9punkt - Die Debattenrundschau

Vision der maximalen Katastrophe

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.11.2022. Kürzlich erst hat Wladimir Putin Cherson annektiert, jetzt geht er schon wieder, berichtet unter anderem die taz. Einige Artikel in den Zeitungen widmen sich heute der neuen russischen Diaspora: Über hunderttausend Russen sind allein nach Georgien geflohen. Die Financial Times berichtet: Rupert Murdoch hat  mit Trump gebrochen. Die New York Post bringt ein hämisches Titelbild. Elon Musk richtet unterdessen laut The Verge Twitter systematisch zugrunde. Jüdische Allgemeine und Welt fragen: Wie sehr ist Bonaventure Ndikung, der kommende Chef des Hauses der Kulturen der Welt, für  BDS?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.11.2022 finden Sie hier

Europa

Erst am 30. September hatte Russland Cherson annektiert, erinnert Bernhard  Clasen in der taz. Nun ziehen sich Putins Truppen zurück aus der Stadt und der Region, und die Ukraine meldet 41 befreite Ortschaften, in denen die Minen geräumt werden müssen, mehr etwa im Guardian. Andere Städte, so Clasen, stünden aber noch unter Beschuss der Russen. "Indessen ist Russland auch von innen zunehmend geschwächt. Dutzende von Ehefrauen und Müttern aus der Region Kursk, deren Männer für den Krieg eingezogen wurden, sind in dem russischen Grenzort Ort Valuyki, 125 Kilometer nördlich von Svatove, in der Region Belgorod eingetroffen. Sie fordern, so berichtet der ukrainische Dienst von BBC, den Abzug ihrer Angehörigen aus der Kampfzone um Svatove in der Region Luhansk." Putin hat sich zum Rückzug aus der annektierten Stadt nicht geäußert, berichtet Friedrich Schmidt in der FAZ, diese Hiobsbotschaften zu überbringen, überließ er seinen Untergebenen.

Irina Peter porträtiert für die taz die junge Journalistin Liza (Name geändert), die von Tbilissi aus für das russische Studentenmagazin Doxa schreibt. Sie ist eine von über 113.000 Russinnen und Russen, die nach Kriegsbeginn nach Georgien flüchteten. Dort leben auch Tausende ukrainische Flüchtlinge, die keinen Fluchtweg nach Westen fanden: "Liza hat das Gefühl, dass sich die russische und ukrainische Community aus dem Weg gehen. Auch zwischen ukrainischen und russischen Journalisten ist ihr in Tbilissi kein Austausch bekannt. Sie selbst möchte niemanden aus der Ukraine retraumatisieren: 'Vielleicht hat sich das mittlerweile geändert, aber zu Beginn war es absolut klar, dass es völlig sinnlos ist, sich bei Leuten, die gerade vor Bomben geflüchtet waren, zu entschuldigen.' Sie fühlte damals eine starke Schuld. Erst einige Zeit nach Kriegsausbruch traute sie sich, ihren ukrainischen Freunden zu schreiben. Zu groß war ihre Angst, sie könnten Liza hassen - doch sie taten es nicht."

Die taz hat einige Journalisten aus Russland, Belarus und der Ukraine zu einem Workshop eingeladen. Ihre Texte erscheinen in einer Beilage. Janka Belarus schreibt über das komplizierte Verhältnis der Sprachen: "Jahrelang hat Lukaschenko versucht, alles Belarussische zu zerstören. Und doch höre ich heute auf den Straßen von Minsk viele junge Leute, die Belarussisch sprechen. Das freut mich. Das Schöne ist, dass es für Belarussen einfach ist, mit Ukrainern zu kommunizieren. Zwar spricht jeder in seiner eigenen Sprache, aber die Verständigung klappt bestens. Russen, die beide Sprachen für 'gebrochenes Russisch' halten, können da oft nicht mithalten. Dabei geht es nicht um sprachliche Unfähigkeit, sondern um Imperialismus. 30 Jahre lang waren sie nicht in der Lage, den Namen unseres Landes auszusprechen, aber sie berufen sich ständig auf das Lied 'Die Jugend ist mein Belarussija'. Deutsche sind offensichtlich imstande sich zu merken, dass das Land jetzt Belarus und nicht mehr Weißrussland heißt. Für Russen scheint das eine unlösbare Aufgabe zu sein. Nun denn: Bringen wir es ihnen bei."

