Magazinrundschau

Die Macht der Salbung

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
03.08.2021. Bloomberg beobachtet den Ausverkauf des brasilianischen Regenwaldes unter Jair Bolsonaro. De Nederlandse Boekengids stellt sich "Commons" als eine Praxis vor, die bewusst betrieben wird. Der New Yorker beschreibt, wie die Republikaner versuchen das Wahlsystem der USA zu untergraben. Im Film Dienst empfiehlt Alexander Kluge eine Senkung der Ich-Schranke. Die New York Times trifft sich mit Gaddafis Sohn Saif.

Bloomberg Businessweek (USA), 29.07.2021

Jessica Brice und Michael Smith dokumentieren den Ausverkauf des brasilianischen Regenwaldes unter Oberaufsicht des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, der deutlich sagt, was er von Protesten gegen die Umwandlung des Dschungels in Rinderweiden hält: "'Der Wert des bestehenden Waldes muss honoriert werden. Es muss eine faire Kompensation geben für die Umweltdienstleistungen, mit denen unsere Biome den ganzen Planeten versorgen.' Die Nachricht an die Welt ist klar: Bezahlt uns für die Erhaltung des Regenwaldes, oder Brasilien wird seinen eigenen Weg gehen, um den Wert des Waldes in bare Münze umzuwandeln. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass die Regierung schon dabei ist, genau das zu tun. Tausende öffentliche Dokumente, Dutzende Interviews mit Staatsanwälten, Waldrangern und Mitgliedern von Bolsonaros engerem Zirkel zeigen, dass die Regierung eine aktive Kampagne betreibt, um den Amazonas zu privatisieren und zu bewirtschaften, erstens, indem sie untätig zusieht, wie öffentliches und geschütztes Land geplündert wird, und zweitens, indem sie die Täter ungeschoren davonkommen lässt und ihnen das Land auch noch gesetzlich überschreibt … Seit seiner Amtseinführung Januar 2019 hat der ehemalige Militär Bolsonaro die 50 Jahre alte Sichtweise wiederbelebt, derzufolge Brasiliens Wohlstand vom Amazonas abhängt. Und er hat die entscheidenden Posten in den Institutionenen für Landentwicklung und Umwelt mit Leuten besetzt, die genauso denken … Brasiliens Waldzerstörungsmaschine ist komplex, und es ist unmöglich zu wissen, wer genau im einzelnen dahintersteckt. Ein großer Teil der Zerstörung hat mit dem Wunsch vieler Brasilianer nach Landbesitz zu tun, aber das Ausmaß der Zerstörung ist neuerdings viel größer. Vor ein paar Jahrzehnten, als es noch reichlich öffentliches Land gab, war es leicht für einen Bauern, einen Zaun zu ziehen und sich sein Stück Land zu sichern. Heute gibt es zum Beispiel im Bundesstaat Rondonia nur noch geschütztes Land, und der arme Durchschnittsbrasilianer wird qua Gesetz zum Handlanger für kriminelle Gruppierungen, Holzfirmen und die Farmingindustrie … Sicher ist, dass die Zerstörung zunimmt. Bolsonaro hat den Umweltschutz dem Landwirtschaftsministerium zugeordnet, Budgets zusammengestrichen und der Feuerwehr den Geldhahn abgedreht, er hat Pläne zur Sicherung von indigenem Land zunichte gemacht und es stattdessen dem Bergbau geöffnet. Allein 2021 sind so bereits 10 500 Quadratkilometer Regenwald zerstört worden."

