Magazinrundschau

Zu Monet für seine Augen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
26.04.2016. The Nation lernt den Unterschied zwischen unfertigen und unvollendeten Kunstwerken. Das New York Magazine erinnert an die Whitney-Biennale 1993, die den Identitätsdiskurs in der Kunst etablierte. Die New York Review of Books besucht die große Degas-Ausstellung in New York. Harper's erinnert sich an die sexuellen Masken von Prince. Scientific American unterhält sich mit dem Mathematiker Scott Aaronson über Quantencomputer. In La Regle du Jeu bedauert die marokkanische Autorin Fatima Zohra Rghioui, dass viele muslimische Franzosen hinter den Stand der Debatte in ihren Herkunftsländern gefallen sind. Tablet erzählt, wie jüdische Gangster 1933 Hitler ermorden sollten.

The Nation (USA), 16.05.2016

Sehr interessant liest sich Barry Schwabskys Besprechung der Ausstellung "Unfinished" im Met Breuer, dem vormaligen Whitney-Museum. Die Ausstellung zeigt Beispiele unfertiger, beziehungsweise (was nicht dasselbe ist) unvollendeter Werke seit der Renaissance. Als erstes Beispiel eines bewussten "non finito" schildert er eine spekakuläre Leihgabe aus dem Olomouc-Museum in Kromeriz, Tschechien, Tizians "Häutung des Marsyas". Mit den Kuratorinnen der Ausstellung macht Schwabsky vier Typen bewusster Unfertigkeit aus: "der provisorische Typus (zum Beispiel de Koonings 'Frau I', ein Werk, das hätte vollendet werden können, aber abgebrochen wurde), der unendliche Typus (darunter Werke in Serien, die immer weiter hätten geführt werden können wie Yayoi Kusamas 'Infinity Net paintings' aus den Fünfzigern und frühen Sechzigern), der entropische Typus (Werke, die ihren eigenen Verfall beinhalten, wie Robert Smithsons 'Mirrors and Shelly Sand', das jedes Mal etwas von seiner Substanz verliert, wenn es gezeigt wird) und der partizipative Typus (Werke die reaktiver und in gewisser Hinsicht neu gemacht werden müssen wie Hélio Oiticicas 'Bólides', 1965-66). All diese Beispile mit Ausnahme von Nummer 1 sind Entwicklungen des 'non finito' als einer stilistischen Option und nicht für das beunruhigerndere Phänomen des Werks, das nicht vollendet werden konnte."
Archiv: The Nation

New York Review of Books (USA), 12.05.2016

Die große Degas-Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art vermittelt ein authentisches Bild des französischen Malers, schwärmt Anka Muhlstein. Sogar die selten zu sehenden Landschaftsgemälde werden gezeigt. Sie sind schon deshalb besonders interessant, weil Degas die Malerei im Freien strikt ablehnte. "Sogar seine engsten Freunde, darunter die Halévys, waren baff, als sie 1892 erfuhren, dass Degas 21 Landschafsbilder ausstellen wollte. Er hatte noch nie zuvor welche gemalt. Die Überraschung der Halévys war verständlich: schließlich hatte er sich immer über Maler, die im Freien arbeiten, lustig gemacht. 'Malen ist kein Sport', warf er Ernest Rouart an den Kopf, der das Land auf der Suche nach Motiven durchstreifte. Selbst mit seinen getönten Augengläsern konnte Degas kein helles Licht vertragen und er verkündete, dass der Anblick der See zu Monet war für seine Augen. Niemand hatte ihn je auf einem Rennplatz Skizzen machen sehen. In einem Gespräch mit Halévy erklärte Degas, er habe während einiger Zugreisen im Sommer in der offenen Tür gestanden 'und auf der Fahrt konnte ich vage die Dinge sehen. Das gab mir die Idee, einige Landschaften zu malen'. 'Reflektionen Ihrer Seele?', fragte Halévy. 'Reflektionen meiner Sehkraft', antwortete Degas.

