9punkt - Die Debattenrundschau

Gesucht werden Hybridformen von Grenzen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2020. "Jetzt wo der Streit vorbei ist, was passiert mit der Galle und Bitternis, die die britische Politik drei Jahre lang getränkt haben", fragt Anne Applebaum im Atlantic, einen Tag vorm Brexit. Die Jyllands-Posten hat einen neuen Karikaturenstreit, diesmal mit China, berichtet die SZ. Die Zeit macht eine neue Strömung im Denken über den Klimawandel aus, die "Kollapsologie". Das Fehlen der Väter macht Männlichkeit toxisch, vermutet Ralf Bönt in Telepolis.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.01.2020 finden Sie hier

Europa

Am 1. Februar, null Uhr Brüsseler Zeit, ist Brexit. "Jetzt wo der Streit vorbei ist, was passiert mit der Galle und Bitternis, die die britische Politik drei Jahre lang getränkt haben? Wird sich die Polarisierung einfach auflösen", fragt Anne Applebaum im Atlantic: "Ein Bekannter von mir - ein Remainer - erzählte mir neulich, dass der eigentliche Schock der letzten Jahre für ihn in der Erkenntnis bestand, wie viele Freunde nicht nur andere Meinungen haben als er, sondern komplett andere Werte - so anders, dass er nie wieder mit ihnen sprechen wird."

"Das englische Problem, die Ursache des Brexits, ist eine Adelsgesellschaft, die zunehmend denkt, sie sei eine Leistungsgesellschaft", schreibt die deutsche Schriftstellerin Nele Pollatschek, die in Oxford und Cambridge studiert hat, auf Zeit Online und sieht darin "das Brexit-Populismus-Boris-Johnson-Problem": "Die Illusion, dass die Nichtprivilegierten es sich eben nicht erarbeitet haben und es deshalb einfach nicht verdienen. Und damit: Gnadenlosigkeit, Verantwortungslosigkeit, Grausamkeit. Diese Gnadenlosigkeit zeigte David Cameron, als er, kurz bevor er das Brexit-Referendum verlor, auf einem goldenen Thron sitzend, nach einem Vier-Gänge-Champagner-Menü die Notwendigkeit neuer, härterer Sparmaßnahmen verkündete. Wenn die Herrschenden nicht mehr denken, dass sie aufgrund von Familienzugehörigkeit und Gott herrschen, sondern aufgrund von persönlicher Leistung, dann gibt es auch keine Notwendigkeit mehr, irgendeine Verantwortung oder Empathie für die Beherrschten zu empfinden. Die sind ja schließlich selbst schuld! Die hätten ja auch mal was leisten können!"

In der Welt und im praktisch gleichlautenden Interview mit der Preußischen Allgemeinen (was ist das denn? Immerhin, Horst Mahler wurde von der Autorenliste dieses ehemaligen Ostpreußenblatts gestrichen) kann Welt-Korrespondent Thomas Kielinger seine Bewunderung für das englische Streben nach Souveränität nicht verbergen: "Das Wort schlägt alle Behauptungen in die Flucht, die da meinen, der Brexit sei so etwas wie ein Phantomschmerz über das verlorene Empire. Die nationale DNA der Insel war längst ausgeprägt, ehe es ein Empire überhaupt gab. Die Idee der Souveränität bewog schon Heinrich VIII., die Union mit dem Papst aufzukündigen, weil er sich in der Frage der Thronfolge nicht von einem auswärtigen Herrscher hineinregieren lassen wollte. Der erste Brexit der englischen Geschichte. Der Brexit-Schlachtruf von 2016, 'Take back control!', meinte im Grunde nichts anderes: die Rückkehr zur Politik der 'freien Hand'."

Bild: Jyllands-Posten
Eine von der dänischen Zeitung Jyllands-Posten gedruckte Karikatur, die an der Stelle der fünf gelben Sterne der chinesischen Flagge fünf Viren zeigt, hat eine neue "Karikaturkrise" in Dänemark ausgelöst, schreibt Kai Strittmatter in der SZ: "Chinesische Trolle und Bots attackieren zu Zehntausenden in den sozialen Medien die 'weißen dänischen Schweine' und verunstalten aus Rache die dänische Flagge. All das ist bei Weitem nicht vergleichbar mit der Krise von 2005, als dänische Flaggen verbrannt, dänische Waren boykottiert und dänische Botschaften belagert und attackiert wurden. Und doch schält sich die Erkenntnis heraus, dass hinter dem Vorfall mehr steht als nur ein Streit um eine einzelne Zeichnung: Mit einem Mal sieht man sich auch in Dänemark mit der Herausforderung durch eine Diktatur konfrontiert, mit der man beste Geschäfte macht, die aber neuerdings die ganze Welt als ihr Interessengebiet entdeckt hat und die deshalb nun auch mitten in Europa versucht, ihre Praktiken und Sprachregelungen durchzusetzen."