de Nederlandse Boekengids (Niederlande), 29.07.2021

Thijs Lijsters Artikel in De Nederlandse Boekengids, einer Dutch Review of Books, (von Eurozine ins Englische übersetzt) liest sich zwar so staubtrocken und einschläfernd, wie nur linke Theorie es kann. Aber er informiert über relativ neue Bücher zum Begriff der "Commons", der in der politischen Theorien so wichtig geworden ist. Lijster hält es mit den französischen Autoren Pierre Dardot und Christian Laval, die einen rousseaustisch-romantisierenden Begriff der "Commons" ablehnen und die "Commons" eher als eine Praxis begreifen wollen, die eine Community bewusst betreiben muss. Ihr Begriff basiert auf einem "grundlegenden Paradoxon der Philosophie, nämlich dass Gesetze und Regeln auf kollektiven Praktiken und Bräuchen beruhen, die ihrerseits von Gesetzen und Regeln geleitet werden. Anstatt dieses Paradoxon zu aufzulösen, beschließen sie, es durch die Verwendung des Begriffs der 'instituierenden Praxis' zu bejahen: 'Deshalb kann die Tätigkeit, das Gemeinsame zu instituieren, nur gemeinsam ausgeübt werden, so dass das Gemeinsame sowohl eine qualitative Form der menschlichen Tätigkeit als auch das Ergebnis dieser Tätigkeit selbst ist'."
Stichwörter: Commons

New Yorker (USA), 09.08.2021

Konservative Millionäre versuchen mit allen Geldmitteln, das amerikanische Wahlsystem zu torpedieren, berichtet Jane Mayer in einer niederschmetternden Reportage aus den USA. Sie unterstützen Trump-Anhänger, die die Präsidentschaftswahl anfechten und versuchen in der Folge, möglichst viele unerwünschte Wähler (der Demokraten) von den Urnen fernzuhalten. In Arizonas Maricopa County wurde die Wahl vier Mal überprüft, immer mit dem Ergebnis, dass alles korrekt gelaufen war. Trotzdem konnten republikanische Politiker durchsetzen, dass die Wahl noch ein fünftes Mal untersucht wird: "Im Juni stand ich auf der Tribüne des Veterans Memorial Coliseum in Phoenix, wo die Wahlprüfung stattfand, und wurde Zeuge, wie Leute einen Karton nach dem anderen mit Stimmzetteln untersuchten, die die Bürger von Arizon im letzten Herbst abgegeben hatten. Einige Inspektoren untersuchten mit Mikroskopen surreale Behauptungen: dass einige Stimmzettel von Maschinen ausgefüllt worden waren oder asiatische Fälschungen mit verräterischen Bambusfasern waren. Andere Inspektoren suchten nach Falten in den Briefwahlunterlagen, um festzustellen, ob sie rechtmäßig in Umschlägen verschickt oder - wie Trump behauptet hat - als Massenware verschickt worden waren. ... Wie aber erklärt sich die sich verfestigende Überzeugung unter den Republikanern, dass das Rennen 2020 gestohlen wurde? Michael Podhorzer vom Gewerkschaftsverband A.F.L.-C.I.O., der viel in die Erhöhung der Wahlbeteiligung der Demokraten im Jahr 2020 investiert hat, vermutet, dass die beiden Parteien jetzt unversöhnliche Ansichten darüber haben, wessen Stimmen legitim sind. 'Was die Leute aus den blauen Staaten nicht verstehen, ist, dass die große Lüge funktioniert', sagte er, und dass sie keinen Beweis für Betrug erfordert. 'Was sie so überzeugend macht, ist der Glaube, dass Biden gewonnen hat, weil einige Menschen in diesem Land ihre Stimme abgegeben haben, von denen andere glauben, dass sie keine 'echten' Amerikaner sind.' Diese antidemokratische Überzeugung wurde von einer Konstellation etablierter Institutionen der Rechten unterstützt: 'weiße evangelikale Kirchen, Gesetzgeber, Medienunternehmen, gemeinnützige Organisationen und jetzt sogar paramilitärische Gruppen.' Podhorzer stellte fest: 'Trump gewann das weiße Amerika um acht Punkte. In nicht-urbanen Gebieten gewann er mit über zwanzig Punkten. Er ist der demokratisch gewählte Präsident des weißen Amerikas. Es ist fast so, als würde er eine Nation innerhalb einer Nation repräsentieren.'"
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Memorial, Phoenix