Die Flucht von Künstlern und Intellektuellen aus Russland erinnert Ulrich M. Schmid in der NZZ an die Auswanderungswellen während der Sowjetzeit. Und: "In Russland selbst werden oppositionelle Kulturschaffende zunehmend marginalisiert. In der wichtigsten Moskauer Buchhandlung gibt es etwa eine interne Anweisung, dass Bücher von Ulitzkaja, Akunin oder Gluchowski nur mit dem Buchrücken und nicht mit der Vollansicht des Covers in die Regale eingestellt werden dürfen. Semfiras Lieder werden aus den Programmen der russischen Radiosender entfernt. In den Konzertagenturen zirkulieren inoffizielle schwarze Listen. Die besten Stimmen der russischen Kultur haben immer weniger mit Russland zu tun. Dem offiziellen Mainstream bleibt nur der Griff in die Mottenkiste: Das Staatsfernsehen zeigt nun im Auftrag des Kulturministeriums loyale Politiker, Schauspieler und Autoren, die patriotische Aussagen von Puschkin bis Dostojewski rezitieren."

Außerdem: Oxana Matiychuk hat in der SZ die Herausforderung angenommen, mit der Deutschen Bahn von Deutschland zurück in die Ukraine zu fahren. Selbst im Krieg funktioniert in der Ukraine einiges besser als in Deutschland, stellt sie fest: "Das Internet zum Beispiel oder der Kurierdienst Nova poschta, der alles Mögliche - ob ein kleines Paket oder eine Palette voll Hilfsgüter - schnell und zuverlässig liefert, und das bis an die Frontlinie."

Schon dass Jürgen Kaube heute in der FAZ auf einen Artikel Jacques Attalis in Les Echos aus dem Oktober zurückkommt, zeigt, wie schlecht die deutsch-französische Öffentlichkeit funktioniert. Attalis Artikel ist in Deutschland natürlich nicht zu lesen und steht hinter der Zahlschranke der Pariser Wirtschaftszeitung. Der ehemalige Berater François Mitterrands warnt darin vor einem deutsch-französischen Krieg. Das deutsche Geschäftsmodell - billiges Gas aus Russland, billige Verteidigung aus den USA, teure Exporte nach China - schildert er als zerbrochen, so Kaube in seinem Resümee. Gleichzeitig verschlechtern sich die deutsch-französischen Beziehungen wegen divergierender Interessen und der üblichen belustigten Indifferenz deutscher Politiker gegenüber französischen Empflindlichkeiten. "Attalis Text ist zu kurz, als dass man ihm eine Analyse der europäischen Situation entnehmen könnte. Den Krieg malt er nach Art von Intellektuellen an die Wand, die nur die Vision der maximalen Katastrophe für ausreichend halten, um die Leute aufzuwecken... Berechtigt ist aber sein Hinweis auf die Gefahren eines nonchalanten Nationalismus, der ohne Mythen auskommt und darum glaubt, gar keiner zu sein."
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Kulturpolitik

Im von uns gestern übersehenen Interview mit Philipp Peyman Engel von der Jüdischen Allgemeinen insistierte Bonaventure Ndikung, designierter Chef des Hauses der Kulturen der Welt, er habe die BDS-Bewegung nie unterstützt (Unsere Resümees), um gleich darauf zu erklären, weshalb er den Brief der "Initiative GG. 5.3 Weltoffenheit" unterschrieben hatte. Auch auf die Frage, ob er im HKW mit Künstlern zusammenarbeiten werde, die den BDS unterstützen, war von Ndikung keine klare Antwort zu bekommen. Heute zerlegt Boris Pofalla in der Welt das Interview: "BDS liegt für Ndikung zwar falsch, sich gegenüber BDS eindeutig abzugrenzen, ist aber scheinbar ebenso falsch. Es ist, als versuche man den berühmten Wackelpudding an die Wand zu nageln." Deutlich wurde Ndikung indes im Mai 2021: Da hatte er "den offenen Brief 'Palästina Spricht' unterzeichnet, der unter anderem von der Bundesregierung fordert, ihre Unterstützung für Israel aufzugeben. Das ist die Positionierung eines der bald schon mächtigsten Player im kulturellen Berlin. Nichts hat sich an seiner Einstellung gegenüber Israel geändert. Ndikung gesteht nur das absolute Minimum zu, um seinen Job in der staatlichen Institution antreten zu können. Es ist eine Taktik, die einem aus Kassel bekannt vorkommt - und die schon einmal spektakulär gescheitert ist."
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Geschichte

