Vom Nachttisch geräumt

Lichtgeschwindigkeit und Raumkrümmung

Von Arno Widmann
14.05.2018. Mobilisiert die Ängste in uns: Samanta Schweblin mit ihrem Erzählband "Sieben neue Häuser".
Samanta Schweblin wurde 1978 in Buenos Aires geboren. Ihr erstes Buch erschien 2002, das zweite 2009. Seitdem ist sie eine internationale Berühmtheit. Vergangenes Jahr wurde ihr Roman, der im Deutschen den Titel "Das Gift" hat, für den Man Booker International Prize nominiert. Im New Yorker schrieb die Kritikerin über ihn: "Als ich diesen brillant strukturierten, teuflisch beängstigenden Roman aus Argentinien zu Ende gelesen hatte, schaffte ich es nicht, aus dem Fenster zu sehen." So geht es einem bei jeder Erzählung von Samanta Schweblin. Sie fängt einen ein. Dann bekommt man es mit der Angst zu tun. Allerdings - da täuscht sich die Kritikerin - nicht vor einer von draußen kommenden Gefahr. Bei Samanta Schweblin lauern keine Ungeheuer hinter dünnen Wänden, nichts verkriecht sich in der Kanalisation, es gibt keine Mörderpuppen und keine Kettensägen.

Auch in ihrem neuen Band mit Erzählungen kommt der Schrecken nicht von außen. Er kriecht hoch aus dem eigenen Innern. "Manchmal veränderte sich ihre Atmung, und sie benötigte mehr Luft als sonst. Dann atmete sie ganz tief ein und mit einem rauen, dumpfen Geräusch wieder aus, und das klang so merkwürdig, dass sie es wohl nie als etwas zu ihr Gehöriges betrachten würde." Sie hat keine Angst davor. Den Schrecken bekommt der Leser.

Wenn eine Frau eine Liste anlegt, um nicht zu vergessen, was sie unbedingt tun, worauf sie unbedingt achten muss, dann erscheint das in der Erzählung "Die Höhlenatmung" als Strategie gegen ihre Alzheimer-Erkrankung. Schweblin beschreibt das aber so, dass der Leser sich selbst darin wiedererkennt. Wie fleißig wir werden, nur um ein Gespräch nicht führen, einen Brief nicht schreiben zu müssen! Wer hat noch nie Angst gehabt, den Briefkasten zu öffnen? Bei wem stapeln sich nicht in den Schubladen ungeöffnete Briefe? Samanta Schweblin schildert nicht die Ängste ihrer Protagonisten, sie mobilisiert die unseren. Wie sie das tut? Ich weiß es nicht.

Ich merke nur, wenn eine ihrer "Heldinnen" überall in ihrem Haus Zettel hängen hat, die sie dran erinnern sollen, was zu tun ist, dass dieser Krieg gegen das Vergessen unser Krieg ist. Wenn dann ein Zettel auftaucht, auf dem steht: "Ich heiße Lola, das ist mein Haus." Dann weiß ich: Hier geht es um die Arbeit des Erzählens selbst. Die Kranke macht nichts anderes als der Autor: Sie hebt aus der Unendlichkeit der Dinge das für sie Wichtige hervor. Sie benennt es, ruft es bei seinem Namen. Sie weiß, dass ihre Erzählung ihre Erzählung sein muss, wenn sie wahr sein soll. Die Erzählung ist ihr Haus. Sie schenkt es dem Leser und hofft darauf, dass er es zu seinem macht. Das unterscheidet die in den Wahnsinn des Vergessens abgleitende Lola von der Erzählerin. Lola verschließt ihr Haus. Die Erzählerin öffnet es. Sie wird es aufgeben und ein neues Haus bauen.

Aber beide kennen die Angst davor, sich selbst so zu sehen, wie man ist. Beide fliehen davor in Geschichten. Das Selbst erfindet sich stets neu. Aber vergebens. Man entkommt sich nicht. Auch der fintenreichste Erzähler nicht. Er versteht sich möglicherweise besser auf die Umwege, die den Weg zum Abgrund verzögern. Manchmal aber ist, was er für einen Umweg hielt, gerade der kürzeste Weg zu ihm.

Die Erzählung "Höhlenatmung" spielt in zwei Häusern, fast nur in einem und immer wieder nur in einem einzigen Raum. Enger, bedrückender geht kaum. Dann der letzte Satz und alles reißt auf. Das ganze Universum blickt zurück auf diesen winzigen Punkt in einem winzigen Sonnensystem, in einem winzigen Galaxienhaufen: "Doch der Abgrund hatte sich bereits aufgetan, und die Worte und Dinge entfernen sich nun mit großer Geschwindigkeit, mit dem Licht, das ihrem Körper schon so fern ist."

Samanta Schweblin: Sieben leere Häuser - Erzählungen, Übersetzung aus dem Spanischen Marianne Garais, Suhrkamp, 150 Seiten, 20 Euro