Außer Atem: Das Berlinale Blog

Episoden der Trauer: "Voices in the Wind" von Nobuhiro Suwa (Generation 14plus)

Von Ekkehard Knörer
26.02.2020.


Kurzer Vorspann, der erklärt: Dies ist die Geschichte von Haru (Serena Motola). Sie war neun Jahre alt, als sie beim Tsunami ihre Eltern und ihren kleinen Bruder verlor, die tot sind, aber nicht begraben: die Leichen wurden niemals gefunden. Jetzt lebt sie in Hiroshima bei ihrer Tante. Dann, erste Einstellung: Wir sitzen am Tisch, Kamera auf Augenhöhe Harus, die noch gar nicht im Bild ist. So werden wir eingeladen in diesen Film, in das Zuhause Harus, der Tante, die verkündet, sie wolle nun erstmals wieder Otsuchi besuchen. Das ist der Ort, in dem Haru gelebt hat, die Innenstadt sei endlich wieder aufgebaut. Ob sie mitkommen wolle? Haru schweigt, sie wird sehr viel schweigen in diesem Film. Dann wohl nicht, sagt die Tante. Kurz darauf liegt sie wie tot auf dem Boden, Haru verbringt die Nacht auf einer Bank im Krankenhaus, die Tante lebt, aber nur gerade so, ohne Bewusstsein, Haru hat erneut ihre Nächste, ihr Zuhause verloren. Da bricht sie auf, geht davon, einfach weg, noch in der Schuluniform, die sie den Film hindurch nicht ausziehen wird, Zeichen ihrer Gefangenschaft in sich selbst.

"The Wind Phone" ist ein Road Movie als umwegige Bearbeitung des Traumas, das meist unter die Chiffre Fukushima gefasst wird, dabei waren Orte wie Otsuchi vom Tsunami unmittelbarer betroffen. Auch nach Fukushima wird Haru gelangen, auf ihrem Trip, der kein Ziel hat, aber eines gehabt haben wird, zuvor aber driftet sie, gerät an Menschen, denen es im Leben keineswegs besser erging, als ihr selbst. Etwa der Mann, dessen Haus bei einem Erdrutsch nur gerade eben verschont bleib, er lebt hier mit seiner dementen Mutter, die Schwester hat sich vor zehn Jahren umgebracht: ein Leben im Stillstand.

Dann die beiden, die Haru als Anhalterin mitnehmen, hier und da etwas fragen, sonst die meiste Zeit plappern. Sie ist hoch schwanger, er ist ihr Bruder - das Kind wird keinen Vater haben, berichtet sie Haru im Vertrauen, man erfährt nicht warum, als die ihre Hand auf den Bauch legt, in dem das neue Leben spürbar rumort. Das bleibt Episode, wie der eindrückliche Besuch bei einer kurdischen Familie, die ihren Familienvater Mehmet vermisst: Er hat bei den Aufräumarbeiten geholfen, genützt hat es nichts, die Einwanderungsbehörde hält ihn seit einem Jahr in Haft.

Der Film ist ein Stationendrama, dem im Namen der Wahrheit die narrative Wahrscheinlichkeit gleichgültig ist. Dem Sprunghaft-Episodischen der Trauer, der Sprachlosigkeit vertraut sich der Film an, im langsamen Rhythmus, in unprätentiösen klaren Bildern, oft nur Bestandsaufnahmen zerstörter Landschaften, des Wiederaufbaus oder des Lebens, das weitergeht und weitergehen muss, als wäre nichts gewesen.

Die längste Episode, und darum mehr als nur das: die Begegnung mit einem trauernden, ruhelos in seinem Transporter durch die Gegend fahrenden Mann, Mori. Er war Arbeiter im Atomkraftwerk von Fukushima, hat seine kleine Tochter und seine Frau beim Tsunami verloren, mit Haru besucht er das seitdem verschlossene Haus, das Spielzeug liegt noch verstreut auf dem Boden, Haru hat einen Tagtraum, ihre Eltern und der Bruder stehen im Garten, ein paar Minuten gönnt ihr Nobuhiro Suwa das Glück; umso heftiger der Schmerz, wenn die Wirklichkeit zurück in den Blick rückt.

Am Ende gibt es, wie sollte es, kein Happy End, oder Erlösung. Aber etwas löst sich doch. Nahe Otsuchi steht auf einem Hügel, in strahlender Landschaft, eine Telefonzelle mit einem Scheibentelefon wie aus uralten Zeiten. Es gibt keinen Anschluss, es geht vielmehr um telefonische Trauerarbeit: Hier telefonieren Zurückgebliebene mit Davongegangenen. Es ist ihnen Trost. Haru, die die ganze Zeit schweigt, die Worte sucht und nicht findet, kann nun, in einem langen Monolog, endlich sprechen. Sie sagt: "Ich werde am Leben bleiben. Wenn ich komme, um euch wiederzusehen, werde ich eine richtig alte Dame sein. Ich freue mich darauf."

Kaze no Denwa - Voices in the Wind. Regie: Nobuhiro Suwa. Mit Serena Motola, Hidetoshi Nishijima, Toshiyuki Nishida, Tomokazu Miura, Makiko Watanabe u.a., Japan 2020, 139 Minuten (Alle Vorführtermine)