Film-Dienst (Deutschland), 28.07.2021

Im Filmdienst spricht Simon Hauck ausführlich mit Alexander Kluge, dessen wunderbar durchgeknallter Film "Orphea" - eine Zusammenarbeit mit dem philippinischen Experimentalfilmemacher-Punk Khavn de la Cruz, gerade nach dem Herbst-Lockdown einen zweiten Anlauf im Kino nimmt (hier unsere Kritik). Unter anderem spricht Kluge über sein Selbstverständnis als auflesender Filmemacher und Universalgelehrter - eine Lektion in Demut: "Ich liebe es, diese Sammlungen zu machen. Dieses Verfahren haben schon die Gebrüder Grimm angewandt, die sagten: Wir müssen zuerst einmal die Sprache und die Märchen sammeln. Man muss sie nicht neu schreiben und sich zum Herrn der Narration machen. Wenn jeder einen Schritt zurücktritt, ist eine erneute Zusammenarbeit stets möglich. Die Senkung der Ich-Schranke ermöglicht es, sich mit anderen Ichs zu verbünden. Deshalb haben Sie das völlig richtig erkannt, wenn Sie vom zweiten Band des 'Passagen-Werks' sprechen, in dem die Sammlungen sind. Bei Benjamin konnte die Frage nach der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts noch mit Paris beantwortet werden. Wenn Sie mich nach der des 20. Jahrhunderts fragen, weiß ich keine Antwort mehr. Und welche wird es im 21. Jahrhundert sein? Wahrscheinlich ist es gar keine Stadt mehr, sondern eher ein Konglomerat oder einfach das Netz."
Archiv: Film-Dienst
Stichwörter: Kluge, Alexander, Lockdown, Khavn

The Atlantic (USA), 01.09.2021

David Brooks, der als konservativer Kolumnist der New York Times gilt, hat vor Jahren ein Buch über die "Bobos" veröffentlicht, in dem er dieses soziale Milieu noch recht positiv sah. Nun kommt er darauf zurück - allerdings sehr kritisch mit dieser "brahmanischen Elite, die unter sich heiratet". Dazu muss man wissen, dass Bobos in Amerika - anders als Bobos als in Prenzlauer Berg, wo junge Erben, die als Bundesbeamte ihr Leben fristen, sich hinter der Biocompany-Kasse drängen - tatsächliches Geld verdienen, denn sie arbeiten oft in den boomenden Tech-Industrien. Brooks zeigt das an Statistiken: "2020 gewann Joe Biden nur etwa 500 Wahlbezirke, die aber laut Brookings Institution zusammen 71 Prozent der amerikanischen Wirtschaftstätigkeit ausmachen. Donald Trump gewann mehr als 2.500 Bezirke, die zusammen nur 29 Prozent dieser Aktivität generieren. Eine Analyse von Brookings und Wall Street Journal hat ergeben, dass noch vor 13 Jahren demokratische und republikanische Bezirke bei der Messung von Wohlstand und Einkommen nahezu gleichauf lagen. Jetzt klaffen sie immer weiter auseinander. Wenn Republikaner und Demokraten so reden, als lebten sie in unterschiedlichen Realitäten, dann liegt es daran, dass sie es tun." Hinzukommt noch die kulturelle Macht der Bobo-Klasse: "Die kreative Klasse hat kulturelle in wirtschaftliche Privilegien umgewandelt und umgekehrt. Sie kontrolliert das, was Jonathan Rauch in seinem neuen Buch 'The Constitution of Knowledge' als 'epistemisches Regime' beschreibt - ein riesiges Netzwerk von Akademikern und Analytikern, die bestimmen, was wahr ist. Vor allem aber besitzt sie die Macht der Salbung, sie bestimmt, was anerkannt und gemocht und was verachtet und abgetan wird. "
Archiv: The Atlantic
Stichwörter: Bobos, Biden, Joe, Trump, Donald