New York Magazine (USA), 21.04.2016

"Identitätspolitik" wird, je nachdem, positiv oder negativ gesehen. Negativ, wenn hässliche weiße Menschen nationale Grenzen gegen Migranten schließen wollen, positiv, wenn alle, die nicht hässliche weiße Menschen sind, ihre Differenz (oder eben Identität) markieren. In der Kunst ist das seit der Whitney-Biennale 1993 Thema Nummer 1, meint Kunstkritiker Jerry Saltz. Sie habe das Ruder herumgerissen, und die etablierte weiße Kunstkritikerschaft lauthals protestiert. Doch die von Elisabeth Sussman kuratierte Schau, so Saltz, "hatte eine einzigartige Vision. 'Künstler beharren, erkenne dich selbst', schrieb der damalige Direktor David A. Ross im Katalog, 'mit allen denkbaren Mitteln'. Und das taten sie. Robert Gobers handgemachte Zeitungen mit Überschriften über die Gefahr, die Schwule für die Ehe sind, Pat Ward Williams' graffitiähnliches Mural mit fünf schwarzen Männern, die fragen 'What You Lookn At', Pepón Osorios Installation eines ärmlichen Latinoheims mit einer Leiche unter blutigem Laken - 'Szene eines Verbrechens'. Und woanders spielte das Video der Polizei von Los Angeles, die Rodney King schlug, ohne Kommentar." Ob man mit Saltz einverstanden ist oder nicht - er liefert in seinem Artikel eine nützliche Übersicht über diese Strömung in der Kunst.

Harper's Magazine (USA), 25.04.2016

Harper's hat einen sehr persönlichen Text von Hilton Als, Theaterkritiker des New Yorker, über Prince online gestellt. Er ist vom Dezember 2012 und denkt über die sexuellen Masken von Prince nach, die Homo- wie Heterosexuelle, Frauen wie Männer, Weiße wie Schwarze verunsicherten. Als erinnert sich an ein Stand-Up-Special von Jamie Foxx, der sich wiederum an eine Begegnung mit Prince erinnert - wie ein Blick in dessen Augen ihn für zwei Sekunden zum Schwulen machte: "But I wasn't on the bottom of the shit, I was on top, don't get it twisted . . . I'd have fucked the shit out of that motherfucker. That troubled me though, man", referiert Als. Und meint: "Verzaubert sein - oder akkurater: verängstigt und erregt sein durch Prince und das, was seine verschiedenen Looks über einen Aspekt schwarzer männlicher Sexualtät sagen - war das etwas, worüber nur Komiker sprechen konnten? Und wenn sie es taten, musste Princes Andersartigkeit ebenso wie farbige Queerness die Zielscheibe für den Spott sein? Ich interessierte mich nicht für den Prince, der '1999', 'Purple Rain', 'Around the World in a Day' und mindestens die Hälfte von 'Sign of the Times' produziert hatte (alle zwischen 1982 und 1987 veröffentlicht). Sie klangen für mich wie bewusst 'weiße' Popalben. Sie verrieten eine feige Sehnsucht von The Artist nach Zugehörigkeit zu einer Welt außerhalb der farbigen Queens, die ich als Teenager kannte und die Prince 'Miss' nannten. Warum wollte er uns verlassen für diese Nicht-Welt der Konvention, nach der er strebte? Wo 'sie' eine Frau heiratete, die wie sie selbst aussah, und sich dann, um alles noch schlimmer zu machen, wie Miles Davis kleidete auf einer Promotour für sein Rock-Jazz-Fusion-Album 'Bitches Brew'? Warum wollte er den farbige Schwulen in sich verraten?"

Nepszabadsag (Ungarn), 24.04.2016

Im Rahmen des Budapester Literaturfestivals (21.-24. April 2016) wurde der neue Roman "Az élet sója" (Das Salz des Lebens, Jelenkor) des Schriftstellers und Fotografen Péter Nádas vorgestellt. Die Ausführungen von Nádas zu seinem Buch hat Zsolt Kácsor festgehalten. "Dieses Buch ist ein bürgerlicher Entwicklungsroman, in dem sich jedoch die Städte entwickeln. Es ist ein Urbanisierungsroman. (...) In Deutschland wurden die großen Städte im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört, doch beim Gang durch eine Kleinstadt ergriff mich jene dramatische Erfahrung, dass dort die Phasen der Urbanisierungsprozesse bis zurück ins Mittelalter klar erkennbar waren. Ich musste weinen, obwohl diese Kleinstädte zwar wahrlich wunderbare, doch langweilige Nester mit Lebkuchenhäuschen sind."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Nadas, Peter, Mittelalter

