins Ewige vermehren." Mehr zu Kusama und der Ausstellung findet sich bei Artsy.

Weiteres: Im Standard porträtiert Amira Ben Saoud das Wiener Kunstduo Hanakam & Schuller. Im Tagesspiegel berichtet Rolf Brockschmidt über die große Not holländischer Museen, die dazu führte, dass die Hermitage Amsterdam in großen Anzeigen um Spenden wirbt. Außerdem gibt uns Brockschmidt einen Ausblick auf die Kunst der Qadscharen, die künftig im Museum für Islamische Kunst zu sehen sein wird.
Archiv: Kunst

Bühne

Der Choreograph William  Forsythe war vom Kunsthaus Zürich gebeten worden, eine Arbeit für David Chipperfields neuen Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich zu entwerfen. Doch dann kam Covid, Interaktion war nicht mehr, also entschied Forsythe sich für Glocken, erzählt er der NZZ: "'Als ich den Rohbau besuchte, fand ich das Gebäude akustisch sehr interessant', sagt Forsythe. 'Es ist wie eine riesige Muschel, wie die Hörschnecke im Ohr - warum es also nicht wie das Innenohr bespielen?' ... Der Titel 'The Sense of Things' sei inspiriert vom Lehrgedicht 'De rerum natura' des römischen Dichters Titus Lucretius Carus. 'Ich dachte an die Zeit von 1417, als die Schrift von Lukrez entdeckt wurde. Sie vertrat die epikureische Auffassung, dass die Welt aus Materie und leerem Raum bestehe und es keine Götterwelt und kein Jenseits gebe - was eigentlich Protowissenschaft war. Das Gedicht war Zündstoff und bahnbrechend für die Neuzeit', meint Forsythe. 'Ich dachte aber auch an Huldrych Zwingli und die Zeit des reformatorischen Bildersturms von 1523, als all die Bilder aus den Kirchen geräumt wurden. Im Chipperfield-Bau haben wir so etwas wie einen zufälligen Ikonoklasmus, eine Umkehrung - die Kunstwerke sind verbannt und werden erst kommen.'" Hier bekommt man einen Eindruck.

Auch in der Zeit sind jetzt die Rassismus-Vorwürfe gegen das Düsseldorfer Schauspielhaus ein Thema, Peter Kümmel zeichnet sie im Aufmacher in aller Ausführlichkeit nach und versucht am Ende eine positive Lehre zu ziehen: "Gerade jetzt, wo es stillsteht, entwickelt sich das Theater zum Ort der großen, oft peinsamen Auseinandersetzungen. Aber nicht, indem es gesellschaftliche Konflikte einem Publikum zeigt, sondern: indem es in seinen Konflikten sich der Gesellschaft zeigt. Und damit mehr aufrührt als mit jeder Aufführung. Vorführungsfreie Zeit bedeutet: Das Theater führt vor, was anliegt. Zerlegt es sich dabei gerade selbst? Nein, es trainiert seine Muskeln für den Sprung zurück ins Leben. Wer dann in der Mitte der Bühnen stehen wird, auch darum wird gerade gekämpft."

Besprochen werden Kirill Serebrennikows Wiener "Parsifal"-Inszenierung (Zeit), Oliver Kellers Film-Theater-Hörspiel "Schleifpunkt" nach Maria Ursprungs gleichnamigem Theaterstück für das Theater St. Gallen (nachtkritik) und Christina Rasts Inszenierung von Shakespeares "König Lear" in der Version von Thomas Melle, ebenfalls am Theater St. Gallen (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Literatur

Der Historiker Volker Reinhardt denkt in der NZZ mit Michel de Montaignes "Journal de voyage" darüber nach, wie zu reisen wäre, wenn nur das Corona-Schlamassel endlich vorbei ist. Montaignes Text wechselt freilich sportlich seine Erzählperspektiven und -stimmen: "Das Reisejournal wird so zum Krimi, der Leser zum Detektiv auf der Suche nach dem Autor: Wer redet hier zu wem, in welcher Verkleidung und mit welcher Absicht? Und was ist Ernst oder Scherz, Satire, Ironie? ... Montaigne schreibt von sich als 'Monsieur de Montaigne', um sich von außen, wie auf einer Bühne, agieren zu sehen. Das gehört zu seinem Reiseziel: sich selbst zu erkennen und in seiner Zeit zu verorten. Reisen als Selbsterfahrung, das ist heutzutage Mode, damals ganz und gar neu."

