9punkt - Die Debattenrundschau

Etwas ist zum Mäusemelken

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2018. Amazon droht dem Open-Source-Messenger Signal, sein Konto in der Cloud abzuschalten - und gefährdet damit einen der wenigen Dienste, mit denen man Internetzensur in Ländern wie dem Iran umgehen kann, teilt das Blog des Messengers mit. Die taz wirft einen Blick in die Abgründe der "Manosphere". Bei Zeit online ruft Jana Hensel zum Widerstand auf. Zeit online bringt auch eine Bilderstrecke des afghanischen Fotografen Shah Marai, der bei einem IS-Attentat gegen Journalisten ums Leben kam.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.05.2018 finden Sie hier

Internet

Amazon droht dem Open-Source-Messenger Signal mit der Kündigung seines Kontos in seinem Cloud-Dienst AWS. Hintergrund ist, dass Signal sich in Ländern mit starker Internetzensur hinter prominenten Domains versteckte (sogenanntes "Domain Fronting"), die von den zensierenden Ländern wegen ihrer Prominenz nicht abgeschaltet werden können, heißt es einer Erläuterung im Blog des Messengers. signal ist verschlüsselt und darum in diesen Ländern so wichtig: "Als der Zugang zu Signal in Ländern wie Ägypten, Oman, Katar und den Vereinigten Emiraten zunächst zensiert wurde, antworteten wir durch 'Domain Fronting'  mit der Google App Engine. Um Signal zu blockieren, hätten diese Länder Google blockieren müssen. Solch einen Schritt wollten diese Länder nun doch vermeiden, und so blieb Signal für die letzten anderthalb Jahre nutzbar." Aber dann stoppte Google diese Möglichkeit - und nun zieht Amazon im Dienste der zensierenden Regimes nach.

Nils Jacobsen berichtet bei Meedia vom ersten Tag der Berliner Internetkonferenz "re:publica": "Weitaus mehr noch als im Vorjahr, als der Schock über die Trump-Wahl und den ersten Teil der Fake News-Debatte wie ein Schatten über der größten Internet-Konferenz Europas lag, hat sich zwölf Monate später die Ernüchterung breitgemacht: Dieses Internet ist kaputt. Unausgesprochen dürfte nicht wenige der geschätzt 9.000 bis 10.000 re:publica-Teilnehmer in diesem Jahr die Frage beschäftigen, ob und wie man das Netz nun repariert bekommt?" Im Tagesspiegel konstatiert Astrid Herbold zum ersten Tag der Konferenz: "Das Internet ist, von einigen Nischen abgesehen (Handarbeits-Foren, Welpen-Seiten, Mama-Blogs), kein sonderlich kuscheliger Ort."

Lorena Jaume-Palasi von der NGO "Algorithm Watch" bezweifelt im Gespräch mit Elena Witzeck von der FAZ, dass Firmen wie Cambridge Analytica den politische Prozess wirklich so tiefgreifend beeinflusst haben, wie sie gern von sich selbst behauptet haben: "Die Statistiken zeigen: Die Wähler von Trump waren diejenigen, die Fox News verfolgen und kaum soziale Medien nutzen. Die Brexit-Befürworter waren in den sozialen Medien ebenfalls deutlich unterrepräsentiert. Demgegenüber war die Generation, die sich über Social Media informiert und austauscht, mehrheitlich gegen den Brexit."


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Medien

Zeit online bringt eine beeindruckende Bilderstrecke mit Fotos des am Montag bei einem Attentat des IS ums Leben gekommenen afghanischen Fotografen Shah Marai. In der taz berichtet Thomas Ruttig über dieses Attentat, bei dem insgesamt neun afghanische Journalisten ums Leben gekommen sind. Sie waren zum Ort eines Anschlags geeilt, wo 29 Menschen starben - und wurden Opfer eines zweiten Attentäters, der sich unter sie gemischt hatte.
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Stichwörter: Afghanistan

Europa

In der NZZ kann Marc Felix Serrao es nicht fassen, dass sich in Deutschland der Antisemitismus wieder ausbreiten kann - und das eben sehr stark auch bei Muslimen: "Man dürfe Juden und Muslime nicht gegeneinander ausspielen, sagen die Wohlmeinenden und tun so, als handle es sich um zwei kleine, gleichermaßen schutzbedürftige Gruppen. Die Zahlen sehen anders aus: In Deutschland leben mittlerweile fünf Millionen Muslime, und die jüdischen Gemeinden haben knapp 100.000 Mitglieder. Das entspricht einem Verhältnis von 50:1. Und während, wie Wolffsohn berichtet, aufseiten der echten, also der jüdischen Minderheit immer mehr Menschen darüber nachdenken, Deutschland zu verlassen, wird die andere Seite wegen der anhaltenden Migration überwiegend junger muslimischer Männer täglich größer."
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Ideen

Der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Adrian Daub staunt in der NZZ, dass sich "die kühnsten" unter den künftigen Programmierern und Webdesignern dort mehr für Heidegger als für Medientheorie interessieren. Dabei interessiere sie vor allem sein Denkstil: "Ich verstand Heideggers Daseinsanalytik als impliziten Beweis dafür, dass eine Maschine nie Erfahrungen im menschlichen Sinn sammeln könnte. Im besten Fall kann eine Maschine eine Art 'Ring' haben, wie Heidegger das in seinen Vorlesungen zu den 'Grundbegriffen der Metaphysik' von 1929/30 nennt. Wie ein Hund verfügt sie über Schnittstellen mit einem Außen, vielleicht sogar über sehr viele, aber sie ist 'weltarm'. Hubert Dreyfus hat 1972 ein Buch geschrieben, das Heidegger gegen die Möglichkeit künstlicher Intelligenz ins Feld führt: 'What Computers Can't Do'. Mein Student begriff dies sogleich als Herausforderung: Wie muss künstliche Intelligenz konstituiert sein, damit sie wirklich eine Welt hat?"