New Statesman (UK), 28.07.2021

In einem Beitrag des Magazins behauptet John Gray, was uns an China und Russland ängstigt, seien in Wahrheit nur die finsteren Schatten des Westens selbst: "Westliche Ideologien beherrschen weiter die Welt. Xi Jinping pflegt eine Variante des integralen Nationalismus, der dem der Zwischenkriegszeit in Europa ähnelt, während Putin gekonnt leninistische Methoden einsetzt, um ein geschwächtes Russland wieder zur Weltmacht zu machen. Ideen und Projekte aus dem illiberalen Westen machen noch immer Weltgeschichte. Zugleich ist der westliche Liberalismus illiberal geworden … China und Russland, beide Rivalen des Westens, werden beherrscht mit Hilfe von Ideen, die westlichen Quellen entstammen (das gleiche gilt für Narendra Modis Nationalismus in Indien und einige islamistische Bewegungen) … Der Einfluss westlicher Ideen auf Chinas Führung zeigt sich etwa in der Bezugnahme auf den antiken griechischen Historiker Thukydides durch offizielle Sprecher. China, so lautet die Versicherung an westliche Besucher, werde nicht in die Thukydides-Falle gehen, also der Tendenz aufstrebender Nationen nachgeben, etablierte Mächte von ihrer dominanten Position zu verdrängen und Krieg zu verursachen … Das Studium westlicher Klassiker wird an Chinas Universitäten besonders gefördert. Die Texte werden oft im griechischen oder lateinischen Original gelehrt (anders als in Princeton, wo das inzwischen als rassistisch abgelehnt wird). Chinas meritokratische Intelligenzija ist bekannt für ihr tiefes Verständnis des westlichen politischen Denkens und der Werke von Tocqueville, Burke, Hobbes oder Foucault. Carl Schmitt gilt als Leitstern der politischen Entwicklung Chinas … Vor allem Schmitts Idee vom Souverän, der die Homogenität des Volkes befördert, scheint für die chinesische Führung attraktiv."
Archiv: New Statesman

Elet es Irodalom (Ungarn), 30.07.2021

Der Philosoph Gáspár Miklós Tamás beschreibt die aussichtslose, weil bereits verlorene Auseinandersetzung der grünen Linken mit der "unteren Mittelschicht", ihrer früheren Basis. "Jede Antwort auf den Klimawandel geht mit Verzicht, aber auch mit Verarmung der reicheren Ländern und reicheren gesellschaftlichen Schichten einher, mit Einschränkungen von Annehmlichkeiten (Autos und Flugzeugen), mit schmerzhaften Veränderungen der Landwirtschaft (und damit des Essens). Grüne Initiativen zur Selbstbegrenzung stützen sich nicht auf die demokratisch-hedonistische Öffentlichkeit, sondern auf die Erkenntnisse (und Diskussionen!) der Wissenschaft, deren Prestige ziemlich begrenzt ist, sonst wäre zum Beispiel in Ungarn die Zerstörung der Akademie der Wissenschaften, der Universitäten, der öffentlichen Sammlungen und des Denkmalschutzes sowie die Verbreitung von Aberglauben mit staatlicher Hilfe nicht möglich gewesen. Die angebliche moralische Überheblichkeit der Grünen, ihre rational-hochmütige Attitüde, die sich um die angeblichen Interessen des 'Durchschnittsmenschen' nicht kümmert - wie wir dies in der äußerst hässlichen, an Ost-Europa erinnernden 'Wahlkampagne' in Deutschland sehen können - steht dem 'traditionellen' auf Wettbewerb, Konsum oder Konservatismus ausgerichteten Ethos gegenüber, und darum gelten sie zunehmend als volksfeindlich, denn heutzutage ist das Volk die Mittelschicht, der autofahrende, fleischessende, biertrinkende, am Meer urlaubende, fußballbegeisterte, serienabhängige 'Durchschnittsmensch'."