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel unterzieht Volker Kutschers "Olympia" dem Page-99-Test von Tell. Gerrit Bartels schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Schriftsteller Sven Lager.

Besprochen werden unter anderem Doris Gerckes "Die Nacht ist vorgedrungen" (Freitag), Stephen Kings Thriller "Später" (taz), Jessica Jurassicas "Das Ideal des Kaputten" (NZZ), Ben Lerners Essay "Warum hassen wir die Lyrik?" (ZeitOnline), Doug Johnstones "Der Bruch" (Freitag), Rosmarie Waldrops "Pippins Tochters Taschentuch" (SZ) und Charlie Kaufmans "Ameisig" (FAZ).
Archiv: Literatur

Design


Es ist immer schön, wenn jemand sein Geld seinem Herzen hinterherwirft. Wir wissen nicht, wer diesen Sessel beim Auktionshaus Bukowski für um die 45.000 Euro ersteigert hat, aber wir möchten ihm ausdrücklich zu seinem unorthodoxen Geschmack gratulieren! Der Sessel stammt aus einer Reihe von Vintagestühlen, denen das belgische Designduo von AP, Alexis Verstraeten und Pauline Montironi, ein tierisches Uplift verpasste. "Miss Flamingo" ist ohne Frage der schönste unter ihnen.

Bunte Vögel findet man auch in der Retrospektive, die das Kulturforum der Berliner Modedesignerin Claudia Skoda widmet, versichert Beate Scheder in der taz. "Sie flattern und stolzieren, hüpfen und schreiten, schwingen sich am Trapez hin und her, wie große Vögel eben, Paradiesvögel, hinter und zwischen käfigartigen Bauzäunen: die Models aus Claudia Skodas Schau 'Big Birds' im Jahr 1979. Die Haare haben sie wild auftoupiert oder unter silbrigen Perücken verborgen, am Körper tragen sie Skodas neueste Entwürfe, flamboyante Strickmode, körpernah oder übergroß, mit wilden grafischen Mustern und ebensolches Bodypainting. ... Skoda, so heißt es, hätte ihre Models vor der Schau in den Zoologischen Garten geschickt, um sich die Bewegungsweisen der Tiere einzuprägen und anzueignen. Heute kennt man aufwändige thematische Inszenierungen von den großen Modehäusern aus Paris, Mailand oder New York, in den 1970ern war Skoda mit ihren Schauen, die eher multimedialen Happenings ähnelten, ihrer Zeit weit voraus."

Hier kann man das Ereignis, das "Big Birds" 1979 war, in einem Bericht der SFB Abendschau mitverfolgen:

Archiv: Design

Architektur

In der FAZ plädiert der angenehm optimistische Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber, inspiriert von Einsteins Sommerhäuschen in Caputh, dafür, künftig mit Holz statt Beton zu bauen - auch in der Stadt. Und entwirft dafür den ganz großen Plan: "Die globale Forstwirtschaft wird so ausgerichtet, dass sie die Wälder klimagerecht umbaut und zugleich möglichst viel Nutzholz für Siedlungen und Infrastrukturen auf nachhaltige Weise erzeugt. Dieses Holz und andere kohlenstoffspeichernde Naturmaterialien ersetzen Stahlbeton und Ziegel. Dadurch erzielt man einen doppelten Klimagewinn, denn positive CO2-Emissionen (durch Eisenverhüttung, Kalkbrennen) werden vermieden, negative CO2-Emissionen (durch atmosphärische Extraktion und langfristige Einlagerung) werden erzeugt! Selbst in eher bedächtigen Szenarien für die gebaute Umwelt kombinieren sich beide Effekte zu einer mächtigen Waffe gegen die Erderwärmung."