Man sollte Genus nicht mit Sexus verwechseln und darum vom sprachlichen "Gendern" absehen, lehrt der emeritierte Sprachwissenschaftler Helmut Glück in der FAZ und unterbaut es mit zahlreichen amüsanten Beispielen; "Ganz ungeeignet zum Gendern sind Zusammensetzungen, deren Erstglied eine Personenbezeichnung ist: Henkersmahlzeit, Zigeunerbaron, Räuberpistole (Erstglied maskulin), Geiselnahme, Waisenrente, Hexenhaus (Erstglied feminin). Das gilt auch für Erstglieder, die Tiere bezeichnen, wie Löwenmäulchen, Affenliebe, Katerfrühstück (Erstglied maskulin), Katzenmusik, (etwas ist zum) Mäusemelken (Erstglied feminin)."

Die Rechte hat gerade enormen Auftrieb. Und was tut die Linke? Sie schweigt, klagt Jana Hensel auf Zeit online. "Es hat seit dem Einzug der AfD in den Bundestag bisher keine einzige große zivilgesellschaftliche Aktion des Widerstands gegeben. Allenfalls lokale Bündnisse in Ostdeutschland. Allein das Zentrum für Politische Schönheit hat mit dem Nachbau des Holocaust-Mahnmals auf dem Nachbargrundstück von Björn Höckes Haus eine Art Zeichen gesetzt - und damit eine kontroverse Diskussion ausgelöst. Zwar wirkt unser Land gespalten, aber diese Spaltung artikuliert sich außer in den sozialen Netzwerken nirgendwo sonst wirklich sichtbar - weil sich die linken Intellektuellen und Künstler nicht auf ähnliche Weise versammeln, wie es im Moment die rechten tun."

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Gesellschaft

Arved Clute-Simon und Veronika Kracher erklären in der taz, was die "Manosphere" ist, zu der auch der "Incel" Alek Minassian gehört, der letzte Woche in Toronto ein antifeministisches Attentat mit zehn Toten beging (darunter acht Frauen). Die "Incels" (abgeleitet von "involuntary celibacy") seien nur eine Gruppe in einem vielgestaltigen Milieu, das sich natürlich im Netz organisiert: "Der Ursprung der Manosphere liegt bei der Männer- und Väterbewegung, die sich am Feminismus der 68er orientierte. Doch was als notwendige Kritik toxischer Männlichkeit und patriarchaler Zurichtung am Mann begann, erlebte in den Jahrzehnten danach einen antifeministischen Backlash. Eine 'ursprüngliche' Männlichkeit wollte gleichermaßen wieder entdeckt werden wie man den Feminismus als die Büchse der Pandora ausmachte. Aus der feministischen Selbsterfahrung wurde der frauenhassende Männerbund. Man fokussierte sich auf Diskriminierung gegen Väter und Gewalt gegen Männer, für die man den Feminismus verantwortlich machte."
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Religion

Scharf kritisiert Welt-Autor Richard Herzinger in eine Facebook-Post die bayerische Idee, das Kreuz in Ämter zu hängen - denn der Staat schwäche damit seine Position auch gegenüber anderen Religionen: "Mit dem politischen Islam ist der säkularen Ordnung eine furchtbare, in ihrer ganzen Dimension noch immer nicht ausreichend begriffene Bedrohung erwachsen. Es ist deprimierend zu sehen, wie die - ohnehin noch viel zu schwache - Abwehrfront gegen diese epochale Gefahr jetzt dadurch gespalten zu werden droht, dass flinkzüngige Wiederentdecker des 'Abendlandes' die religiöse Anmaßung islamischer Kreise farcenhaft zu imitieren versuchen."
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Politik

Die taz-Reporterin Charlotte Wiedemann möchte mit Blick auf Flüchtlinge im Land, die den historischen deutschen Hintergrund nicht teilen, ein neues Verhältnis zu Israel definieren: "Wir gewinnen an Glaubwürdigkeit, indem wir öffentlich darüber sprechen, welchen Ballast die israelische Regierungspolitik auf unsere historisch bedingte Verpflichtung lädt und wie traurig oder wütend uns das macht."

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hat den Juden die Schuld am Holocaust gegeben, berichtet unter anderem Spiegel online: "Der Holocaust sei nicht durch Antisemitismus ausgelöst worden, sondern durch das 'soziale Verhalten' der Juden, sagte Abbas nach Angaben der amtlichen palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa vor dem Palästinensischen Nationalrat, einem Gremium der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO. Zum angeblichen 'sozialen Verhalten' der Juden zählte Abbas unter anderem das Verleihen von Geld." Schon bei einer Rede vor dem EU-Parlament vor zwei Jahren fiel Abbas durch antisemitische Behauptungen auf, unser Resümee damals.

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