Gentlemen's Quarterly (USA), 22.07.2021

Tommy Orange, selbst ein Nachfahre amerikanischer Ureinwohner, porträtiert Wes Studi, einen der wenigen wirklich namhaften gewordenen Schauspieler indigener Herkunft im US-Kino. Man kennt ihn als furchterregenden Gegenspieler in "Der mit dem Wolf tanzt" und als Ermittler aus Michael Manns "Heat". Er selbst "sieht es jedoch nicht so, dass er je einen Schurken gespielt hätte. 'Ich spiele diese Typen so, als würden sie davon ausgehen, das Richtige zu tun', sagte er mir vor kurzem in einer Zoom-Schalte. 'Ihrem eigenen Verständnis nach sind sie keine Schurken. Sie tun, was sie tun müssen, um ihr Leben aufrecht zu erhalten oder ihre Interessen zu wahren. Und ich denke, das ist einfach nur menschlich.' Und genau das ist der Punkt. Wes Studi schenkte uns in jeder seine Rollen einen Menschen. Er bewegte uns jenseits karrikaturenartiger Darstellungen. Damit gelang ihm ein Durchbruch dahingehend, dass er auch Figuren spielen konnte, die nicht spezifisch als Native Americans gecastet waren. ... Dennoch, sagt er, waren es spezifische Natives-Rollen, insbesondere in Westernfilmen, die seine Karriere stützten. 'Wir Natives empfinden so eine Hass-Liebe zu Western', sagt er. Aber er erkennt durchaus an, dass sie 'es Menschen, die wie Natives aussehen, gestatten, einen Fuß in die Tür der Branche zu bekommen.' ... Dass Wes in Filmen mitspielt, die nichts mit dem Erbe der amerikanischen Ureinwohner zu tun haben, ist etwas, das wir sehnlichst herbeiwünschen: dass es uns gestattet ist, Rollen zu spielen, ohne unsere Authentizität als Indianer unter Beweis stellen zu müssen. Wir wollen als US-Bürger rüberkommen, ohne dass irgendwer infrage stellt, ob wir wohl auch echte Indianer seien, nur weil es möglich ist, so aufzutreten wie jeder andere auch."

Magyar Narancs (Ungarn), 03.08.2021

Im Interview mit dem Dichter, Schriftsteller und Literaturhistoriker Dénes Krusovszky spricht die Literaturhistorikerin Eszter Pálfy über die Literaturgeschichtsschreibung, die sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert habe: "Als die Wissenschaftsgattung Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert entstand, war es selbstverständlich, dass sie jeweils von einer Person geschrieben wurde, denn es sollte oder musste von der Vergangenheit bis zur Gegenwart ein einheitliches Narrative erschaffen werden (...) Später wurde es zum Grundgedanke, dass es keine einzig gültige Geschichte gibt, sondern lediglich durch verschiedene Aspekte vermittelte brüchige Geschichten. (...) Ein weiterer Unterschied ist, dass wir uns heute die literaturhistorischen und schriftstellerischen Blasen offenbar wesentlich geschlossener vorstellen. Der Literaturhistoriker schreibt nur seriöse Abhandlungen, der Schriftsteller nur Literatur, die Gattung des literaturhistorischen Essays existiert kaum noch. Oder wenn sie existiert, dann ist sie grundsätzlich verdächtig: wenn der Literaturhistoriker so etwas schreibt, dann ist es Boulevardisierung und wenn der Schriftsteller das tut, dann ist es Dilettantismus. Sicherlich gibt es auch heute Überlappungen zwischen den zwei Positionen, denn es gibt unter den heutigen Dichtern und Schriftstellern viele, die ebenfalls literaturhistorisch aktiv sind. Doch die Trennung wird dadurch erhärtet, dass auch sie die unterschiedlichen Rollen gut voneinander abgegrenzt halten. Dem Metier entsprechend ziehen sie die Jacke des Schriftstellers oder des Literaturhistorikers an."
Archiv: Magyar Narancs