Außerdem: Im Tagesspiegel annonciert Bernhard Schulz die Pläne und Ausstellungen des Mies van der Rohe Hauses in Berlin-Weißensee zum zum 135. Geburtstag des Architekten.
Archiv: Architektur

Film

Anders als seine Zeitgenossen Dennis Hopper, Francis Ford Coppola, Terence Malick oder George Lucas hat es Monte Hellman nie bis ins Film-Establishment geschafft. Unter Aficionados gelten seine um 1970 entstandenen Filme aber zu den wichtigsten Filmen aus "New Hollywood". Jetzt ist er im Alter von 91 Jahren gestorben: Sein existenzialistisches Roadmovie "Two-Lane Blacktop" etwa ist "das definitive Werk dieser Bewegung", schreibt Bert Rebhandl in der FAZ. Mit seinen zuvor entstandenen Western "The Shooting" und "Ride the Whirlwind" - beide mit Jack Nicholson - sowie "Cockfighter", einer Charles-Willeford-Verfilmung, "gehört Hellman ins Pantheon des amerikanischen Kinos". Er "vereinte alle Widersprüche des alten, des neuen und auch eines Gegen-Hollywoods mit einer Sensibilität, die an europäischen Vorbildern geschult war. Sein Lieblingsfilm war 'Paris gehört uns' von Jacques Rivette. In Richtung 'Star Wars' oder 'Der weiße Hai' hätte er allenfalls geschielt."

Für Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek bilden Hellmans beide Nicholson-Western das eigentliche Gründungsmoment von "New Hollywood" - zu sehen gab es in "The Shooting" keinen gängigen Westernstoff, "sondern einen Kommentar zur Identitätskrise des Landes, zu Autoritätsverlust und Selbstzerfleischung." Zuhause brachte ihm das kaum Anerkennung: Hellmans "Anerkennung beruht auf der Wertschätzung der europäischen Cineasten. Hier steht er an der Seite eines Sam Fuller und eines Michelangelo Antionioni."

Weitere Artikel: Unter dem großen Schwung an italienischen Filmklassikern, die kürzlich überraschend auf Netflix gelandet sind, kann tazler Till Kadritzke ganz besonders Antonio Pietrangelis "Ich habe sie gut gekannt" von 1965 empfehlen. Daniel Kothenschulte trauert in der FR um den Cinerama Dome in Los Angeles. Wilfried Hippen empfiehlt in der taz die hier online abrufbaren Animationsfilme von Jule Körperich. In der taz gratuliert Thomas Abeltshauser John Waters zum 75. Geburtstag. Markus Ehrenberg schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf Thomas Fritsch. Einen sensationallen Auftritt als verstrahlter Hippie hatte er seinerzeit beim "Kommissar":



Besprochen werden Lee Daniels' "The United States vs. Billie Holiday" (taz), die Serie "Para - Wir sind King" (Freitag) und Karin Heberleins in der Schweiz bereits im Kino gezeigtes Langfilmdebüt "Sami, Joe und ich" (NZZ).
Archiv: Film

Musik

Peter Uehling erkundigt sich für die Berliner Zeitung beim österreichischen Musikproduzenten Walter Werzowa, wie dessen Team mithilfe von künstlicher Intelligenz Beethovens nur in Entwürfen vorliegende Zehnte fertig komponiert hat. Wobei die mit zahlreichen, zielführend ausgewählten Materialien gefütterte KI "keine fertige Symphonie ausspuckt, sondern abstrakte Zeit- und Tonhöhenwerte, und die stellen eine große philosophische Frage: Ist das schon Musik? Am Anfang dachte ich, dass ich Dateien bekomme, die ich daraufhin analysiere, wie 'Beethoven-mäßig' sie sind, dass ich die besten auswähle und zusammensetze. Die KI kann nicht fünf Minuten komplexe Musik mit stimmiger thematischer Dramaturgie, Verarbeitung und Form komponieren. Sie kann genial fortsetzen und harmonisieren 'im Stile von…' Beethoven aber komponiert motivisch, in Entwicklungen und Wiederholungen kleiner Zellen - das der KI beizubringen ist wahnsinnig schwierig. Die ersten Versionen zum Beispiel klangen nach Coldplay."

Außerdem: Jakob Biazza berichtet in der SZ von seinem Videotreffen mit dem Bluesmusiker Steve Cropper. Jan-Niklas Jäger erinnert sich in der Jungle World an Joey Ramone. In der taz weist Wilfried Hippen auf das neue Online-Konzertangebot des NDR hin.

Besprochen werden International Musics Album "Ententraum" (ZeitOnline, Tagesspiegel), eine Luxus-Neuausgabe von The Whos 67er-Album "The Who Sell Out" (Pitchfork), Rob Fryes "Exoplanet" (Pitchfork), neue Metalveröffentlichungen (The Quietus), ein neues Album von Van Morrison (FAZ) und das Debütalbum des Wiener Trios Zinn (Standard).

Archiv: Musik