Bücherbrief

Man soff es aus Prinzip

04.03.2011. Eine eiskalte Künstlerin in Shanghai, swingende GIs und eine unwahrscheinliche Liebesgeschichte in Island, ein Putschversuch in Spanien, eine unanständig kluge Frau, Texte zum Post-Autorenkino, eine Geschichte der Prohibition - dies alles und mehr in den Büchern des Monats März.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, den Büchern der Saison vom Herbst 2010, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Herbst 2010, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag" und den Leseproben in Vorgeblättert.

Literatur

Silke Scheuermann
Shanghai Performance
Roman
Schöffling und Co. Verlag 2010, 312 Seiten, 19,95 Euro



Als sie 2005 das erste Mal in Schanghai war, erzählte Silke Scheuermann kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift Monopol, beeindruckte sie vor allem die "unglaubliche Gründerzeitstimmung", die dort herrschte. Als sie 2008 wieder dorthin fuhr, hatte sie schon die Grundidee für ihren Roman im Kopf: In der Kunstwelt Schanghais sollte er spielen. Die Performance-Künstlerin Margot Wincraft nimmt das Angebot einer chinesischen Galerie an, dort aufzutreten. Begleitet wird sie von ihrer Assistentin Luisa, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird. Während Luisa einer gescheiterten Liebesbeziehung nachtrauert, endet die Suche Wincrafts nach der eigenen Tochter tragisch. In der FAZ hat Sandra Kegel einiges über moderne weibliche Biografien gelernt. Im Deutschlandradio bewundert Ursula März den zwischen Kolportage und kühler Sachlichkeit changierenden Ton des Romans. Sogar Berühmtheiten wie Neo Rauch oder Vivienne Westwood haben einen Gastauftritt. "Der Kern des Buches aber ist die seelische Grausamkeit eines Kunstbegriffs, für den das Leben nur als Material zählt", so März.

Jonathan Lethem
Chronic City
Roman
Klett-Cotta Verlag 2011, 495 Seiten, 24,95 Euro



Seit seinem Brooklyn-Roman "Festung der Einsamkeit" gehört Jonathan Lethem zu den wichtigsten amerikanischen Autoren der Gegenwart. Ganz so begeistert wie von diesem großen Wurf sind die Kritiker vom neuen Roman "Chronic City" nicht, aber immer noch ganz schön: Er spielt wieder New York, schließt in einer Vielzahl von aberwitzigen Episoden und Motiven die Popkritik mit der Schickeria kurz und lässt eine Riesenraubkatze durch die Nacht streifen. In der FAZ sah Alexander Müller Lethem in Bestform, den Roman preist er als "ungemein spannende Lektüre", "mitreißend und vielschichtig". In der FR freut sich Sylvia Staude über viele sympathische Kiffer und vertrödelten Künstler, mit denen sie - im Unterschied zu Thomas Pynchons Gestalten- auch richtig warm wurde. Außerdem bewundert sie, wie souverän Lethem surreale Elemente in seine präsize Schilderungen streut. In der taz meldet Doris Akrap zwar beträchtliches Lektürevergnügen, fragt sich aber, ob Lethem mit seiner postmodern alternierenden Realität nicht ein bisschen spät kommt. Hier noch Gregory Cowles' Eloge in der New York Times, hier Lethems Essay über das Plagiat in der Literatur (bei der Böll-Stiftung auf Deutsch im pdf).