Im Gespräch mit Ulrich Seidler (Berliner Zeitung) erinnert sich die Historikerin Annette Leo, die in einer jüdisch-kommunistischen Familie aufwuchs, an die antizionistische Politik der DDR. Zum BDS sagt sie: "Was mich an der Israel-Kritik manchmal irritiert und stört, ist der besondere Fokus gerade auf diesen Konflikt. Das ist mir verdächtig. Warum beschäftigen sie sich nicht in demselben Maß mit dem Sudan, Ägypten, Syrien, Irak, Iran oder unzähligen anderen Beispielen? Warum wird sich so überdurchschnittlich über Israel empört? Das zeugt doch davon, dass da ein unterschwelliger Antisemitismus hineinspielt. Und wenn jemand sagt, die israelische Armee geht mit den Palästinensern so um wie die Nazis mit den Juden, dann hat er sich deutlich als antisemitisch geoutet. Es passieren schlimme Dinge in den besetzten Gebieten, doch das ist etwas anderes als der Holocaust. Aber wenn jemand mit der BDS-Bewegung (...) sympathisiert, wäre der für mich nicht zwangsläufig hinter der roten Linie. Ich selbst möchte diese Boykottbewegung, wo es ja vor allem um kulturelle Kontakte geht, gar nicht unterstützen, weil es die Falschen trifft - und klar gibt es Antisemiten, die dort aktiv sind. Aber im Grunde genommen ist es doch ein friedlicher Protest gegen ein ungerechtes Besatzungsregime. Warum das jetzt so verteufelt wird …"

Der Historiker Norbert Frei erinnert in der SZ an die zwölf Nürnberger Nachfolge-Prozesse, die vor 75 Jahren endeten. Bei den Juristenprozesse "präparierten die Amerikaner das 'System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit' eindrucksvoll heraus, dem sich die Angeklagten 'unter Verletzung der Kriegsgesetze und der Gesetze der Menschlichkeit' verschrieben hatten - im Namen des Rechts." Aber: "Anders als beim Ärzteprozess, der einige Monate zuvor mit sieben Todesstrafen (aber auch mit vielen Freisprüchen) zu Ende gegangen war, nahm die Öffentlichkeit nun kaum mehr Notiz. Das hing mit dem enormen Widerwillen zusammen, mit dem die Deutschen inzwischen alles beäugten, was nach Entnazifizierung roch, allerdings wohl auch mit den vergleichsweise milden Strafen."
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Gesellschaft

Kürzlich zweifelte erst der Soziologe Heinz Bude in der SZ an der vielbeschworenen neuen Solidarität (Unser Resümee), heute fragt der Schriftsteller Christian Baron ebenda: Was tut die Politik eigentlich angesichts wachsender Armut und gesellschaftlicher Spaltung: "Wie weit muss der Markt das Spiel der Verelendung noch treiben, damit eine aus zwei Mitte-links-Parteien bestehende Regierung einen bundesweiten Mietenstopp erlässt? Laut dem Monitoringbericht 2021 von Bundesnetzagentur und Bundeskartellamt wurde im Jahr 2020 genau 230.015 Haushalten wegen säumiger Rechnungen der Strom abgestellt. Dass die Energiearmut bei steigenden Preisen zunehmen und kein 'Doppelwumms' das wird aufhalten können, für diese Prognose braucht es wenig Wagemut. Wie viele Menschen sollen in diesem reichen Land im kalten Winter in ungeheizten Räumen leben, ehe die Verantwortlichen ein Moratorium über Gas- und Stromsperren verhängen und die Energiepreise deckeln?"
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Internet

Elon Musk scheint Twitter - trotz allem die wichtigste Plattform der internationalen Öffentlichkeit - systematisch zugrunde richten zu wollen. Die Washington Post (nicht online) und  Alex Heath in The Verge berichten heute, dass die Top-Datenschutz- und Sicherheitsingenieure Twitter verlassen haben. Heath zitiert aus einer Slack-Botschaft eines Firmen-Justiziars: "Elon hat gezeigt, dass seine einzige Priorität bei den Twitter-Nutzern darin besteht, sie zu monetarisieren. Ich glaube nicht, dass er sich um die Menschenrechtsaktivisten, die Dissidenten, unsere Nutzer in nicht monetarisierbaren Regionen und all die anderen Nutzer kümmert, die Twitter zu dem globalen Marktplatz gemacht haben, den Sie alle so lange aufgebaut haben und den wir alle lieben." Twitter hat zugleich Ärger mit der Federal Trade Commission (FTC), berichtet Heath. Musk scheint sich nicht an einen Vergleich zu Datenschutzfragen halten zu wollen und riskiert Klagen in Höhe von Milliarden von Dollar.
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Stichwörter: Twitter, Musk, Elon, Datenschutz