New Yorker (USA), 02.05.2016

In der neuen Ausgabe des Magazins erzählt der Mediziner und Autor Siddhartha Mukherjee die Geschichte seiner Mutter Tulu und ihrer Zwillingsschwester Bulu und kommt ins Grübeln über das Phänomen der Identität und der feinen Unterschiede: "Identische Zwillinge mit ihren sich reimenden Namen, dem Partnerlook und der steten Gefahr, verwechselt zu werden, verweisen auf das Komödiantische der Natur, das Gag-Potenzial der Gene. Aber Zwillinge erleben ihr Dasein oft als Tragödie der Natur. Meine Mutter und ihre Schwester wuchsen in einem eingehegten Haus und Garten auf. Sie empfanden einander nicht als Freunde oder Geschwister, sondern als vertauschte Identitäten, geschieden erst durch die Heirat. 'Was Tulu gehört, gehört auch Bulu', pflegte mein Opa zu sagen. Doch diese Fantasie perfekter Gleichheit war absurd und konnte nicht halten. Der Kummer von Zwillingen, die das Leben trennt, ist einzigartig, aber er verweist auf einen universellen Schmerz: Wenn schon ewige Gleichheit nicht ewige Nähe bedeutet, was heißt das erst für Geschwister, Eltern oder Liebende? Warum unterscheiden sich Zwillinge? Weil besondere Erfahrungen, besondere Spuren hinterlassen. Untersucht man das Genom identischer Zwillinge alle zehn Jahre über einen langen Zeitraum, erhält man immer die gleiche Sequenz. Untersucht man jedoch das Epigenom (die Art, wie eine Zelle die Aktivität ihrer Gene organisiert, d Red.), stößt man auf substanzielle Unterschiede: Das Muster epigenetischer Markierungen auf dem Genom ihrer Zellen, anfangs noch identisch, unterscheidet sich mit der Zeit. Verletzungen, Gefühle, der Eindruck eines bestimmten Musikstücks, hinterlassen Spuren bei dem einen Zwilling, aber nicht bei dem anderen. Als Reaktion auf diese Ereignisse werden Gene an- und ausgeschaltet, epigenetische Markierungen legen sich über die Gene, die ihre Narben, Schwielen und Sommersprossen in das Genom einätzen."

Außerdem: Ian Frazier schreibt über die Anstrengungen einer Anwältin, New York vom Plastik zu befreien. Und Eyal Press berichtet von katastrophalen Zuständen in Floridas Gefängnissen, wo geistig Behinderte gequält wurden.
Archiv: New Yorker

La regle du jeu (Frankreich), 21.04.2016

Die marokkanische Autorin Fatima Zohra Rghioui schreibt über eine Reise nach Paris und eine Diskussion, die sie in Lyon mit Schülern über die Lage der Frauen im Islam führte. "Es zeigte sich unverkennbar, dass diese Jugendlichen eine ziemlich traditionelle Auffassung vom Islam und keine Kenntnis von den großen Debatten haben, die man im 'Bled' führt. Es gibt einen bedauerlichen Bruch mit den Herkunftsländern. Ich nehme diesen traditionalistischen Diskurs übrigens häufig bei Marokkanern wahr, die im Ausland leben, ein Festhalten an Traditionen und Werten, die die marokkanische Gesellschaft gerade hinter sich zu lassen versucht." Was ihr selbst der "französische Traum vom freien und modernen Menschen" bedeutet, illustriert für sie ein Lied der legendären Sängerin Fairuz: "Paris, fleur de liberté".