Indridi G. Thorsteinsson
Taxi 79 ab Station
Roman
Transit Buchverlag 2010, 117 Seiten, 14,80 Euro



Island ist in diesem Herbst Gastland der Frankfurter Buchmesse. Dieser Roman ist ein guter Einstieg in die isländische Literatur, meint Andreas Breitenstein in der NZZ. Indridi G. Thorsteinsson, 1926 als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren, arbeitete als Kraftwagenfahrer und Journalist, bevor er 1955 seinen Debütroman "Taxi 79 ab Station" veröffentlichte, der auf Anhieb ein Bestseller wurde. Der Taxifahrer Ragnar, aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen stammend, lernt zufällig eine schöne reiche Frau kennen und wird ihr Geliebter. Es ist eine ganz und gar unwahrscheinliche Liebesgeschichte, die vor dem Hintergrund des Einbruchs der Moderne in Island spielt. "Mit den swingenden amerikanischen Soldaten, den schnittigen Autos, den coolen Drinks und dem locker sitzenden Geld" ändern sich auch die Werte der vom Ackerbau und Fischfang geprägten Bevölkerung, so Breitenstein. Er bewundert die Erzählökonomie und den "kühnen Immoralismus" des Romans. Und die Erkenntnis, dass die Liebe den Einzelnen nie aus seiner Verlorenheit retten kann, zeigt ihm, dass Thorsteinsson seine Existenzialisten gut kannte.

Philip Roth
Nemesis
Roman
Carl Hanser Verlag 2011, 222 Seiten, 18,90 Euro



Ein Meisterwerk, darin sind sich alle bisherigen Kritiker des Romans einig. Philip Roth schließt damit eine Serie von vier Kurzromanen ab, die einmal für sein Spätwerk stehen sollen. Hier geht's um einen Sportlehrer in Newark, der in den vierziger Jahren vergeblich gegen die Kinderlähmung kämpft und auf trügerisch-symbolische Weise als Gegenfigur zum großen Theodor Roosevelt in Szene gesetzt wird. Der Roman hat durchaus auch Schwächen, besonders in der Konstruktion der Hauptfigur, meint Christopher Schmidt in der SZ. Aber es hilft nicht, er kann nicht dagegen anlesen: Das Buch zieht ihn einfach mit. Für Markus Gasser in der FAZ ist Eugene "Bucky" Cantor glatt der berührendste Held in Philip Roth' gesamtem Oeuvre. Und auch Ulrich Greiner in der Zeit macht aus seiner Begeisterung keinen Hehl.

Arno Geiger
Der alte König in seinem Exil
Carl Hanser Verlag 2010, 188 Seiten, 17,90 Euro



Arno Geigers für den Leipziger Buchpreis nominiertes Buch über seinen demenzkranken Vater hat bei der Kritik sehr unterschiedliche Reaktionen ausgelöst: Die einen waren ergriffen, die anderen abgestoßen. Für Felicitas von Lovenberg (FAZ) ist es die "wertvollste Lektüre des Frühjahrs", eine kluge, bedeutende Reflexion über Alter und Krankheit und ja, auch eine Liebeserklärung an den Vater. In der NZZ bekundet Franz Haas nach der Lektüre Dankbarkeit für sein intaktes Gedächtnis. Er lobt den Takt und die Einfachheit von Geigers Bericht. In der taz ist Dirk Knipphals berührt, wie Geiger die veränderte, emotionale Vater-Sohn-Beziehung beschreibt. Christopher Schmidt dagegen reagiert in der SZ abwehrend: Für ihn liest sich das Buch wie eine Abrechnung, die sich als Vatererhöhung tarnt. Ihm missfällt, wie Geiger den kranken Vater und dessen Fehlleistungen ausstellt. Ähnlich geht es Ulrich Stock, der sich in der Zeit an die Begeisterung für "Meisterwerke, die von Irren gemalt werden" erinnert fühlt.

