Mord und Ratschlag

Der Typ mit dem Dope

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
30.08.2019. Selim Özdogan erzählt in seinem Hiphop-Roman "Der die Träume hört" von deutsch-migrantischer Frustration, von der Brutalität der Straße und der Härte des sozialen Aufstiegs. Mit seinem Roman "Morduntersuchungskommission" setzt sich Max Annas auf die Spur von Neonazis in der DDR, deren propagandistischen Ansprüche Aufklärung so gut wie unmöglich machen.
Cover: Der die Träume hörtIn der Nacht, in der er seinen Sohn zeugte, hörte Nizar Benali die Musik von Dre, Gang-Starr, Snoop, R. Kelly und Wu-Tang. Es war eine typische Nacht in Westmarkt, voller Wut, Sehnsucht und Lust, Gras, Pep und Wodka. Siebzehn Jahre später hört dieser Sohn Haftbefehl, Xatar, KMG und die frühen Sachen von Sido.

Nizar und sein Sohn Lesane begegnen sich zum ersten Mal, als der Junge schon siebzehn ist. Sie sind sich fremd und doch vertraut. Was sie verbindet, ist nicht die Familie, nicht die Kultur, sondern die Erfahrung. Sie sind beide in Westmarkt aufgewachsen, jenem verrufenen Quartier, das vom Rest dieser namenlosen Stadt im deutschen Westen schon lange abgeschrieben ist. Aus Westmarkt will jeder raus, aber kaum jemand glaubt, es auf legale Weise zu schaffen. "Es war nicht Dealerei, die so schlimm war, aber es gab keinen Frieden in einem Viertel, in dem so viel gedealt wurde, in dem so viel dreckiges Geld unterwegs war, so viel falsche Hoffnung, so viel Ausweglosigkeit, so viele Träume. Kein Frieden, keine Ruhe, keine Zukunft."

Nizar hat mehrere Anläufe gebraucht, jetzt muss er nur noch sonntags zurück, wenn er seine Ziehmutter Sevgi besucht. Sein Bruder, der gerissene und knallharte Kamber, schlug den schnellsten Weg zum großen Geld ein. Nizar wollte den geraden Weg gehen, sauber bleiben. Von seiner ersten Freundin, der Studentin Rahel, hatte er gelernt, dass es keine Auszeichnung ist, der Typ mit dem Dope zu sein (auch wenn er immer noch glaubt, dass Wörter wie temporär, veritabel und Skandalon nur "von Spacken" benutzt werden). Aber was tun, mit Jugendknast im Lebenslauf und ohne Ausbildung? Nizar wurde Detektiv, spezialisiert auf Online-Kriminalität: Cybermobbing, Erpressung, Fake-Handel im Internet. "Ein Mietbulle", wie sein Sohn verächtlich feststellt.

Jetzt soll Nizar den Online-Dealer ausfindig machen, der den Sohn eines Klienten auf dem Gewissen hat. Der Junge ist an einer Überdosis Mephedron gestorben, aber die Polizei gibt sich nicht einmal selbst eine Chance, den anonymen Händler zu finden. Da Nizar auf den einschlägigen Marktplätzen über eine gewisse Credibility verfügt, bekommt er Kontakt zu den bissigsten Haien im Teich. Auf Plattformen wie Dream Market oder Fraudster, lernen wir, herrscht FUD - Fear, Uncertainty, Doubt: Angst vor verdeckten Ermittlern, vor Anbietern, die nicht liefern, vor Käufern, die nicht zahlen. Es ist ein Netz des Misstrauens. Aber auch im Online-Handel braucht man Läufer, die den Stoff bunkern und in den Post-Shop bringen. Auch im Internet gilt Streetwiseness, auch hier braucht es coole moves.

Selim Özdogans Roman "Der die Träume hört" ist ein HipHop-Roman. Dre, Snoop Dog und Scarface geben den Sound vor: Verkorkste Jugend, abgehängte Stadtteile, deutsch-migrantischer Frust, Gangsterfantasien, der dunkle Glanz der Straße. Zuallererst ist "Der die Träume hört" aber ein Roman über den sozialen Aufstieg, über den Wunsch nach oben zu kommen, egal auf welcher Seite des Gesetzes: Auch die Dealer in Westmarkt sparen für ein Leben in der Reihenhaushälfte. Nur der unglückliche Lesane reitet sich mit seiner Kleindealerei auf der Straße immer weiter in die Grütze.