Archiv: La regle du jeu

Scientific American (USA), 21.04.2016

John Horgan trifft das 34-jährige Mathematikgenie Scott Aaronson, der jetzt das MIT verlässt um nach Texas zu gehen. Erste Frage: "Sind Sie geworden, was Sie sich als Kind erträumten?" Antwort: "Hören Sie auf, diese Latte lag viel zu hoch! Als ich Kind war, wollte ich eine rationalistische Weltraumkolonie leiten, außerdem Videospiele programmieren, Künstliche Intelligenz auf menschlichem Niveau entwickeln, eine Kinderbefreiungsbewegung anführen und die mathematischen Gesetze formulieren, die die menschliche Gesellschft bestimmen." Und dann erzählt Aaronson, wie er in der Computerwissenschaft sein Shtetl fand, das sich nicht mal daran störte, wenn er beim Studieren mit dem Oberkörper schaukelte wie ein Talmud-Schüler. Im Laufe des Gesprächs geht's dann allerdings so zur Sache, dass es nur noch Mathematikern zu empfehlen ist, die sich für die Theorie der integrierten Information und Quantencomputer interessieren.

Wired (USA), 24.04.2016

Ziemlich erstaunt ist Kevin Kelly über die Fortschritte, die derzeit auf dem Gebiet der Virtual und Augmented Reality vonstatten gehen. Insbesondere der an keine Pixel mehr denken lassende Realismus, mit dem die halbtransparenten VR-Apparaturen des von zahlreichen Konzernen umworbenen Start-Ups Magic Leap der äußeren Realität täuschend echte Digitalobjekte einpflanzen, wirft ihn um. "Die meisten bildschirmbasierten, auf dem Kopf getragenen VR-Displays zeigen einen sanften 'Bildschirmtor'-Effekt, der von einem sichtbaren Pixelnetz herrührt. Im Gegensatz dazu wirken Magic Leaps virtuelle Bilder geschmeidig und unglaublich realistisch. ... Verfügt ein nahe am Auge befindlicher Bildschirm über eine ausreichend hohe Auflösung, Helligkeit, Weite und Farbenpracht, kann er in sich jegliche Anzahl virtueller Bildschirme darstellen, gleich welcher Größe auch immer. Als ich das photonische Sichtgerät von Magic Leap trug, habe ich mir einen HD-Film auf einer virtuellen Leinwand angesehen. Das Bild war so hell und scharf wie auf meinem 55-Zoll-Fernseher zuhause. Mit HoloLens von Microsoft habe ich ein Fußballspiel live verfolgt - auf einem virtuellen Bildschirm genau neben einem Browserfenster, mit ein paar weiteren virtuellen Bildschirmen daneben. Ich konnte mein Büro mit beliebig vielen Bildschirmen füllen - egal, wie groß oder klein ich sie gerne hätte. Egal, wo ich mich in der echten Welt befinde, ich könnte einen Bildschirm darüber legen." Wen wundert es da noch, dass sich, wie Kelly weiter ausführt, auch Blockbuster-Spezialist Peter Jackson längst für die Technologie interessiert.
Archiv: Wired

Novinky.cz (Tschechien), 20.04.2016

In einem ausführlichen Artikel überlegt der tschechische Philosoph Václav Bělohradský, was den Westen definiert und was "das Gegenteil des Westens" wäre. Und kommt zum Schluss: "Den Westen eint, in einer Kreuzung aus Theologie und Technologie, das imperiale Märchen von der Menschheitsrettung durch fortwährende Innovation der Lebensbedingungen, durch den beständigen Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis und einer immer rationelleren Organisation von Produktion und Konsum. Was ist das Gegenteil des Westens? (…) Die Antwort lautet: Das Gegenteil des Westens ist die Emanzipation von drei Märchen, die die Modernität okkupieren: Vom ewigen Wachstum, von der menschlichen Aura, vom Entkommen aus der Endlichkeit."
Archiv: Novinky.cz