Javier Cercas
Anatomie eines Augenblicks
Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde
S. Fischer Verlag 2011, 569 Seiten, 24,95 Euro

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In diesem dokumentarischen Essay beschreibt der spanische Schriftsteller Javier Cercas einen der bedeutendsten Momente der spanischen Demokratie: den Putschversuch des Militärs vom 23. Februar 1981. Damals versuchte der Oberstleutnant Antonio Tejero die Abgeordneten des spanischen Parlaments als Geiseln zu nehmen, er scheiterte, weil sich ihm drei Männer entgegenstellten: der ausgelaugte Ministerpräsident Adolfo Suarez, der unter Franco aufgestiegene General Manuel Gutierrez Mellado und der Chef der Kommunistischen Partei Santiago Carrillo. Alle drei waren zehn Jahre zuvor noch lupenreine Anti-Demokraten. Als Meisterwerk, als "glänzend geschriebene Geschichtserzählung" preist Paul Ingendaay in der FAZ diesen Essay, großartig findet er, wie Cercas den historischen Augenblick mit der Geschichte der drei Männer verschränkt. In der SZ hält Franziska Augstein das Buch für "exzellent" und die beste Darstellung des Putsches überhaupt, die hierzulande zu bekommen sei (auch dank der Übersetzung von Peter Kultzen). In der NZZ würdigt Jeannette Villachica den großen Dienst, den Cercas den Spaniern mit diesem Buch erwiesen hat.


Sachbuch

Kerstin Decker
Lou Andreas-Salome
Der bittersüße Funke Ich
Propyläen Verlag 2010, 368 Seiten, 22,95 Euro



Höchstes Lob bekommt Kerstin Decker für ihre Biografie der Lou Andreas-Salome: Mit diesem lebhaften, kapriziösen Buch werde sie Deutschlands erster Intellektuellen absolut gerecht, schreibt etwa Kristina Maidt-Zinke in der SZ und verfolgte mit großem Lesevergnügen Lebensweg, Gedankenwelt und Freiheitsdrang dieser Denkerin und Liebhaberin berühmter Männer (Nietzsche nannte sie "scharfsinnig wie ein Adler und mutig wie ein Löwe", nach erhaltener Abfuhr war sie dann das "dürre, schmutzige, übelriechende Äffchen mit seinen falschen Brüsten"). In der NZZ freut sich Ludger Lütkehaus über die mal zupackende, mal sarkastische Souveränität, mit der Decker diese "unanständig kluge" Autorin, ihr Werk und ihre immer wieder aufscheinende Grausamkeit schildert. Bei aller Sympathie für die flamboyante russische Generalstochter zeigt Oliver Pfohlmann in der FR auch Mitgefühl für die gebrochenen Männerherzen, die ihren Weg säumen: Außer Nietzsche waren Lou Andreas-Salome Rilke, Freud und Wedekind verfallen.

Patrick Bahners
Die Panikmacher
Die deutsche Angst vor dem Islam
C. H. Beck Verlag 2011, 320 Seiten, 19,95 Euro



Es sollte wohl ein Anti-Sarrazin sein. Schon die Aufmachung, ein rot-auf-weißer, statt weiß-auf-roter Titel signalisiert den konfliktuellen Bezug zu Sarrazins Skandalerfolg mit "Deutschland schafft sich ab". Die "Panikmacher" des Feuilletonchefs der FAZ sind von den Ressortkollegen in den anderen Qualitätsblättern auch pflichtschuldigst als Gegengift zu Sarrazin gefeiert worden. Thomas Steinfeld lobte es in der SZ als "Meisterwerk der Aufklärung". Bahners zerpflückt den Diskurs der "Islamkritiker", und zwar bis in die dritte Stelle hinter dem Komma, was sein Buch - wie selbst Steinfeld zugibt - recht anstrengend zu lesen macht. "Islamkritik" ist für Bahners ein "System von geschlossenen Sätzen", das mit der Wirklichkeit (auf die er auch gar nicht eingeht) nichts zu tun hat und dem Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts ähnelt. Der Treitschke des 21. Jahrhunderts ist dabei vor allem die Soziologin Necla Kelek, deren Bücher er eine zudringliche Analyse widmet. Monika Maron äußerte sich über die Auseinandersetzung mit Kelek und Ayaan Hirsi Ali in der Welt entsetzt: Sie sieht Bahners' Buch als eine reaktionäre Kampfschrift pro Religion (und nicht nur pro Islam), bei der Bahners über die Frage der Frauenrechte locker hinweg gehe. Auch Thilo Sarrazin hat das Buch in der FAZ in kräftigen Strichen verrissen: Er kritisierte vor allem die Angriffe ad personam und eine aus mangelnder Lebenserfahrung resultierende Naivität. In taz und FR stimmten Daniel Bax (hier) und Christian Schlüter (hier) Bahners dagegen aus vollem Herzen zu.