Doch der Nihilismus des Rap liegt Özdogan fern. Er macht sich die Härte, an die hier alle glauben, nie zu eigen. Der 1971 in Köln geborene Schriftsteller zeichnet seine Figuren mit feinen Tönen und großer Sympathie, aber ohne Illusionen. Sie können sich durchaus entscheiden, wo sie stehen wollen, auch wenn sie alle mit demselben Gefühl aufgewachsen sind, versagt zu haben, verachtet zu werden und weg zu wollen. An Geld, Glück und Frauen glauben diese Jungen nicht wirklich, sie begnügen sich damit, "den Bullen die Ehre zu nehmen". Ihre Eltern flüchten in die Hoffnung, dass ihre Kinder nicht ewig Lust auf Rausch, Gewalt und Angst haben werden.

"Der die Träume hört" ist ein maskuliner Roman. Es geht um männliche Leben, um Kampf und Anerkennung, um Loyalität. Man braucht jemanden, der seinen Rücken hat, wie es bei Özdogan in einer Mischung aus Kiezdeutsch und Rapperslang heißt. Frauen spielen nur als Mütter eine Rolle. So wie die großzügige, aber ganz und gar nicht duldsame Sevgi. Sie schuftete ihr Leben lang, seit die Anwerber in ihr Dorf an die Schwarzmeerküste kamen. Beim Kinder-Puzzel bewies sie Geschick und Schnelligkeit, sie durfte nach Deutschland zum Geldverdienen. Dort hat sie vierzig Jahre lang Schuhe eingepackt. Ihr Mann ist schon lange an seiner kaputten Lunge gestorben.

Özdogans Roman ist heillos überladen mit Themen und Motiven aus vierzig Jahren Einwanderungsgeschichte, er ist auch etwas didaktisch und moralisch, in seiner Konstruktion vorhersehbar. Doch es ist bewegend und berührend, wie Özdogan die wütende Energie des Raps aufnimmt und zu einer deutschtürkischen Geschichte der Enttäuschung umschreibt. Am Ende ist "Der die Träume hört" auch eine mit dunklen Bässen grundierte Liebeserklärung an einen Sohn, der wiedergefunden ist und doch verloren bleibt.

Selim Özdogan: Der die Träume hört. Kriminalroman. Edition Nautilus. Hamburg 2019, 287 Seiten, 18 Euro (Bestellen).


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Cover: MorduntersuchungskommissionMax Annas ist ein Autor mit einem sympathisch breiten Interessensspektrum. Er war Redakteur bei der Kölner Stadtrevue, schrieb über den 1.FC ebenso wie über die globalisierte Massenproduktion von Nahrungsmitteln und lebte auch mal für den Jazz in Südafrika. In seinen Kriminalromanen verfolgte er Verbrechen am Anderen, in Kapstadt oder im Berliner Untergrund.

In seinem neuen Roman "Morduntersuchungskommission" lehnt sich Annas an einen wahren Fall an aus dem Jahr 1986, der vertuschten Ermordung des Mosambikaners Antonio Manuel Diogo durch Neonazis. In Annas' Roman ist es der 21-jährige Teo Macamo, Vertragsarbeiter im VEB Carl Zeiss in Jena, der zu Tode geprügelt und aus dem Zug geworfen wird. Den Fall übernimmt die zuständige Morduntersuchungskommission in Gera. Heute würde man es ein Hassverbrechen nennen, doch Ausländerfeindlichkeit ist 1986 für die Genossen Polizeioffiziere in Jena unvorstellbar: "So was macht in der DDR doch keiner", sagt der eine. "Das ist doch hier nicht wie in einem amerikanischen Gangsterroman. Das ist die Deutsche Demokratische Republik, und so etwas bleibt eben nicht verborgen", sagt der andere.