Tablet (USA), 19.04.2016

Robert Rockaway, Autor des Buchs "But He Was Good to His Mother - The Lives and Crimes of Jewish Gangsters" erzählt eine unglaubliche Geschichte. Eines Tages gegen Ende der Achtziger erzählte ihm ein ehemaliger New Yorker Gangster in Israel, wie ein nicht krimineller Jude ihn angesprochen habe, um ein paar Killer auf Hitler anzusetzen. Gescheitert sei der Plan am FBI: "Ich starrte den Mann mir gegenüber an. Ich zweifelte. Ein Plan, Hitler umzubringen im Jahr 1933? Mit jüdischen Gangstern? War das ernst gemeint? Die Story schien weit hergeholt, ein 'bube meyseh' (Ammenmärchen). Ich war skeptisch. Aber ich notierte, was er mir zu sagen hatte. Er sagte, dass der oder die Killer unbedingt Jiddisch beherrschen sollten, so dass sie in Deutschland keine Sprachprobleme hätten. Sie sollten 2.500 Dollar plus Spesen bekommen. Der 'nicht kriminelle Jude' habe ihm versichert, dass 'Leute in Deutschland uns helfen werden'." Und wie Rockaway in seiner Recherche in FBI-Archiven herausfindet, war diese Geschichte nicht aus der Luft gegriffen.
Archiv: Tablet

Boston Review (USA), 01.05.2016

Die Spanier interessiert ihr Cervantes nicht für fünf Cent. Diesen Eindruck bekommt man jedenfalls, vergleicht man die Fülle der Veranstaltungen in England zum 400. Todestag Shakespeares mit dem praktisch unsichtbaren Gedenken für Miguel de Cervantes, der ebenfalls vor 400 Jahren starb, bemerkt Stephen Phelan staunend. Und das geht schon ewig so: Häuser, in denen Cervantes gelebt hatte, wurden einfach abgerissen, es gibt kein großes Denkmal, er wird kaum noch gelesen, selbst sein Grab wurde nur entdeckt, weil ein Privathistoriker mit eigenem Geld und nie nachlassender Zähigkeit danach suchte. Gefunden hat er es schließlich in einem Convent der Barfüßigen Trintarierinnen. Die Schwestern waren entsetzt über die Störung. Und heute? "Technisch ist der Convent für die Öffentlichkeit zugänglich. Gruppenbesuche sind mit Anmeldung erlaubt. Aber ich habe wochenlang dort angerufen und nie ging jemand ans Telefon. Fernando de Prado erzählte mir, die Nonnen seien jetzt unter Druck, sich mehr zu öffnen und es scheint, sie haben als Antwort darauf ihre Türen noch fester geschlossen. Als ich dorthin kam, war die Tür jedoch weit offen und eine Frau saugte im Eingang. Es war das einzige Geräusch in der Straße an diesem stillen Donnerstag nachmittag. Ich dachte, ich könnte vielleicht schnell einen Blick ins Innere werfen und den neuen Grabstein besuchen oder wenigstens jemanden zum Reden finden. Ich lächelte die Frau an und bereitete innerlich eine Bitte in meinem besten modernen Spanisch vor, in der Sprache Miguel de Cervantes'. Sie lächelte zurück, schaltete den Staubsauger aus und schlug mir sanft die Tür vor der Nase zu."
Archiv: Boston Review

Guardian (UK), 20.04.2016

Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère schickt eine Wahnsinnsreportage aus Calais, das sich in eine regelrechte Kriegszone verwandelt hat, um die paar tausend Flüchtlinge abzuwehren, die auf einen Weg nach Britannien hoffen: "Nachts errichten junge Männer in schwarzen Parkas und Strickmützen Barrikaden auf den Straßen, sie benutzen Äste und Einkaufswagen, um die Polizisten abzulenken und den Verkehr zu verlangsamen, in der Hoffnung, auf einen LKW klettern zu können. Es gibt viele Unfälle, viele von ihnen verlaufen tödlich. Selbst für diejenigen, die es in ein Fahrzeug schaffen, ist die Chance verschwindend gering, durch den Hafen zu kommen, zu ausgefeilt sind die Sicherheitsmaßnahmen mit Infrarotsuchern, Wärmebilder und Herzschlagdetektoren. Es ist ein Albtraum für alle Beteiligten: Migranten, Polizei, LKW- und Autor-Fahrer, die entweder fürchten von einem Flüchtling angegriffen zu werden oder einen zu überfahren ... In Richtung Westen ist die ganze Landschaft, die einst bewaldet, hügelig und grün war, in einen riesigen Wassergraben verwandelt worden. Eurotunnel ließ im Herbst die Bäume auf 250 Acre abholzen, um den Migranten keine Deckung zu lassen und die Video-Überwachung zu erleichtern: Jetzt kann sich dort nicht einmal ein Kaninchen mehr verstecken. Einige Monate später ließ das Unternehmen das Gebiet fluten. Der Journalist Bruno Mallet meint: 'Wenn sie könnten, würden sie auch Krokodile herholen.'"
Archiv: Guardian