Wladimir Putin baut eigenhändig die russische Verfassung um, um nach Ende seiner Präsidentschaft im Jahr 2024 in einem neugeschaffenen "Staatsrat" als graue Eminenz weiterwirken zu können. Die Professorin für osteuropäisches Recht Caroline von Gall warnt bei libmod.de: "Wer die Entwicklung in Russland leichtfertig hinnimmt, verkennt, dass die russische Verfassungsstruktur in einem System vernetzter Ordnungen in Europa auch Auswirkungen auf das deutsche Verfassungsrecht hat. Vertreter der russischen Staatsorgane entscheiden in den Organen des Europarats auch über die Entwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die sowohl für den deutschen Grundrechtsschutz als auch den der Europäischen Union das 'gemeinsame Fundament' bildet."

Sebastian Wehrhahn, Wissenschaftlicher  Mitarbeiter der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, erinnert in der taz an die Wehrsportgruppe Hoffmann, die beim Münchner Oktoberfest 1981  eines der schlimmsten Terrorattentate der deutschen Geschichte anrichtete und wohl auch den Mord am Verleger Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke beging: "Die Wehrsportgruppe Hoffmann existiert schon lange nicht mehr, die meisten Ihrer Mitglieder leben jedoch noch. Und: Die Morde an Lewin und Poeschke wie auch das Attentat auf das Oktoberfest müssen als unaufgeklärt und aktuell gelten, solange die Widersprüche fortbestehen."
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Ideen

Neben Klimaskeptikern und Aktivisten ist eine neue Art des Denkens über den Klimawandel entstanden, die Ulrich Schnabel in der Zeit als "Kollapsologie" bezeichnet. Zu ihren Autoren zählt er Jonathan Franzen, der die Katastrophe für unabwendbar hält ("What If We Stopped Pretending?", im New Yorker) und den Ökologen Pablo Servigne ("Petit manuel de collapsologie"): "In dieselbe Richtung denkt Jem Bendell, momentan der wohl einflussreichste Kollapsologe. Sein vor eineinhalb Jahren veröffentlichter Wegweiser, um uns durch die Klimakatastrophe zu führen ist weltweit zum Evangelium der Kollaps-Gläubigen geworden. Über eine halbe Million Mal wurde Bendells Aufsatz vom Server geladen, vielfach sind Foren und Facebook-Gruppen entstanden, die sein Konzept der deep adaptation (Tiefenanpassung) diskutieren. Wissenschaftler betrachten das alles eher mit Stirnrunzeln, Bendells Aufsatz ist mehr Meinungsäußerung als wissenschaftlicher Text. Fachzeitschriften haben ihn abgelehnt und größere Korrekturen verlangt, was Bendell dadurch umging, dass er ihn auf seiner Homepage veröffentlichte."
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Gesellschaft

Dem "Alten Weißen Mann" (AWM) wird ja wenigstens Macht zugeschrieben. Aber was ist eigentlich mit der "Alten weißen Frau", fragt Katharina Schmitz im Freitag: "Eva Illouz stellt in ihrem Buch 'Warum Liebe endet' fest, dass die ältere Frau in einer durchökonomisierten Gesellschaft, in der Attraktivität einen hohen Wert hat, weniger Kapital mitbringt als andere. Die alternde Frau verliert dabei schneller als der alternde Mann an sozialem und kulturellem Kapital. Die AWF steht also nicht nur mit weniger Kapital da, in einer Gesellschaft, die möglichst progressiv und divers sein will, sinkt ihr Marktwert zusätzlich."

Ralf Bönt denkt in einem Essay auf Telepolis über den Begriff der "toxischen Männlichkeit" nach, den er lieber durch "Hypermaskulinität" ersetzen würde. Die losgelassene Aggressivität vieler junger Männer hat für ihn eine gesellschaftliche Ursache: "Abwesenheit des Vaters ist ein Artefakt der Moderne und ihrer spezifischen Arbeitsteilung. Der Politologe und Soziologe Christoph Kucklick hat nachgewiesen, dass auch das negative Bild der Männlichkeit mit der Moderne und Industrialisierung entstand. Aber obwohl wir gerade jetzt, dank Reichtum und Telekommunikation, in der Lage wären, die Dinge zu ändern, haben wir heute immer weniger Vaterschaft."