Medien

Der Pressezar Rupert Murdoch ist nicht zufrieden, wenn Politiker unter ihm nicht so funktionieren. Murdoch hat mit Trump gebrochen, schreiben Anna Nicolaou and Joshua Chaffin in der Financiel Times (und Trump ist total sauer): "Murdoch nutzte seine Publikationen als Briefpapier und machte den Anfang. Auf der Titelseite der New York Post erschien am Donnerstag ein überdimensionales Bild des ehemaligen Präsidenten, der von einer Ziegelmauer stürzt, eine Anspielung auf den Kinderreim Humpty Dumpty, mit der Schlagzeile: 'Don (der keine große Mauer fertigbrachte) ist tief gefallen'. Das Wall Street Journal, das ebenfalls zu Murdochs News Corp gehört, veröffentlichte am selben Tag einen Leitartikel mit dem Untertitel: 'Er hat jetzt 2018, 2020, 2021 und 2022 versagt.' Die Redakteure der Zeitung schreiben: 'Trump hat die Wahlen 2022 verpfuscht . . er hat die Republikaner in ein politisches Fiasko nach dem anderen geführt'."

Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat an diesem Mittwoch dem Institut für Rundfunktechnik (IRT) aus München, das den öffentlich-rechtlichen Sendern untersteht, eine "herbe Niederlage" zugefügt (Unsere Resümees), berichtet Klaus Ott in der SZ: "In einem 68-seitigen Urteil hat das OLG die Berufung des öffentlich-rechtlich getragenen Technik-Instituts gegen eine Entscheidung des Landgerichts Mannheim vom September 2019 zurückgewiesen." Was hätte sich von den 317 Millionen Euro, "von denen vor allem auch die ARD indirekt profitiert hätte, nicht alles bezahlen lassen", seufzt Ott: "Zahlreiche Folgen des Tatorts zum Beispiel, Deutschlands meistgesehener Krimireihe im TV, von der eine Folge im Schnitt 1,5 bis 1,7 Millionen Euro kostet. Oder große Teile der teuren Übertragungsrechte für die anstehende Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Oder ganze Spartenprogramme von ARD und ZDF, fast ein ganzes Jahr lang; beispielsweise 3Sat oder der Kinderkanal. Hätte das IRT seine Patente besser vermarktet, dann hätten sich dessen Gesellschafter einen Teil ihrer hohen Zuschüsse für das Institut ersparen und dieses Geld für das Programm verwenden können."

Sascha Lobo sichtet für seine Spiegel-online-Kolumne die Medien und findet sie in der Iran-Berichterstattung doch ausgesprochen schwach: "Die iranische Revolution der Frauen, der jungen Menschen findet in deutschen Leitmedien noch immer nicht ausreichend statt. Wie als Symptom beträgt die Gesamtzahl der Spiegel-Titelbilder zum Thema ebenfalls: null. Ein Themenschwerpunkt stand Ende Oktober lediglich links oben in der Ecke, als sich das Titelbild dem britischen Regierungschaos widmete. Automatisch ergibt sich die Frage: warum? Es ist eine Frage, die die iranische Diaspora traurig, wütend, fassungslos macht. Zu Recht."
Archiv: Medien

Politik

"Eine Stimme für die Republikanische Partei ist eine Stimme gegen die Demokratie", sagt der amerikanische Politologe Daniel Ziblatt im ZeitOnline-Gespräch (hinter Paywall): Es sei "ein Fehler, immer nur auf die Präsidentenfrage schauen, auf diesen Teil des politischen Systems. Die Bedeutung des Kongresses ist sehr groß und sehr viele Republikaner, die da jetzt sitzen, sind einfach verrückt und gefährlich. (…) Der Wandel, den Trump angestoßen hat, setzt sich jetzt quasi unabhängig von ihm fort, auch in den Bundesstaaten. Dort sind teils Leute in wichtige Ämter gekommen, die den Wahlsieg von Biden 2020 nicht anerkennen und bei denen unklar ist, ob sie eine demokratische Präsidentschaftswahl 2024 unmöglich machen können. Hier entsteht eine ganze Infrastruktur des Autoritarismus."
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