Buzzfeed (USA), 26.04.2016

Einst als auf Frauenkitschstoffe festgelegter amerikanischer Kabelsender abgetan, hat sich Lifetime insbesondere in den letzten Jahren zu einem ernstzunehmenden Player entpuppt, was das Mainstreaming feministischer Inhalte betrifft, beobachtet Laura Goode. Hinweise darauf bieten neben einer stetig wachsenden Zahl von Emmy-Nominierungen und hohen Quoten auch erste Erfolge bei der Kritik und eine zusehends postmodern-clevere Haltung, was die eigenen Produktionen betrifft. Vor allem aber ist Lifetime mittlerweile einer der wichtigsten Arbeitgeber für Frauen in der amerikanischen Medienbranche: "Historisch gesehen hat es die Berichterstattung rund um Lifetime stets versäumt, darauf hinzuweisen, auf welche Weise der Sender bereits seit geraumer Zeit die Anwerbung von Frauen in zentalen kreativen Positionen verfolgt. ... Von 1994 bis 2016 wurden überwältigende 73 Prozent aller Lifetime-Filme von Frauen inszeniert oder geschrieben."
Archiv: Buzzfeed

Fader (USA), 20.04.2016

Kurz vor Erykah Badus 45. Geburtstag hat Vinson Cunningham die längst zur Königin des Gegenwarts-Soul aufgestiegene Musikerin für ein paar Tage durch ihren Alltag begleitet. Enstanden ist dabei das schöne Porträt einer großen Charismatikerin, die neben ihrer Arbeit als Künstlerin mittlerweile als Hebamme tätig ist, wie man staunend erfährt. "Die eine Sache, die sie als Sängerin und Songwriter in der Geschichte der Soulmusik herausstechen lässt, ist ihr konsequenter Einsatz von Ironie. Seit den Hochzeiten des Blues war niemand witziger oder, noch wichtiger, sich dessen so sehr bewusst, wie der eigene Witz die Welt und die Geschichte, aus der er hervorgegangen ist, verzerrt. Mit ihren stoßartigen Bewegungen und der groben Formbarkeit ihrer Stimme ist sie weniger eine Nachfahrin von Billie Holiday und Diana Ross, sondern stellt vielmehr einen Kommentar dar zu diesen Vorläuferinnen, deren Stilmitteln und Ticks, die ihnen ihre Macht verliehen." Zuvor porträtierte der New Yorker die Künstlerin.
Archiv: Fader

New York Times (USA), 24.04.2016

Im aktuellen Magazin der New York Times erklärt Dan Kois das Glück der Isländer mit ihren geothermisch gespeisten Warmwasser-Pools. Auf die Art kennt jeder Isländer von Kind auf männliche und weibliche Körper in allen Verfallsstadien, und es bietet sich Gelegenheit zu gelassener Kommunikation: "Die öffentlichen Badeanstalten sind das kommunale Herz des Landes, heilige Orte, deren Zugänglichkeit für alle eine Art Grundrecht darstellt. Familien, Teenager und alte Menschen treffen sich zu Klatsch und Tratsch, sommers wie winters … Für mich hatte es etwas Beruhigendes all die anderen nahezu nackten Körper zu sehen, die ganz normalen Menschen gehörten, keinen Models … Darüber hinaus bietet die Nacktheit die Möglichkeit, den eigenen Körper besser zu verstehen, seine Reaktionen und Bedürfnisse. Obgleich der Pool ein soziales Gebilde ist, kultiviert er auch die Innerlichkeit. Frauen, heißt es, suchen hier eher die Einsamkeit. Oder den aquatischen Tagtraum: den Kopf gegen die Poolwand gelehnt, Augen geschlossen, leise das Lächeln lächelnd, das du aufsetzt, wenn du hierherkommst, um allein zu sein."
Archiv: New York Times