Auch das Kopftuch lässt sich - so wie heutiger Populismus und entfesseltes Gelbwestentum - als die Rache der Provinz und des Landes an der Idee der Moderne begreifen, legt die Islamwissenschaftlerin Johanna Pink in der Zeit dar. Es ist selbst auch als Gegenreaktion ein Phänomen der Moderne - im 19. Jahrhundert, so Pink, gab es das Kopftuch in seinem heutigen Rigorismus  noch nicht:  In der Türkei etwa wurde es"zum Problem, als ländliche und ärmere Schichten in die Städte strömten, ihre Töchter immer öfter Schulabschlüsse erwarben und dann als Kopftuchträgerinnen nicht an die Universitäten gelassen wurden. Diese sozialen Faktoren waren ein prägender Aspekt der Islamisierungswelle, die in den 1970er-Jahren einsetzte und nach und nach immer mehr Länder umfasste, bis selbst dort, wo weibliche Kopfbedeckungen traditionell völlig unüblich waren, immer mehr muslimische Frauen begannen, Kopftuch zu tragen und dies als unverzichtbaren Teil ihrer religiösen Identität zu definieren."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Im Berliner Abgeordnetenhaus ist eine Menge los. Heute wird dem ehemaligen Reichspräsidenten und Hitler-Installierer Hindenburg die Ehrenbürgerschaft aberkannt, berichtet Bert Schulz in der taz. In Hamburg habe man sich dagegen entscheiden und beschlossen, besser über historische Persönlichkeiten zu informieren: "In Berlin ist dies keine Option. 'Die Aberkennung ist eine Entscheidung mit Symbolcharakter', sagte Regine Kittler (Linkspartei) der taz. Auch heute gehe es wieder um den Schutz der Demokratie gegen erstarkte rechte Parteien und Nationalisten. Und: Man könne die Bewertung historischer Personen nicht abkoppeln von deren aktueller Bedeutung - ein Argument gegen die These, dass Hindenburg 1948 offenbar noch als verdienstvoller Mensch angesehen wurde und man das doch nicht im Nachhinein korrigieren sollte." Hm, wer war denn alles so Ehrenbürger in "Berlin - Hauptstadt der DDR"?
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Politik

"Rund 2000 Jesidinnen werden noch vermisst", sagt die deutsche Jesidin und Filmemacherin Düzen Tekkal, die mit ihrem Film Jiyan den Genozid des IS an den Jesiden erneut dokumentiert, im Zeit-Gespräch mit Sebastian Kempkes. Sie ärgert sich über die deutsche Toleranz gegenüber IS-Rückkehrern und kritisiert das Oberlandesgericht Lüneburg, das entschied, den Jesiden würde im Irak keine Verfolgung mehr drohen. Außerdem fordert sie weitere Präsenz der Bundeswehr im Irak: "Kurdische und irakische Streitkräfte genügen nicht als Schutzmacht gegen den IS. Wenn der Westen in der Region keine Präsenz zeigt, übernehmen wieder die Islamisten. Der Hass ist noch da, die Jesiden würden sofort wieder in Lebensgefahr schweben. Nachbarn, die zum IS übergelaufen waren und gemordet haben, sind zurück in ihren Orten und leben weiter, als wäre nichts passiert. Wo Deutsche stationiert sind, ist Hoffnung und Sicherheit."

Nach 1945 kann es keine "machtfreie Kommunikation" mehr zwischen Deutschen und Juden geben, sagt der jüdische Soziologe Nathan Sznaider in einem von der NZZ publizierten Vortrag, den er bei einer Berliner Tagung zum Thema Erinnerungskultur hielt. Er verteidigt das israelische Recht einer exklusiven Erinnerung an den Holocaust: "Israel sieht sich als den rechtlichen und moralischen Nachfolger der Opfer des Holocaust. Die Erinnerung an den Holocaust in Israel wird immer in der Spannung zwischen dem partikularistischen Charakter eines jüdischen Staates und dem universalistischen Anspruch einer demokratischen Gesellschaft hin- und hergerissen sein. Innerhalb der jüdischen Tradition konnte der Holocaust nur ein jüdisches Problem bleiben. Den Holocaust zu universalisieren, hieße, das einschneidende Ereignis der jüdischen Geschichte zu einem Bruch mit der Moderne werden zu lassen."

Dass Peking zu "archaischen" Maßnahmen greift und das chinesische Wuhan unter Quarantäne stellt, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen, dabei allerdings die "Menschenrechte Millionen gesunder Menschen einschränkt", wundert Jörg Häntzschel im Feuilleton-Aufmacher der SZ nicht, sieht er doch das Ende des globalen Mobilitätszeitalters eingeläutet. Methoden, die einst für die Seuchenbkämpfung eingesetzt wurden, finden heute wieder in der Terrorismusabwehr und bei der Regulierung von Migration Anwendung, schreibt er: "Gesucht werden Hybridformen von Grenzen, die smart und flexibel sind. Durchlässig für die einen, geschlossen für die anderen und jederzeit flexibel steuerbar. Eine global vernetzte Stadt wie Wuhan soll per Dekret vorübergehend wieder lokal werden. Uiguren werden am Reisen gehindert, Han-Chinesen aber nicht."
Archiv: Politik