Thomas Welskopp
Amerikas große Ernüchterung
Eine Kulturgeschichte der Prohibition
Ferdinand Schöningh Verlag 2010, 660 Seiten, 49,90 Euro



Das amerikanische Alkoholverbot dürfte als abstrusestes Gesetz aller Zeiten in die Weltgeschichte eingegangen sein. Nie gab es einen solchen Kult um den Alkohol, nie war das organisierte Verbrechen einträglicher. In seinem Buch "Die große Ernüchterung" erzählt der Historiker Thomas Welskopp die Kulturgeschichte der Prohibition, von Schmuggel und Korruption, vom fröhlichen Leben der Unterwelt in Flüsterkneipen und Hinterhofkaschemmen. Die Rezensenten haben dies mit Vergnügen und Gewinn gelesen. Gruselnd verfolgte in der SZ Rudolf Neumaier den Sieg der antialkoholischen Moralistenbewegung, die auch Al Capone, dem National Crime Syndicate und Murder Incorporated den Weg ebnete, und berichtet schaudernd von dem Gebräu, das aus Kanada geschmuggelt oder in Garagen zusammengepantscht wurde und meist nur gefärbter Spiritus war: "Man soff es aus Prinzip". In der FAZ versichert Thorsten Gräbe, dass es Welskopp bei aller Unterhaltsamkeit nie beim Anekdotischen belässt, sondern Zeitgeschichte schreibt.

Laurens Straub
Mein Kino
So soll es sein
Belleville Verlag 2010, 128 Seiten, 14 Euro



Nur der Regisseur Dominik Graf hat dieses Buch des um die deutschen Autorenfilmer verdienten Kinomanns Laurens Straub bisher besprochen. Er zeigt sich in der FAZ überrascht über diese Kinotexte, die er zwar alle schon aus verstreuten Quellen kannte, aber in dieser Konzentration und Qualität erst in diesem Reader wiederentdeckte. Und lehrreich sei das Ganze auch. Wie sehr die Probleme von gleichzeitiger Überförderung und Durchschnittlichkeit, die Straub hier für die achtziger Jahre beschreibt, denen von heute doch gleichen! seufzt Graf. Als tollstes Stück im Band preist er dann Straubs Text zu Roland Klick, der nach Streit mit Bernd Eichinger als Regisseur von "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" abserviert wurde. Summa summarum: Hier ist die "Tragödie des Post-Autorenkinos" nachzulesen, und zwar auf "atemberaubende Weise".

Norman Mailer
Moonfire
Die legendäre Reise der Apollo 11
Taschen Verlag 2010, 345 Seiten, 29,99 Euro



Wer für die Millionärsausgabe von Norman Mailers Band über die Mondmission der Apollo 11 nicht das nötige Kleinheit hatte (für 90.500 Dollar gab es echtes Mondgestein dazu), der ist mit dieser Volksausgabe bestens bedient, versichert Günter Paul in der FAZ: In Qualität und üppiger Bebilderung steht diese Ausgabe der Luxusedition in nichts nach. Natürlich auch nicht, was Mailers Beobachtungen und Gedanken zur Mondlandung betrifft, die er in Houston von der VIP-Tribüne aus verfolgte. Ziemlich witzig findet Paul, was Mailer über die Geruchslosigkeit der Nasa, das Verschwinden der Libido und "Lyndon Johnsons Fettlebe-Brigade" zu erzählen hat. Bei Erscheinen des Originals 1971 nannte der Spiegel "Moonfire" übrigens ein "großartig misslungenes Buch".