BBC Magazine (UK), 28.07.2021

In den 1870er Jahren wurde in Amerika ein Sport populär, an den später die berühmten Tanzmarathons in den Dreißigern erinnerten: Fußgängerrennen, erzählt Zaria Gorvett. Wobei diese Übersetzung von "Pedestrianism" im Deutschen missverständlich ist, denn rennen durfte man gerade nicht. Man ging um die Wette, und die Einsätze waren fantastisch: 25.000 Dollar konnte der Gewinner einstreichen, das wären heute etwa 679.000 Dollar. "Die Regeln waren einfach: Die Teilnehmer mussten sechs Tage hintereinander im Kreis laufen, bis sie Runden von mindestens 450 Meilen (724 km) zurückgelegt hatten. Sie konnten laufen, schlendern, torkeln oder kriechen, aber sie durften die ovale Sägemehlbahn nicht verlassen, bevor das Rennen vorbei war." Einige Athleten wurden regelrechte Stars, darunter der Afroamerikaner Frank Hart oder der Brite Charles Rowell. Aber schon im März 1881 war das Interesse des Publikums abgeflaut: "Für die New York Times deutete dies daraufhin, 'dass die Menschen endlich begreifen, dass diese Rennen bestenfalls brutale Veranstaltungen sind und in einer zivilisierten Gemeinschaft nicht toleriert werden sollten.' Die beschämende Realität, auf die sich der Reporter bezog, war schon immer das dunkle Geheimnis des Sports. Ein sechstägiger Spaziergang mag zwar gesund klingen, aber Fußgängerrennen sind eher ein Spektakel des Schmerzes und des Deliriums als sportliche Höchstleistungen. Mit wenig oder gar keinem Schlaf, einem Übermaß an Champagner und häufigen Verletzungen verbrachte die Fußgänger-Elite regelmäßig die Hälfte des Rennens taumelnd auf dem Platz. 'Es war furchtbar, aber für die Leute damals sehr unterhaltsam', sagt Buchautor Matthew Algeo. Derek Martin, Doktorand an der Manchester Metropolitan University, vergleicht die Fußgängerbewegung mit der Begeisterung für Tanzwettbewerbe, die während der Großen Depression in Amerika herrschte. 'Die Idee war, dass Paare tanzten und der Gewinner derjenige wurde, der als letzter auf den Beinen war - ich würde sagen, dass es ein wenig grausam war, Menschen dabei zuzusehen, wie sie sich selbst bis zum Äußersten strapazierten.'"
Archiv: BBC Magazine

New York Times (USA), 01.08.2021

Robert F. Worth ist etwas gelungen, was keinem westlichen Journalisten seit zehn Jahren vergönnt war. Er hat Saif al-Gaddafi getroffen, den Sohn des libyschen Autokraten. Dafür wurde er in einem gepanzerten Pick Up in eine gebirgige Gegend gekarrt, wo ihn der Thronfolger in einem luxuriösen Anwesen empfing. Jahrelang galt es als ausgemacht, dass er gar nicht mehr lebt. Nun will er als Präsident und Nachfolger seines  Vaters das in Stämme gespaltene, im Moment einigermaßen friedliche Land wieder einen: "Trotz des geisterhaften Status von Saif werden seine Ambitionen auf das Präsidentenamt sehr ernst genommen. Bei den Gesprächen, die zur Bildung der derzeitigen libyschen Regierung führten, durften Saifs Anhänger teilnehmen, und sie haben sich bisher geschickt gegen Wahlregeln gewehrt, die ihn von der Kandidatur ausschließen könnten. Die begrenzten Umfragedaten in Libyen deuten darauf hin, dass eine große Zahl von Libyern - in einer Region sogar 57 Prozent - ihm 'Vertrauen' entgegenbringt. Ein eher traditioneller Beweis für Saifs politische Überlebensfähigkeit wurde vor zwei Jahren erbracht, als ein Rivale 30 Millionen Dollar gezahlt haben soll, um ihn zu ermorden. (Es war nicht der erste Mordanschlag auf ihn.)" Worth macht sich übrigens kaum Hoffnungen, das Saif Regimes das Land demokratisieren könnte - Saif, der sich auf den Fotos zu der Story ungefähr so theatralisch präsentiert wie einst sein Vater,  ist in seinen Äußerungen nicht weniger zynisch und verblendet als etwa Baschar Al-Assad, wenn er über Syrien spricht.
Archiv: New York Times