Oberleutnant Otto Castorp, verheiratet, zwei Kinder, eine Geliebte, ist nicht gerade ein bibelfester Exponent des Staates, aber auch nicht ganz ungläubig. Er sieht seine Aufgabe darin, ein solch übles Verbrechen in der DDR nicht ungesühnt zu lassen. Tag für Tag sucht er die Gleise ab, beobachtet Züge, befragt Zeugen. Er ermittelt so gründlich, wie er es gelernt hat, und bringt dabei Fakten zu Tage, die in den oberen Etagen nicht gern gesehen werden: Tägliche rassistische Anfeindungen? Massenschlägereien zwischen Deutschen und Mosambikanern? "Du bringst noch alle in Schwierigkeiten", muss er sich sagen lassen, "du hast schon immer so eine Unzuverlässigkeit in dir getragen." Die Ermittlungen werden für beendet erklärt und von der Spezialkommission des MfS übernommen. Otto Castorp macht trotzdem weiter.

Max Annas traut sich was mit seinem Roman. Das Tabu, an das er dabei rührt, ist nicht unbedingt die Tatsache, dass es in der DDR Neonazis und Rassismus gab. Auch wenn sich die Staatsführung noch so sehr darum berühmt hatte, die Völkerfreundschaft hochzuhalten und Nazi-Umtriebe zu unpolitischem Rowdytum zu deklarieren, ist ist das doch alles lange erwiesen. Viel unwahrscheinlicher als die Kombination von Nazis und DDR ist aber die Verbindung Kriminalroman und autoritärem Staat. Krimis brauchen Demokratie, sagt die Theorie, sie brauchen die Möglichkeit von Aufklärung, eine Ordnung, die entweder erschüttert werden kann oder die Verbrechen produziert. Recht und Gerechtigkeit sollen durchaus in einem gespannten Verhältnis zueinander stehen, aber ein Verhältnis muss es schon sein. Oder wie Luc Boltanski in "Rätsel und Komplott" feststellte: "Propagandaansprüche sind mit der Ungewissheit, auf der suspense beruht, nicht vereinbart."

In einem recht kargen Setting lässt Annas seinen Oberleutnant Otto Castorp genau gegen diese propagandistischen Ansprüche ankämpfen, nie aus moralischer Überlegenheit, sondern aus Eigensinn und polizeilicher Gewissenhaftigkeit. Das macht ihn nicht unbedingt zu einem glamourösen, aber durchaus überzeugenden Protagonisten. Dass er mit stoischer Routine gegen die politischen Vorgaben arbeitet, beschattet und wartet, beweist seine Integrität, geht allerdings spürbar auf Kosten von Tempo und Spannung. Mitunter grenzt der Roman ans Spröde, auch weil wir über das Leben Teo Macamos und der anderen Vertragsarbeiter so gut wie nichts erfahren.

Annas beweist jedoch ein feines Gespür für Nuancen, für Tonfälle, für all die Grautöne, die ein realistisches Bild der DDR ergeben: dieses ständige Bemühen, die hehren Ansprüche nicht hohl werden zu lassen, die gezwungene Kollegialität, den mit kleinen Fiesheiten durchsetzten Idealismus. Und die Versuche der Genossen, Direktiven von oben mit der eigenen Moral in Einklang zu bringen: Ist auch besser für die Familie, wenn sie die Wahrheit nicht erfährt. Und der Tod des Teo Macamo bleibt nicht der einzige, der passend gemacht werden muss: Wie sollte man auch erklären, dass der unzurechnungsfähige Mann, der seine Frau die Treppe hinunterstürzte, Betriebsgewerkschaftsleiter war? Und spielt es eine Rolle, dass der Junge, der sich erhängt an, nicht zur NVA eingezogen werden wollte?

Otto Castorps eigentlicher Antagonist ist jedoch niemand in der Hierarchie. Es ist sein Bruder Bodo, Führungsoffizier beim MfS. Bodo verkündet selbst bei Familientreffen Programmatisches: "Auch am Sonntag ruht unsere Wachsamkeit nicht." Und er findet, dass man die Dinge gewichten muss. "Die Menschen im Sozialismus sind ja nicht besser an sich. Sie haben nur bessere Bedingungen." Ganz nebenbei verabschiedet er damit das positive Menschenbild des Sozialismus für ein vorgeblich realistisches, in Wahrheit aber zynisches. In solchen Momenten zeigt der Roman seine Klugheit.

Max Annas: Morduntersuchungskommission. Roman. Rowohlt, Hamburg 2019, 352 Seiten, 20 Euro (Bestellen)